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Vergangenheit
Vergangenheit
Das Ticken der Kuckucksuhr füllte als einziges Geräusch den Raum, als Manuela hektisch die Schublade des altdeutschen Wohnzimmerschrankes durchwühlte. Unzählige Papiere lagen da ungeordnet herum, aber Manuela hatte keine große Hoffnung, die begehrte Bescheinigung zu finden. Plötzlich zuckte sie zusammen, das vertraute Quietschen des Hoftors war zu hören und gleich darauf das Brummen des alten Passat ihrer Schwester Ilona. Schnell drückte Manuela den Wust Papier zurück in die Schublade, die sich nur mühsam zurückschieben ließ, schloss ab und rannte die Treppen hoch zum Schlafzimmer der Eltern, um den Schlüssel an seinen Platz in der Nachttischschublade zurückzulegen.
"Und all dieser Aufwand wegen meiner Geburtsurkunde, die ich unbedingt dem Regierungspräsidium vorlegen muss, damit ich zur Krankenpflegeprüfung zugelassen werde. Mit meinen dreiundzwanzig Jahren müsste ich eigentlich in der Lage sein, meinen Papierkram selbst zu verwalten, anstatt meine Unterlagen der chaotischen Zettelwirtschaft von Vater und Mutter zu überlassen."
Im Haushalt ihrer Eltern lag immer viel herum - Zeitschriften, Prospekte und Kataloge waren über das ganze Wohnzimmer verteilt. Geradezu leer war jedoch das Nachtschränkchen, nichts erinnerte mehr an die Spritzen und andere medizinische Geräte, die darin aufbewahrt wurden als dieses Zimmer ihrer damals leider viel zu früh verstorbenen Tante Thea gehörte. Manuela, die als Kind Angst vor Injektionen hatte, konnte nicht verstehen, dass sich Thea freiwillig die Spritze ansetzte. Auf die Fragen, die sie damals brennend interessierten, warum ihre Tante all die gruseligen Instrumente bei sich hatte, bekam sie von den Eltern niemals eine befriedigende Antwort. Auch als diese fremden Männer in Uniform in die Wohnung kamen und ihre leblose Tante aus dem Haus trugen, hieß es nur: "Die 'Albertinger Thea' ist nun bei den Engeln im Himmel."
Erst als Manuela zwölf Jahre alt wurde, erfuhr sie, dass Thea Drogen nahm und an einer Überdosis Heroin verstarb.
Ähnlich verschlossen reagierten ihre Eltern, wenn sie sich nach den Verbleib ihrer Papiere erkundigte. Ihre Mutter bekam dann immer so einen starren Gesichtsausdruck und Vater moserte: "Könne mer net später die Urkund uner dem ganze Papierkrempel suche."
Warum waren ihre Eltern nicht im Stande, etwas Ordnung in ihre Unterlagen zu bekommen? So könnte man sich manche nervtötende Sucherei ersparen.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss und anhand des fröhlichen Plauderns hörte sie heraus, dass ihre um drei Jahre jüngere Schwester Ilona offensichtlich ihre beste Freundin Jeanette mitgebracht hatte.
"Hallo Manuela, ach wusste gar nicht, dass du auch da bist!", wurde sie von Jeanette begrüßt.
"Hast du wenigstens Kaffee für uns aufgesetzt?", nörgelte ihre Schwester. "Oder was hast du sonst den ganzen Tag bei diesem schönen Wetter im Haus getrieben?"
"Gelernt habe ich", antwortete Manuela. "In ein paar Wochen ist das große Finale der Krankenschwesternausbildung."
"Na, Ilona“, lenkte Jeanette ein. "Lass sie mal schön lernen, dass sie die Prüfung besteht, wir brauchen ja dringend ein paar fähige Krankenschwestern bei dem Pflegenotstand der bei uns gerade herrscht."
Manuela setzte den Kaffee auf und holte Mutters Obstkuchen aus dem Kühlschrank. Die Köpfe dicht zusammengesteckt saßen die beiden Mädchen kichernd beieinander.
"Eigentlich könnte Jeanette Ilonas Schwester sein und nicht ich", dachte Manuela. "Na ja, wir sind beide blauäugig, während meine aber einen schöneren und intensiveren Farbton haben."
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Freundinnen führte wohl von ihren mahagonifarbenen Pagenköpfen mit den schräggeschnittenen Ponys her. Ilona bewunderte ihre Freundin abgöttisch. Jeanette war im Großen und Ganzen der klassische "Modeltyp": Sehr groß und schlank, nahezu dünn, mit langen Beinen und einer schmalen Taille. Jeanette war sich ihrer Attraktivität bewusst. Sie hatte auch Ilona dazu gebracht, mehr aus ihrem Typ zu machen und dadurch ein bisschen an Selbstbewusstsein zu gewinnen. In ihrem Selbstvertrauen gestärkt, gelang es Ilona schließlich Giuseppe, den attraktiven Kellner ihrer Stammpizzeria, zu erobern.
Während die beiden Freundinnen eifrig in ein Lästergespräch über ihre dummen Arbeitskollegen bei der Stadtbücherei Offenbach vertieft waren, schlich sich Manuela, eine Kaffeetasse in der Hand, heimlich vom Tisch weg.
Irgendwo muss doch diese Geburtsurkunde zu finden sein, so was wirft man doch nicht einfach weg! Es ließ ihr keine Ruhe, sie schlüpfte erneut ins Schlafzimmer und kramte den Schlüssel hervor. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Wohnzimmer zurück. Ilona und Jeanette hatten sich inzwischen in den Garten verzogen. Ab und zu hörte man das schrille Kichern von Jeanette und das abgehackte Gackern von Ilona.
"Die sind beschäftigt", dachte Manuela und sie kniete sich wieder vor der herausgezogenen schweren Schublade.
Ah, ganz da hinten war etwas. Es fühlte sich wie eine kleine Kiste an oder so eine Art Schatztruhe. Manuela lauschte auf Geräusche von draußen, als aber außer dem Gekicher und Plaudern nichts zu hören war, zog sie das Kästchen hervor. Mit ihm kamen einige lose Blätter herausgeflattert, die sie hastig wieder zurücksteckte.
Halt, war das nicht etwa der Abschiedsbrief von Matthew?
"I'm sorry Darling, in my hometown, Atlanta, I fall in love with a wonderful woman. My feelings to her were so much deeper, as ever had been my feelings to you. I will marry her in spring."
"Es tut mir leid, Liebling. In meiner Heimatstadt Atlanta, verliebte ich mich in eine wundervolle Frau. Meine Beziehung zu ihr hatte von Anfang an viel mehr Tiefe als jemals zwischen uns beiden. Ich werde sie im Frühjahr heiraten."
Manuelas Augen begannen zu brennen. Sie erinnerte sich noch an den Tag, als sie nichts Böses ahnend diesen Brief geöffnet und ihn wie erstarrt zur Seite gelegt hatte. Alles in ihrem Kopf war leer, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Ihre Schwester war damals neben sie getreten und hatte gefragt, was in dem Brief stand.
"Nichts besonderes", hatte Manuela ihr tonlos geantwortet. "Matthew hat mit mir Schluss gemacht."
Sie musste in diesem Moment ziemlich blass und unglücklich ausgesehen haben.
Ilona musterte sie daraufhin mit einem kalten Blick und fuhr sie an: "Reiß dich mal gefälligst zusammen. Mutti hat wieder diese schlimme Migräne. Du wirst doch jetzt kein Theater machen, wegen einem GI, der schon seit über einem Jahr zurück in den Staaten ist, und den du so oder so nicht mehr zu Gesicht bekommen hättest!"
Manuela erinnerte sich an diese herzlose Szene, als ob sie erst gestern stattgefunden hätte. Damals dachte sie, Ilona gäbe ihr die Schuld daran, dass sie "ihren Mäwi" nicht mehr zu sehen bekam. Ilona mochte Matthew sehr und sie hatte doch immer so gerne Englisch mit ihm zusammen gelernt.
"Vielleicht auch 'französisch', in Ilonas Bett", dachte Manuela voller Hass. Hätte sie damals einen Beweis dafür gehabt, dass ihre Schwester in einem mehr als nur kumpelhaften Verhältnis zu ihrem Freund gestanden hatte, so wäre das ein Anlass für sie gewesen, endlich mehr Abstand zur Familie zu bekommen.
"Warum hebe ich diesen Scheißbrief noch auf?", dachte Manuela. Sie nahm den Wisch und zerriss ihn in kleine Fetzen, die sie in den Papierkorb schmiss. Ihre Beziehung war zum Schluss alles andere als gut gewesen. Heute konnte Manuela es nicht mehr verstehen, warum sie bei seiner Abreise in die Staaten geweint hatte und ihr dieser Abschiedsbrief damals so einen Schlag versetzte. Liebeskummer hatte sie keinen mehr, aber ein drückendes Gefühl in der Magengegend blieb, wenn sie an seine Unzuverlässigkeit und seine Kränkungen dachte.
Aus dem Garten hörte sie rasche Schritte näher kommen und gleich darauf das laute Schwatzen ihrer Schwester: "Und heiß ist es heute! Ich könnte in einer Tour nur trinken, das ist nicht mehr normal! Komm, lass uns ins Haus gehen, im Kühlschrank stehen noch ein paar Flaschen "Pfungstädter".
Hastig schloss Manuela die Schublade, vergewisserte sich, dass kein verräterisches Stück Papier draußen lag und eilte mit 'Schatzkästchen' und Schlüssel in der Hand zum Schlafzimmer. Nachdem er wieder an Ort und Stelle war, verstaute sie die Schatulle ganz unten in ihre Reisetasche.
Manuela ging mit ihren Medizinbücher in den Garten um zu lernen. Ein gutes Abschneiden bei der Krankenpflegeprüfung war ihr sehr wichtig. Kaum hatte sie sich in einem Liegestuhl bequem gemacht und sich in ein Lehrbuch über Anatomie vertieft, da kamen Ilona und Jeanette erneut in den Garten zurück. Ilona schwenkte einen Computerausdruck in der Hand.
"Es hat geklappt, ich hab jetzt die Bestätigung. Das Ferienhaus ist in der ersten Oktoberwoche frei!"
"Willst du auch mit nach Kroatien?" fragte Jeanette. "Aber das dürfte etwas schwierig für dich werden, denn wir fahren mit unseren 'Männern' da hin. Du bist immer noch solo?"
"Ich hatte nach der Sache mit Matthew keine Lust mehr auf eine neue Beziehung."
"Das mit Matthew war doch nichts gewesen", lachte Jeanette. "Erzähl doch keine Sprüche. Selbstverständlich willst du wieder jemanden kennen lernen, aber es klappt nicht. Versuch doch mal etwas aus dir zu machen. Geh zu einer Stylingberatung oder nimm wenigstens mal ein paar Kilos ab."
"Dass ich dann so aussehe, wie du, Hungerhaken", dachte Manuela, sagte aber mit einem Blick auf die Uhr: "Werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen. Muss jetzt aber los, ich will noch mit einem Arzt über meine Examensarbeit sprechen."
Wütend warf sie ihre Reisetasche auf den Rücksitz, schmiss die Autotür zu und startete mit quietschenden Reifen.
"Das mit Matthew 'war doch nichts gewesen'. Diese Wut und schlaflosen Nächte. Diese Angst um ihn, als er in Irak im Einsatz war. Und nicht zu vergessen, auch die schönen, leidenschaftlichen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten, 'das war doch nichts gewesen'!", ärgerte sich Manuela.
In ihrem Zimmer angekommen, kramte sie aus ihrem Werkzeugkoffer, Beißzange, Brechstange und Schraubenschlüssel hervor. Mit einem Krachen sprang der Deckel beim zweiten Versuch auf und ein Holzsplitter bohrte sich schmerzhaft in ihre Hand. Manuela leckte das Blut ab und wickelte ihre Hand in ein Taschentuch. "Das wär's gewesen", dachte sie. "Wenn ich diese kostbaren Bescheinigungen vollblute." Ihr Herz raste vor Aufregung, als sie auf die über den Tisch verstreuten Unterlagen aus dem 'Schatzkästchen' schaute. Entsetzt sah sie den Totenschein ihrer Tante Thea bei den Papieren auf dem Bett liegen. Den wollte sie jetzt nicht unbedingt sehen. Obwohl die "Albertinger Thea" nicht besonders beliebt bei ihrer Familie war, wäre dieses Formular besser bei dem elterlichen Papierkram im Wohnzimmerschrank aufgehoben.
Manuela entfernte mit einer Pinzette den Splitter aus ihrer Hand und kramte im Arzneischrank nach einem Heftpflaster. Sie fühlte sich nervös und aufgewühlt. Um sich selbst zu beruhigen, summte dabei das Schlaflied, dass ihr Tante Thea immer abends mit ihrer warmen Stimme vorsang. Das hatte früher immer gewirkt, die Angst vor der Dunkelheit verschwand und sie schlief friedlich ein.
Das Telefon läutete. Genervt überlegte sie, wer sie um diese Uhrzeit noch anrufen wollte und hob den Hörer ab.
"Ich bin Giuseppe", meldete sich der Freund ihrer Schwester.
Manuela stutzte, räusperte sich: "Hey Seppel, woher hast du meine Telefonnummer vom Schwesternwohnheim?"
"Bin bei deiner Schwester im Haus. Die Ilona hat versucht anzurufen, wegen Wohungsschlüssel. Du hast versehentlich Schlüssel deiner Familie mit in Tasch gepackt. Du aber nixe ans Telefon gegange. Da habe ich gedrückt Wahlwiederholungstaste. Wollt frage, ob du heut Abend ein bisschen Zeit für mich hast. Hab große Problema, kann nicht schlafen."
Manuela wollte zuerst fragen, warum er nicht Ilona seine Sorgen anvertraute, sagte aber: "Okay, komm vorbei. Ruf mich aber übers Handy an, wenn du vor dem Wohnheim stehst. Die schließen nämlich das Hauptportal schon um acht Uhr ab. Ciao, bis dann!"
Nachdenklich schaute Manuela aus dem Fenster auf die dunklen Bäume des Klinikgartens. Giuseppe war schon immer ein sehr lebhafter und fröhlicher junger Mann gewesen, der gerne mit hübschen Frauen flirtete. Manuela hatte manchmal das Gefühl, Giuseppe wäre ein bisschen in sie verliebt und dieser Gedanke schmeichelte ihr sehr. Doch er war für sie tabu, schließlich war er der Freund ihrer Schwester.
Manuela schaute auf die Uhr. In ungefähr einer halben Stunde würde er hier sein. Sie ging ins Bad, bürstete ihre langen, dunklen Locken über dem Kopf durch und warf dann das Haar mit einem Schwung zurück. Sie malte mit einem Konturenstift den schönen Schwung ihrer Lippen nach und trug mit einem Pinsel ihren Lieblingslippenstift - karmesinrot - auf. Sie war mit dem Ergebnis sehr zu frieden. Eine hübsche, junge Frau schaute sie an. Es war so, als erblickte sie Thea im Spiegel.
Manuela sah auf das Etikett der Weinflasche. Es war ein Spätburgunder, älteren Jahrgangs. Den wollte sie eigentlich für einen besonderen Anlass aufheben.
"Wenn der arme Seppel Probleme hat, wird so ein guter Tropfen ihm gut tun", dachte sie und drehte den Korkenzieher nachdenklich in ihrer Hand, als das Telefon klingelte.
"Okay Seppel, ich komm."
Noch einen letzten Blick in den Spiegel und schon rannte sie die Stufen hinunter.
Giuseppe war ein sehr angenehmer Anblick, mit seiner schulterlangen Mähne, die er mit einem Gummi zu einem Zopf zusammengefasst hatte und seinen schwarzbraunen Augen, umrandet von langen, geschwungenen Wimpern, um die ihn einige Frauen beneideten.
"Ciao, bella Manuela", grüßte er sie leise. "Hab große Ärger mit Ilona.“
Der Abend war sternenklar und die Luft mild.
"Komm“, forderte Manuela ihn auf und hakte sich freundschaftlich bei ihm unter. "Lass uns ein Stück durch den Klinikpark laufen und du erzählst mir dann, warum mein Schwesterherz dich so gekränkt hat."
Giuseppe seufzte: "Als ich kam vor fünfe Jahre nach Deutschland, lernt ich kenne schöne Frau, Ilona. Hätt nix gedachte, dass sie mich verarsche tut, seit wir ware zusamme."
Seine Augen funkelten, wütend rief er: "Is nix mehr mit Amore. Kann net glücklich sein mit Frau, die mich hat betrügt. Ich war so glücklich mit Ilona. Ich nixe wusste von andere Mann."
Giuseppe und Ilona, das ehemals glückliche Paar.
Auf den ersten Blick war ihre Schwester eine aparte, gertenschlanke Frau. Jedoch wenn man sie länger anschaute, störte ihr oftmals so verschlossener Gesichtsausdruck. Die schmalen Lippen waren dann zu einem Strich zusammengespreßt und ihre leicht hervortretenden Augen mit den hellen Wimpern hinter ihrer dicken Brille schauten starr durch einen hindurch. Manuela wunderte sich, dass so ein Junge wie Giuseppe ihre Schwester anziehend finden konnte.
Giuseppe stöhnte: "Ilona kann sein so eklig eifersüchtig, wenn ich mal lach mit hübsche Fraue in unserem Ristorante. Aber sie hatte mich betroge vor ein paar Jahr mit andere Mann."
Manuela schaute ihn mitleidig an und dachte bei sich: "Was bist du nur für ein Weichei!"
"Und das hast du erst heute Abend erfahren?" fragte sie erstaunt.
"Erfahre durch Zufall. Ich wollt besuche Ilona, lief vorbei an Haus. Wohnzimmerfenster war offe, niemand aber hatte gesehe mich. Ilona und Jeanette saße da und guckte 'Tagesschau'. Kame Nachrichte aus Irak, wo immer noch is Krieg. Beide habe dann gesproche von deine Freund."
Manuela rieb sich mit den Händen über ihre Wangen, die sich taub anfühlten und fragte Giuseppe: "Und du bist dann stehen geblieben und hast gelauscht?"
"Scusa Manuela, ich musste bleibe stehe und höre zu, was die Ragazza habe zu erzähle gehabt. Ging net anders."
Manuelas Zunge lag dick und rau in ihrem trockenen Mund. Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser.
"Ilona dann gesagte, sie oft hat getroffe sich mit deine Freund. Matthew dir nix sage", bemerkte er mit einem Seitenblick auf Manuela. "Dein Schwester hat erzählte, Matthew hätt ihr beigebracht, richtig sprech englisch. Sinn immer näher gerückt dabei, bis sie lage zusamme auf Couch. Sie hat gesagte, Matthew wäre lieb, fürsorglich und", Giuseppe schnaufte verächtlich auf. "Phantasievoll und ausdauernd."
Manuela schaute nachdenklich auf die dunklen Tannenwipfel, die sich leicht im Wind hin und her bewegten.
"Jetzt ist mir klar, wo er steckte, wenn er mir damals versprach, mich zu besuchen, dann doch nicht vorbeikam und auf dem Handy nicht erreichbar war. Angeblich hätte ihn sein Sergeant immer kurzfristig vor unserem Treffen zur Seite genommen und ihn für irgendeinen Sonderdienst in der Kaserne eingeteilt. Er kritisiert oft mein Misstrauen und meine ach so grundlose Eifersucht."
Giuseppe nickte abwesend.
Manuela zog mit einer aggressiven Bewegung die Jacke vor ihrer Brust zusammen und maulte: "Mir ist kalt, ich hab keinen Bock mehr weiter im Park herumzurennen."
Stumm gingen die beiden den Weg zurück zum Wohnheim.
Schon auf dem Flur hörte Manuela das laute Klingeln ihres Zimmertelefons. Sie bat Giuseppe, schon mal den Wein zu entkorken und nahm den Hörer ab.
"Tausendmal hab ich versucht dich anzurufen", hörte sie die vor Aufregung schrille Stimme von Ilona.
"Na, hör mal ...", setzte Manuela zu sprechen an.
"Ich weis nicht, was da abgeht. Giuseppe war heute aus einem mir unbekannten Grund ganz komisch und abweisend. Dann hat er etwas gelabert von 'ins Schwesternwohnheim gehen' und ist grußlos davongerannt. Ist er etwa bei dir?"
"Nein", antwortete Manuela.“Giuseppe ist nicht hier" und legte den Hörer auf.
"Warum du lüge?" fragte Giuseppe.
"Weil meine Schwester eine dumme und völlig unsensible Person ist, die uns beiden jetzt nicht gut tut."
Manuela goss mit Schwung den Rotwein in die Gläser.
"Prost, auf uns zwei arme Verlassenen", scherzte Manuela.
"Salute", antwortete Giuseppe.
"Offensichtlich reizte Ilona die Gegensätzlichkeit zwischen den beiden Typen von Männern", überlegte Manuela.
Sie führte sich ihren Ex-Freund Matthew vor Augen. Er war groß und breitschultrig, seine Haare trug er sehr kurz geschnitten. Er verkörperte den harten Kerl, eine richtige amerikanische "Kampfmaschine". Giuseppe mit seinen schulterlangen Locken und seinen zarten Gesichtszügen, war das androgyne Gegenstück zu Matthew.
"Wie wird er wohl mit freiem Oberkörper aussehen?", dachte Manuela, und trank ihren Rotwein aus. "Ob er Haare auf der Brust hat oder entfernt er diese mit Wachs?" Sie fühlte sich heiß und kribbelig und hatte das Bedürfnis, sein Hemd aufzuknöpfen. Giuseppe sah sie aufmunternd an und fragte: "Willst du mal gucken, mein Tattoo?"
Manuela nickte. Giuseppe stand ihr gegenüber. Sie roch den herb-süßen Duft seines Rasierwassers. Manuela knöpfte ihm langsam das weiße Hemd auf. Schön war der zarte Bogen seines Brustbeines. Giuseppe war dünn, aber keineswegs knochig oder mager. Die Tätowierung war eher trivial, ein kleines Herz, mit den beiden ineinander verschlungenen Buchstaben G und I.
Sie löste den Haargummi und seine schwarzen Haare fielen weich auf die Schultern.
Giuseppe umarmte Manuela, drückte sie fest und verzweifelt an sich. Sie streichelte seinen Nacken. Er ließ sich langsam mit ihr aufs Bett gleiten und Manuela spürte seine Lippen, diesen großen, und sinnlichen Mund. Sie genoss es in seinen Armen zu liegen, ihn zu spüren. Seit langer Zeit empfand sie wieder Glück und Befriedigung bei der Liebe.
Mit Matthew war es in den letzten Monaten, in denen sie zusammen waren, nicht mehr so berauschend gewesen. Er hatte damals nicht verstanden, warum Manuela immer so passiv und leidenschaftslos war. In seiner kurzsichtigen Art hatte er nicht kapiert, dass zur Liebe auch so etwas wie gegenseitiges Vertrauen gehörte. Matthew hatte sie zu oft enttäuscht und Risse hinterlassen, die mit einem Liebesakt auf die Schnelle, nicht mehr zu kitten waren.
Ganz anders war es mit Giuseppe. Er war traurig, schön und war da, um genommen und genossen zu werden. Es bestand keinerlei Verpflichtungen zwischen ihnen. Giuseppe würde gehen und kein Gefühl der Trauer bliebe zurück.
Das Telefon schrillte und Manuela schaute auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht.
"Lass klingele", sagte Giuseppe rau. "Ich möchte nix mehr wisse von Ilona."
"Willst du bei mir übernachten?" fragte Manuela und begann die über dem Bett verstreuten Unterlagen einzusammeln. Da fiel ihr Blick auf ein Formular, das sie bisher noch nicht beachtet hatte. Darauf stand: "Manuela Albertinger, geboren am 02. Oktober 1982, Mutter: Dorothea Albertinger, Vater: unbekannt. Dorothea Albertinger verstorben am 31. Oktober 1986. Die Tochter Manuela Albertinger an Kindes Statt angenommen am 10. Dezember.1986 von den Eheleuten Bernhard Uhland und Ursula Uhland, geborene Albertinger."