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Vergeben

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Monster-WG
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15.07.2004
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837

Vergeben

Der Mann, der meinen Sohn getötet hat, sieht müde aus. Seine dünnen Fingern trommeln nervös und ohne jedes Taktgefühl auf der Tischplatte. Ein-, zweimal öffnet er den Mund und ich sehe große, gelbe Zähne, das Gebiss eines Ackergauls, aber es kommt kein Wort raus. Nicht einmal ein Wiehern.
Also sitze ich bloß da und starre ihn an.
Und er, er starrt zurück.
Es ist so absurd, dass ich beinahe lachen muss.
Finn war fast zwei Meter groß. Nicht kaputt zu kriegen. Und so verdammt talentiert. Die Handballwoche hatte ihn nach der vergangenen Saison zu einem der drei hoffnungsvollsten Spielern in der 3. Liga Nord-Ost gekürt. Mit Siebzehn bereits die Nummer eins im linken Rückraum, der Königsposition. Ein Talent, wie man es nur alle zehn, zwölf Jahre findet. Und trotzdem: absolut klar im Kopf. Lemgo war an ihm dran, die Füchse auch, von denen gab sogar ein konkretes Vertragsangebot. Ja, selbst die SG Flensburg-Handewitt hatte Interesse.
Erst jetzt merke ich, dass ich meine Hand zur Faust geballt habe.
Der Mann mir gegenüber ist ein Hänfling. Komplett unauffällig. Der Schatten eines Schattens.
Eine meine letzten Erinnerungen an Finn ist, wie er bei uns im Keller Gewichte stemmt. Wieder und wieder, ein Besessener und doch scheinbar mühelos mit Armen wie Baumstämme. Finns Körper ist ein Panzer. Ich sitze auf einem Medizinball und schaue ihm zu. Dass er noch drei Stunden zu leben hat, ahne ich nicht. Das wusste nur einer.
Plötzlich ist mein Sohn verschwunden und der Mann wieder im Zentrum meines Blickfelds. Neben Finn würde er wie ein hässlicher, alter Kobold aussehen, durchfährt es mich. Aber Finn ist tot. Während der Kobold hier hockt und dieselbe Luft atmet wie ich.
„Was wollen Sie von mir hören? Dass es mir leidtut?“, fragt der Mann nach einer Weile mit erstaunlich tiefer Stimme. Sein Tonfall ist distanziert, passt nicht zu dem, was er sagt. „Ich kann mir nur vage vorstellen, was Sie gerade durchleben. Als ich hörte, dass Sie mich treffen wollen, war ich nicht sicher, ob das wirkl …“
Um ein Haar verliere ich die Beherrschung. Ich will das nicht hören, will ihm das Maul stopfen, ihm einfach die seit Wochen immer wieder zurechtgelegten Worte ins Gesicht schreien. Ich bin hier, um eine letzte Sache für Finn zu tun. Etwas, dass ich tun muss, weil er es selbst nicht mehr kann. Finn war ein guter Junge. Bis zum Schluss klar im Kopf.
„Lassen Sie das!“, unterbreche ich den Mann harsch. „Mir tut es leid. Ich weiß nicht, warum …“. Meine Stimme bricht und der Satz wird nur in meinem Kopf vollendet.
Das Männchen schaut mich immer noch an, sagt aber nicht mehr. Ist mir recht. Ich habe Angst, dass ich es sonst nicht zu Ende bringe, dass mir die Kraft fehlt und dann all die Anstrengung der letzten Zeit umsonst gewesen ist.
Ich habe gedacht, alles sei in bester Ordnung. Das intensive Training im Keller, das überschwängliche Lob im Fachmagazin, die vielen Angebote der Bundesliga-Vereine. Aber Finn wollte nicht nach Flensburg wechseln.
Jetzt oder nie. Ich entscheide mich für jetzt.
„Es tut mir leid“, sage ich noch einmal, konzentriert wie ein Sprengmeister bei der Bombenentschärfung. Ich habe die einstudierten Sätze vor Augen, die ich mehrmals täglich wiederhole und normalerweise im Schlaf aufsagen kann. Doch nun scheint es so, als spreche ich nur jedes fünfte Word davon. Irgendwie improvisiere ich mich durch den Text. Stelze durch die Phrasen wie ein Reiher durch den Sumpf.
„Mir ist klar, dass das auch für Sie entsetzlich gewesen sein muss. Dass es kaum auszuhalten ist, wenn jemand beschließt … und man selbst nicht mehr …“
Ich stammele nur noch. „Sie trifft … nun, er hat wohl … also… Sie haben nicht ... an dem … was …“
Weiter komme ich nicht. Es geht nicht. Da sind keine Worte mehr in mir. Nichts. Keine Wut, nicht mal mehr Trauer. Ich bin leer.
Finn steht nun unmittelbar vor mir. So als wäre er real. Mit baumstammdicken Armen, aber ohne Panzer. Zu allem entschlossen in diesem letzten Moment.
Ich erstarre. Und warte selbst nur noch darauf, dass mich der Zug überrollt.
Der Mann, der an jenem Tag die S-Bahn steuerte, diese Bahn, dieses verfluchte Bahn, dieser verfluchte Mann nimmt meine Hand. Die Geste ist abstoßend und tröstlich zugleich. In mir zerbricht etwas. Ich glaube nicht, dass ich noch weiterkann.
Die erstaunlich dunkle Stimme spricht zu mir.
„Ihr Sohn war der Dritte in sieben Jahren. Wussten Sie das? Irgendwann reicht`s. Ich fahr nicht mehr. Ich kann das nicht mehr. Will nicht mehr!“
Mit letzter Energie plätschern ein paar der eingebläuten Worte aus mir heraus.
„Finn …“, murmele ich, selbst nach einem Sinn suchend. „Was ihn auch immer auch an diesem Tag … Er war nicht so … Sie müssen ihm …“
Jetzt bin ich es, der unterbrochen wird.
„Vergeben?“
Sogar zum Nicken fehlt mir die Kraft. Es ist vorbei.
„Der Dritte in sieben Jahren!“, sagt der Mann, von dem mein Sohn sich töten ließ.

 

Hallo @svg

Leben ist schwer, vielleicht ist Sterben einfacher? Ich habe diesen Satz einmal in einem Abschiedsbrief gelesen!
Was zurückbleiben, sind Opfer. Ich habe mit deinem Straßenbahnfahrer mitgelitten. Den Vater hast du für mich durchaus glaubwürdig dargestellt. Ich denke, es ist nach so einem Suizid einfacher wütend zu sein, egal wem die Schuld zu geben.

nun scheint es so, als spreche ich nur jedes fünfte Word davon.
Wort
Ich bin hier, um eine letzte Sache für Finn zu tun. Etwas, dass ich tun muss, weil er es selbst nicht mehr kann. Finn war ein guter Junge.
Das ist für mich der Schlüsselsatz deiner Geschichte.
Es tut mir leid“, sage ich noch einmal, konzentriert wie ein Sprengmeister bei der Bombenentschärfung. I
Toller Vergleich
Stelze durch die Phrasen wie ein Reiher durch den Sumpf.
Warum fällt mir so ein Satz nicht ein. Gefällt mir soooo gut.


Danke für diese Maskenballgeschichte
Liebe Grüße CoK

 

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