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Vergeltung
Professor Dr. Hans-Joachim Schröder war es gewohnt, dass die Studenten seine Veranstaltungen mieden. So wunderte es ihn nicht, dass sich an diesem Samstagvormittag gerade einmal zwei Dutzend Zuhörer in den riesigen Hörsaal verirrt hatten. Zwar war Schröder in den letzten Jahren zu einem renommierten und hoch bezahlten Unternehmensberater aufgestiegen, doch seine BWL-Vorlesungen stellten bloß lästige Pflichtübungen dar, die ihn selbst genauso langweilten wie den akademischen Nachwuchs im Auditorium.
„Wie eingangs erwähnt, bildet auch im Rahmen dieses Analyseinstruments die Definition strategischer Geschäftsfelder und deren Einordnung in die Positionierungsmatrix die Entscheidungsgrundlage für die Lenkung betrieblicher Ressourcen. Also ...“
Schröders monotone Stimme wurde durch die perfekt ausgesteuerte Lautsprecheranlage zwar hinreichend verstärkt, an Dynamik gewannen seine Ausführungen dadurch aber nicht. Er warf einen dezenten Blick auf seine Armbanduhr, die er zu Beginn einer Vorlesung stets abnahm und neben seine Notizen auf das Rednerpult legte. Nur noch zwölf Minuten. Ein Ende war in Sicht - Gott sei Dank!
Dröge setzte er seine Erklärungen zur strategischen Planung so lange fort, bis die Zeiger auf dem Zifferblatt endlich die richtige Position gefunden hatten.
12.45 Uhr. Feierabend.
„Gibt es zu dieser Thematik noch irgendwelche Fragen?“
Schröder hoffte, dass nicht wieder irgendein übermotivierter Idiot die Hand hob. Zum Glück regte sich niemand. Also stopfte er schnell seine Unterlagen in eine abgewetzte Aktentasche, verließ den Hörsaal und hastete durch die verwinkelten Gänge und Flure des Universitätsgebäudes in Richtung Parkplatz.
Der Golfplatz wartete!
Eigentlich war es eine Frechheit seitens der Verwaltung gewesen, die Vorlesungsreihe „Betriebliche Planung und Entscheidung“ ausgerechnet auf den Samstag zu legen. Doch wozu gab es Mitarbeiter? Dr. Marc Lümmers, wissenschaftlicher Assistent an Schröders Lehrstuhl, musste normalerweise als Referent für diese Veranstaltung herhalten, doch leider hatte sich der junge Mann beim Sport einen Bänderriss zugezogen und fiel für einige Zeit aus.
Zu Dumm. Schröder konnte Unzuverlässigkeit nicht ausstehen.
Er erreichte den Parkplatz Ost und wollte gerade in seinen wuchtigen Range Rover steigen, als jemand seinen Namen rief.
„Professor Schröder?“
Der Hochschullehrer drehte sich um. Vor ihm stand ein kräftiger, wenn auch etwas kurz geratener Mann mittleren Alters, dessen Gesicht von einem gewaltigen schwarzen Schnauzbart dominiert wurde. Er trug einen tadellos sitzenden Nadelstreifenanzug samt blütenweißem Hemd und dezenter Seidenkrawatte. Seine auf Hochglanz polierten Schuhe reflektierten das Sonnenlicht.
Dies war kein Student, soviel stand fest.
„Ja? Was kann ich für Sie tun?“
Der Fremde machte ein ernstes Gesicht und ging einen Schritt auf Schröder zu. „Mein Name ist Hauptkommissar Bodo Reichert, Kriminalpolizei. Ich muss Sie dringend sprechen. Es geht um Ihre Frau.“
„Meine Frau? Stimmt etwas nicht?“
Karin Schröder war am Tag zuvor nach Wien geflogen. Ein Wellness-Wochenende in einem Fünfsternehotel stand auf ihrem Programm.
„Am besten, wir besprechen die Angelegenheit in meinem Wagen.“
Reichert deutete auf einen silbernen Mercedes mit getönten Scheiben, der von außen nicht als Polizeiwagen zu erkennen war.
Schröder zögerte. „Ist Karin etwas zugestoßen? Sagen Sie mir doch, was ...“
„Herr Professor, bitte!“
Reicherts Stimme klang jetzt streng. Er öffnete die hintere Tür der E-Klasse Limousine und wies Schröder mit einer ungeduldigen Geste an, endlich einzusteigen.
Unsicher kam der Hochschullehrer der Aufforderung nach. Zu seiner Verwunderung saß bereits jemand auf der Rückbank, ein hagerer, ebenfalls gut gekleideter Mann, der ganz nach rechts durchrutschte. Nach Schröder kletterte auch Reichert in den Fond des Wagens, sodass der Professor schließlich von den beiden Anzugträgern flankiert wurde. Am Steuer erkannte er einen weiteren Mann, der allerdings eine schwarze Lederjacke statt eines Anzugs trug. Kaum hatte Reichert die Tür geschlossen, ließ der Fahrer den Motor an und fuhr den Mercedes aus der Parkbucht.
Schröder stutzte. „Was ist jetzt mit meiner Frau passiert? Und wo fahren wir hin?“
Der schnauzbärtige Mann lächelte süffisant. „Keine Sorge, Ihrer Frau geht es gut. Noch.“
„Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, werter Herr Professor, dass es jetzt allein in Ihren Händen liegt, ob Sie Ihr wertes Frauchen unversehrt zurück erhalten.“
Die unheilvolle Erkenntnis traf Schröder wie ein Blitz: Diese Männer waren keine Polizisten. Und was immer die Kerle vorhatten, er saß in der Falle! Das Adrenalin schoss in seine Blutbahn. Sein Puls begann zu rasen. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Verflucht, warum hatte er sich nicht den Dienstausweis zeigen lassen? Aber hätte er dadurch die missliche Situation abwenden können, in der er sich jetzt offenkundig befand?
„Was wollen Sie von mir?“ Schröder erkannt seine eigene Stimme nicht wieder. Er musste sich mehrmals räuspern, doch der Frosch in seinem Hals ließ sich nicht vertreiben. Sein Mund war vollkommen trocken.
Reichert – falls der Mann wirklich so hieß – grinste immer noch. „Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Ich möchte mich an Ihnen rächen.“
„Rächen? Wofür, um Himmels Willen? Ich kenne Sie doch gar nicht!“
„Was macht Sie da so sicher? Ich glaube kaum, dass Sie sich an alle Ihre ehemaligen Studenten erinnern können.“
„Sie sind ... ein ehemaliger Student?“
Schröder betonte das letzte Wort so, als ob es besonderen Ekel in ihm auslöste.
„So ist es. Ich hatte vor vielen Jahren das zweifelhafte Vergnügen, Ihren todlangweiligen Vorlesungen lauschen zu dürfen.“
„Und dafür wollen Sie sich jetzt rächen?“
Reichert lachte laut auf. „Nein, nicht dafür. Obwohl das schon Grund genug wäre, Ihnen die Ohren lang zu ziehen. Es gibt da aber noch einen sehr viel triftigeren Anlass.“
Der Wagen verließ das Universitätsgelände. Aufgrund der getönten Scheiben war von außen nicht zu erkennen, was im Inneren des Mercedes vor sich ging. So wurde auch niemand Zeuge, als der knochige Mann zu Schröders Rechten plötzlich eine Schusswaffe zog und damit auf den Professor zielte.
Dieser erstarrte.
„Keine Sorge, wir beabsichtigen nicht, Sie zu erschießen“, beschwichtigte Reichert. „Allerdings möchte ich Sie bitten, von eventuellen Handgreiflichkeiten abzusehen. Menschen, die sich in einer ausweglosen Lage befinden, reagieren nämlich oft sehr unüberlegt. Sie haben doch sicherlich ein Handy dabei, oder? Bitte geben Sie es mir.“
Schröder versuchte sich zu sammeln. Nun schien der Schweiß aus jeder Pore seines Körpers zu strömen. Widerwillig zog er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Reichert nahm es an sich, vergewisserte sich, dass das Gerät ausgeschaltet war, und reichte es seinem Partner zur Verwahrung.
„Was habe ich Ihnen getan? Und was haben Sie mit meiner Frau angestellt?“
Der Professor sah Reichert herausfordernd an. Anstatt zu antworten, lächelte der vermeintliche Kommissar still in sich hinein. Mit seinem gewaltigen Schnauzbart und seinem durchdringenden Blick erinnerte er Schröder an jene berühmte Radierung von Hans Olde, die den Philosophen Friedrich Nietzsche in einem Zustand fortgeschrittener geistiger Umnachtung zeigte.
„Zu Ihrer Frau kommen wir gleich“, sagte Reichert schließlich. „Zunächst einige Worte zur Vorgeschichte. Vor nunmehr neunzehn Jahren habe ich versucht, mein Examen in Betriebswirtschaftlehre abzulegen. Bis dahin war ich nicht gerade durch übertriebenen Fleiß aufgefallen, aber das Diplom war mir sehr wichtig. Im ersten Anlauf fiel ich sowohl bei den schriftlichen als auch bei den mündlichen Prüfungen glatt durch. Die Prüfungsordnung besagte, dass ein Kandidat insgesamt nur zwei Versuche hatte, das Examen zu bestehen. Wer zweimal durchfiel, war ein für allemal draußen, ohne die Möglichkeit, das Studium an irgendeiner anderen Uni beenden zu können. Also setzte ich mich auf den Hosenboden und lernte. Doch ich hatte Pech und scheiterte erneut bei den Klausuren. Blieb als letzte Chance noch die mündliche Prüfung. Eine simple „Drei“ in „Allgemeiner Betriebswirtschaftslehre“ hätte die miese schriftliche Note in diesem Fach ausgeglichen. Dann wurden Sie mir als Prüfer zugewiesen. Dank Ihrer vollkommen unfairen Fragen geriet die Prüfung zu einer einzigen Katastrophe. Meine Träume vom Examen platzten damit endgültig. Sie waren damals noch ziemlich jung für einen Professor, noch keine vierzig, und wahrscheinlich wollten Sie sich durch übertriebene Härte Respekt verschaffen.“
„Das ist Unsinn. Ich habe immer Wert auf ...“
„Hätten Sie die Güte, mich ausreden zu lassen?“ Reicherts Stimme klang jetzt wieder streng, und sein Lächeln erlosch für einige Augenblicke. „Sie werden sich sicher nicht mehr an diese Prüfung erinnern können, aber mir hat sie sich für alle Zeiten ins Gedächtnis gebrannt. Ihr überhebliches Grinsen, als Sie Ihre hinterhältigen Fragen stellten. Ihre gespielte Empörung, als mir die Antworten nicht einfielen. Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie es ist, wenn man sich vierzehn Semester lang durch das Studium quält, um am Ende mit leeren Händen dazustehen? Wenn man sieben wertvolle Jahre opfert – für nichts und wieder nichts?“
„Sicher ist das keine schöne Erfahrung, aber Sie haben ...“
„Keine schöne Erfahrung? Nette Umschreibung für die Zerstörung meiner Karriere. Für eine der schlimmsten Demütigungen meines Lebens.“
„Es lag nie in meiner Absicht, Sie zu demütigen. Aber machen Sie mich jetzt etwa dafür verantwortlich, dass Sie Ihre beruflichen Ziele nicht verwirklichen konnten?“
Reichert lachte. „Ich muss schon bitten. Meine Karriereziele habe ich bisher alle erreicht. Ich bin ein äußerst erfolgreicher, global aktiver Geschäftsmann, wobei ich gerne zugebe, dass die meisten meiner Geschäfte ebenso lukrativ wie illegal sind. Aber das kreide ich Ihnen nun wirklich nicht an. Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass mir eine gewisse kriminelle Energie in die Wiege gelegt worden ist.“
„Dann sind Sie ja auch ohne Diplom bestens zurechtgekommen. Also seien Sie bitte vernünftig, lassen Sie mich laufen und widmen Sie sich wieder Ihren Geschäften.“
„Das könnte Ihnen so passen. Was sagen Sie zu meinen Anzug? Kaschmir, natürlich maßgeschneidert, sündhaft teuer. Ich habe mich so herausgeputzt, weil wieder eine mündliche Prüfung ansteht. Da macht man sich schließlich schick, oder? Allerdings findet die Prüfung diesmal mit vertauschten Rollen statt.“
„Was soll das heißen?“
„Wissen Sie, wie ich mich damals auf die mündliche Prüfung vorbereitet habe? Ich habe hunderte von Fragen auf Karteikarten geschrieben und die jeweilige Antworten auf die Rückseite notiert. Anhand dieser Karten habe ich den Stoff auswendig gelernt. Fünfzig dieser Fragen habe ich nun ausgewählt und teilweise ergänzt. Alles faire und zumutbare Aufgaben.“
Er zog einen dicken Packen Karteikarten aus der Innentasche seines Jacketts.
„Diesmal bin ich der Prüfer, und Sie werden meine Fragen beantworten.“
Schröder schüttelte energisch den Kopf. Seine Angst verwandelte sich allmählich in Zorn. „Was für ein Unfug! Sie sind wohl nicht bei Trost.“
Der Wagen schlängelte sich mühsam durch den stockenden Innenstadtverkehr. Ahnungslose Passanten flanierten über die Bürgersteige, gingen ihren Einkäufen nach und genossen das schöne Wetter.
„Ich sehe schon, Ihnen fehlt es noch an Motivation.“
Reichert legte die Karteikarten zur Seite, beugte sich vor und klappte direkt vor Schröder einen kleinen Flachbildschirm herunter, der mit Drehgelenken an der Wagendecke befestigt war. Dem Hochschullehrer war der Monitor bisher gar nicht aufgefallen. Der Schirm war bereits aktiv, er zeigte ein körniges, stark flimmerndes Bild.
„Zeit für unser Bordkino. Verzeihen Sie die schlechte Übertragungsqualität. Hängt mit der Datenverschlüsselung zusammen.“
Schröder blieb beinahe die Luft weg. Er erkannte seine Frau. Die Kamera erfasste nur ihren Oberkörper und ihr Gesicht. Sie saß – wahrscheinlich mit gefesselten Händen – vor einer kahlen weißen Wand. Ihr angsterfüllter Blick war nicht direkt auf die Kamera gerichtet, sondern ging links an ihr vorbei. Offenbar stand dort eine weitere Person, denn Karin Schröder bewegte die Lippen, als ob sie mit jemandem sprach. Es wurde allerdings kein Ton übertragen. Ihre Augen waren, soweit man dies anhand des schlecht aufgelösten Bildes beurteilen konnte, verweint und geschwollen.
„Da haben wir Ihr Herzblatt. Keine Sorge, es geht ihr – wie sagt man so schön – den Umständen entsprechend gut.“
„Sie Mistkerl. Ich kann es einfach nicht glauben. Sie haben tatsächlich meine Frau entführt. Ich ... ich will mit Ihr reden.“
„Das ist leider nicht möglich. Es gibt in diesem Wagen zwar ein Mikrofon. Aber sämtliche Geräusche werden lediglich an den Kopfhörer meines österreichischen Mitarbeiters übertragen. Ihre Frau kann uns nicht hören.“ Dann rief er laut in Richtung des Bildschirms: „Na, Kollege, alles klar in Wien?“
Eine zur Faust geballte Hand mit hochgerecktem Daumen schob sich kurz ins Bild.
In Wien war alles klar.
„So, die Prüfung kann gleich beginnen. Ich werde Ihnen drei Fragen stellen. Beantworten Sie alle richtig, dann lassen wir Sie frei, ohne Ihnen ein Haar zu krümmen. Das gleiche gilt für Ihre Frau. Versagen Sie aber bei nur einer Frage, gilt die Prüfung als nicht bestanden.“
Eine Weile schwieg Reichert zufrieden in sich hinein. Schließlich hielt Schröder die Anspannung nicht mehr aus und stellte die Frage, die sein ehemaliger Student offenbar von ihm hören wollte.
„Und was passiert dann?“
„Dann erschießen wir Ihre Frau.“
Schröder starrte Reichert mit weit aufgerissenen Augen an.
„Sie sind komplett wahnsinnig.“
„Vermutlich.“
„Warum tun Sie das?“
Reichert zuckte mit den Achseln. „Mein Motiv habe ich Ihnen bereits genannt: Rache. Vergeltung. Genugtuung. Nennen Sie es, wie immer Sie wollen. Ich möchte mich an Ihrer Panik weiden. Das können Sie doch sicher nachvollziehen. Wir alle kennen doch den einen oder anderen Menschen, mit dem wir noch eine Rechnung offen haben. Und der Vollzug von Rache macht richtig Spaß, ein tolles Gefühl. Wenn man wie ich viel Zeit und Geld hat, braucht man so etwas vielleicht, um sich von der beginnenden Leere im Leben abzulenken, wer weiß.“
„Und wen knöpfen Sie sich nach mir vor? Ihren Mathelehrer, der Ihnen mal ’ne Fünf verpasst hat? Ihren Vater, weil er Ihnen den Hintern versohlt hat? Ihren Spielkameraden, der Sie im Sandkasten geärgert hat? Das alles kann doch wohl nur ein schlechter Scherz sein.“
Wieder lachte Reichert laut auf. „Professor, Sie können ja richtig unterhaltsam sein. Zugegeben, Sie sind nicht der einzige auf meiner schwarzen Liste. Aber Ihr Name steht ziemlich weit oben.“
Schröder wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Also schön, hören Sie. Es tut mir leid. Ich habe Sie durchfallen lassen, und das war offensichtlich nicht fair. Wahrscheinlich habe ich tatsächlich unmögliche Fragen gestellt. Dafür entschuldige ich mich in aller Form.“
„Aber, aber, was soll das denn jetzt? Für kleinlaute Entschuldigungen ist es zu spät.“
Schröder warf einen ängstlichen Blick durch das Seitenfenster. Eine Gruppe von Spaziergängern befand sich direkt neben dem Wagen. Sollte er um Hilfe rufen? Schallisoliert war das Fahrzeug sicherlich nicht.
„Keine Dummheiten“, mahnte Reichert, und der hagere Mann zu Schröders Rechten fuchtelte drohend mit seiner Waffe herum.
„Auch wenn Sie bei der Prüfung scheitern sollten, werden wir Ihnen kein Haar krümmen. Allerdings verlassen Sie diesen Wagen dann als Witwer. Und werden bis ans Ende Ihrer Tage mit der Schuld Ihres Versagens leben müssen.“
Schröder starrte mit glasigem Blick auf das Gesicht seiner hübschen jungen Frau. „Karin“, flüsterte er wie in Trance. „Sie ist alles, was ich habe. Die einzige Frau, die ich je wirklich geliebt habe.“
„Sehr romantisch“, spöttelte Reichert und mischte die Karteikarten, als stünde eine Partie Poker bevor.
„Warum sollte ich so dumm sein zu glauben, dass Sie mich freilassen? Es dürfte nicht schwer sein, Ihre Identität zu lüften. Jetzt, wo ich weiß, dass Sie einmal bei mir durch die Examensprüfung gerasselt sind. Ihr Name wird in der Uni registriert sein.“
„Mein damaliger Name. Glauben Sie mir, zwischen dem jungen Mann von einst und meiner heutigen Existenz gibt es keinerlei Verbindung mehr. Gehen Sie ruhig zur Polizei. Ich bezweifle, dass man Ihnen diese sonderbare Geschichte abkaufen wird. Und selbst wenn, bis die Ermittlungen anlaufen, werde ich über alle Berge sein. Wie ein unwirkliches, namenloses Phantom.“
Er strich sich selbstzufrieden mit zwei Fingern durch den Bart.
„Falls der bedauerliche Umstand eintreten sollte, dass wir Ihre Frau erschießen müssen, werden wir es wie einen Raubmord inszenieren. Meine Leute haben viel Übung darin, alles wie das Werk gewöhnlicher Verbrecher aussehen zu lassen. Wo soll man die Leiche entdecken? Im Wald nahe dem Hotel? Was meinen Sie?“
„Ich flehe Sie an, hören Sie mit diesem ...“
„Herr Professor!“
Mit einer beinahe wütenden Geste hielt der schnauzbärtige Mann Schröder die Karteikarten hin. „Schluss mit dem Gerede, die Prüfung beginnt! Ziehen Sie die erste Karte.“
Schröder hob langsam den rechten Arm. Seine zitternden Finger näherten sich vorsichtig den Karteikarten, dann zog er seine Hand wieder zurück.
„Das ist doch ... absurdes Theater. Ich appelliere an Ihre Vernunft. Sie wissen so gut wie ich, dass ich ohne eine intensive Vorbereitung keine Chance habe, Prüfungsaufgaben zu lösen, die fast zwanzig Jahre alt sind. Der Stoff dürfte längst überholt sein.“
Der Wagen verließ die City, wurde auf eine Hauptstraße gelenkt und gewann an Tempo.
Reichert seufzte. „Bitte eine kleine Lektion für unseren Schüler“, rief er laut, und Schröder dachte zunächst, sein Peiniger hätte nun vollends den Verstand verloren. Dann wurde ihm klar, dass diese Worte nicht ihm galten. Der Bildschirm verdunkelte sich, als das Antlitz seiner Frau durch den Rücken eines schwarz gekleideten Mannes verdeckt wurde, der zu einem heftigen Schlag ausholte. Als er wieder zur Seite trat, war Karin Schröders Gesicht gezeichnet von Schmerz, Verstörung und nacktem Entsetzen. Ihr Körper bebte unter heftigem Schluchzen. Schließlich formten ihre Lippen lautlose Worte, während eine einsame Träne über Ihre Wange lief.
Alles klar in Wien?
„Beim nächsten Mal schlägt mein Mitarbeiter fester zu, das könnte ihr leicht den Kiefer brechen. Meine Prüfungsfragen sind erheblich fairer als die, die Sie mir damals gestellt haben. Und nun ziehen Sie endlich eine Karte!“
Schröder zögerte nicht länger. Er griff blind in den Packen und reichte die ausgewählte Karte mit versteinerter Miene weiter.
„Na bitte, geht doch.“ Reichert strahlte über beide Ohren. „Nervös? So fühlt sich echter Prüfungsstress an. Sie haben für jede Antwort eine Bedenkzeit von 20 Sekunden. Ihre Antworten müssen auf jeden Fall sinngemäß mit denen auf den Karten übereinstimmen. Eine wörtliche Übereinstimmung kann ich natürlich nicht verlangen.“
Aufreizend langsam hob er die ausgewählte Karte und warf einen Blick auf die Frage. Dann las er sie mit feierlicher Stimme vor.
“Grenzen Sie die Begriffe Auszahlungen, Ausgaben, Aufwand und Kosten im Sinne von Schmalenbach voneinander ab.“
Reichert konnte seine Enttäuschung nicht ganz verbergen, denn diese Begriffe gehörten eigentlich zu den Grundkenntnissen, die den Studenten bereits im ersten Semester eingetrichtert wurden. Sehr unwahrscheinlich, dass der Professor hier versagen würde.
Schröder schloss die Augen, konzentrierte sich einige Sekunden und gab dann eine umfassende Antwort, die zur Verblüffung des Schnauzbartes fast wörtlich mit der auf seiner Karte übereinstimmte. Nur an einigen Stellen gab es Abweichungen, dort nämlich, wo der Professor ausführliche Hintergrundinformationen einfließen ließ. Als er auch noch sein Wissen über Eugen Schmalenbach und dessen Relevanz für die moderne Betriebswirtschaftslehre anbringen wollte, unterbrach in Reichert gereizt.
„Lassen Sie die Prahlerei. Die Frage wurde richtig beantwortet. Kommen wir gleich zur nächsten.“
Das Ritual wiederholte sich. Reichert nahm den Stapel Karteikarten und mischte diesmal besonders gründlich. Dann ließ er Schröder die nächste Karte ziehen und las die Frage erneut laut vor.
„Aha. Wie heißt der bahnbrechende Aufsatz von Milton Friedman, der sich mit der neu formulierten Quantitätstheorie des Geldes befasst, und in welchem Jahr wurde er veröffentlicht?“
Schröder wirkte betroffen. In seinem Blick lag Empörung. „Das ist eine Frage aus der Volkswirtschaftslehre. Ich dachte, wir würden uns mit Betriebswirtschaft befassen! Ich bin nicht für die VWL zuständig.“
Reichert zuckte gelassen mit den Achseln. „Wie sagten Sie damals immer so schön? Interdisziplinäres Denken ist gefragt, keine Fachidiotie! Ha! Gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Aber schnell, Sie haben nur 20 Sekunden Bedenkzeit!“
Schröder hatte immer versucht, über den Tellerrand der eigenen Fachdisziplin hinaus zu denken. Dies galt nicht nur für seine Vorlesungen und Publikationen, auch in den Prüfungen mussten seine Studenten stets auf unerwartete Abschweifungen gefasst sein. Sollte ihm diese Vorliebe für fachliche Grenzüberschreitungen nun selbst zum Verhängnis werden? Er versuchte sich zu konzentrieren.
„Noch 15 Sekunden.“
Milton Friedman. Der Nobelpreisträger von 1976. Schröder sah vor seinem geistigen Auge die Titel und Veröffentlichungsjahre zahlreicher seiner Werke. Mehrere Aufsätze Friedmans befassten sich mit der Quantitätstheorie des Geldes aus monetaristischer Sicht, aber gemeint sein konnte hier eigentlich nur einer.
„Sie meinen sicher „The Quantity Theory of Money: A Restatement“. Dieser wichtige Aufsatz erschien erstmals im Jahre 1956. Soll ich den Titel für Sie übersetzen, oder sind Sie des Englischen mächtig?“
„Sehr witzig. Auch diese Antwort ist richtig.“
„Werden Sie Ihr Versprechen halten?“
„Welches?“
„Natürlich das Versprechen, mich und meine Frau freizulassen, falls ich auch die letzte Frage richtig beantworte.“
„Selbstverständlich. Aber noch haben Sie die Prüfung nicht bestanden.“
„Sie kosten Ihre Rache wirklich aus, oder?“
Reichert nickte heftig. „Oh ja, ich genieße jede Sekunde.“ Er mischte die Karten neu.
Schröder fixierte den Bildschirm. Panik hatte das Gesicht seiner Frau in eine groteske Grimasse verwandelt. Wütend schrie sie dem unbekannten Mann einige Worte entgegen. Nach wie vor wurde kein Ton übertragen.
Beim nächsten Mal schlägt mein Mitarbeiter fester zu, das könnte ihr leicht den Kiefer brechen.
Schröder zog die alles entscheidende Karte. Er schloss die Augen, schien all seine Energien zu sammeln, um sich der letzten Herausforderung stellen zu können.
„Kommen wir zum großen Finale. Jetzt müsste eigentlich ein Trommelwirbel einsetzen. Also, Professor, ich an Ihrer Stelle würde vor Aufregung glatt sterben.“
Reichert überflog die Karte. Auch in seiner Miene zeigte sich Anspannung. Als er die Frage laut vorlas, drückte seine Stimme weder Triumph noch Enttäuschung aus. Offenbar war er nicht genau, wie er den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe beurteilen sollte.
„Wann und wo starb Joseph Alois Schumpeter?“
Schröder schüttelte den Kopf. Schon wieder eine Frage, die sich eher auf die Volkswirtschaftslehre bezog. Schumpeter, ein österreichischer Ökonom, hatte Begriffe wie die „schöpferische Zerstörung“ oder den „dynamischen Pionierunternehmer“ geprägt.
„Wir beschäftigen uns in den Wirtschaftswissenschaften doch nicht mit Todesfällen! Was soll diese alberne Frage?“
„Der Tod gehört zum Leben, nicht wahr? Antworten Sie bitte.“
„Mich haben die Lebensdaten der Ökonomen nie interessiert. Für mich zählen Inhalte, nicht irgendwelche Jahreszahlen. Okay, die Veröffentlichungsdaten zentraler Werke sind schon wichtig. Aber das Todesjahr? Ich hätte so etwas niemals in einer Prüfung gefragt!“
„Das wage ich zu bezweifeln.“
„Die Frage ist unzulässig!“
„Ihre Zeit läuft. Noch 15 Sekunden Bedenkzeit.“
„Ich protestiere!“
„Wen interessiert’ s? Noch 12 Sekunden ...“
„Das ist Wahnsinn! Stellen Sie eine Ersatzfrage!“
„Das ich nicht lache. Was würden Sie Ihren Studenten wohl sagen, wenn die eine Ersatzfrage haben wollten?“
„Mein Gott. Hier geht es um das Leben meiner Frau! Seien Sie doch fair!“
„Ich finde die Frage absolut zumutbar. Noch fünf Sekunden...“
„Ich müsste raten!“
„Dann raten Sie. Noch drei Sekunden, noch zwei...“
„Nein! Bitte! Er starb ... 1953!“
„Falsch!“
Reicherts Stimme überschlug sich in einer unheilvollen Mischung aus Euphorie und Irrsinn. „Vorbei! Exekution! Sofort!“
Der Professor saß bewegungsunfähig da und fixierte den Bildschirm. Dann zuckte der Körper seiner Frau mehrmals heftig, als die Projektile in ihre Brust eindrangen. Sie hatte augenscheinlich keine Überlebenschance. Kurz darauf wurde die Kamera ausgeschaltet, und der Bildschirm zeigte nur noch ein abstraktes Flimmern.
Schröders Blick blieb starr auf den Monitor gerichtet. Sein Mund war halb geöffnet, und seine Hände zitterten noch stärker als zuvor.
Er bekam gerade noch mit, dass ihm der knochige Mann zu seiner Rechten etwas vor das Gesicht presste. Etwas Weiches. Stoff. Dann fühlte er einen heftigen Schwindel und verlor das Bewusstsein.
Als Schröder aus seiner Ohnmacht erwachte, saß er zusammengesunken auf einer Parkbank im Schatten einer gewaltigen Eiche. Der Park bestand lediglich aus einer schmuddeligen kleinen Rasenfläche, die ein Maulwurf durch ein halbes Dutzend Erdhaufen verunstaltet hatte. Auf der Bank gegenüber lag ein ungepflegter Mann und machte offensichtlich ein Nickerchen. Wahrscheinlich ein Obdachloser.
Hatte Schröder bloß geträumt? Er fingerte nach seinem Handy, fand es aber nicht. Portemonnaie und Schlüsselbund dagegen waren noch vorhanden. Seine Kleidung war so verschwitzt, als hätte er darin an einem Marathonlauf teilgenommen. Nein, kein Traum. Die Erinnerungen an die verhängnisvolle Autofahrt kamen mit erbarmungsloser Deutlichkeit zurück. Diese Gangster hatten ihn mit Chloroform oder etwas Ähnlichem betäubt und hier abgesetzt.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 14.53 Uhr.
Erst zwei Stunden waren seit Beendigung seiner Vorlesung vergangen. Unglaublich. Ihm kam es vor, als läge dies eine Ewigkeit zurück. Mühsam erhob er sich und verließ auf wackeligen Beinen den Park. Wo war er hier? In einem Vorort? Schon bald erreichte er eine Tankstelle. Dort kaufte er sich zur Stärkung einen Schokoriegel und ließ sich ein Taxi rufen. Zurück auf dem Universitätsparkplatz, kletterte er in seinen Range Rover, fuhr auf direktem Weg nach Hause und duschte ausgiebig.
Eine gute halbe Stunde später erreichte er den Golfplatz. Das Clubhaus war fast menschenleer, da das schöne Wetter die meisten Besucher auf den Rasen gelockt hatte. Dietmar Fink, Leiter der Gastronomie und die gute Seele des Clubs, stand hinter dem Tresen und begrüßte Schröder mit einem freudigen Winken.
„Mensch, Hajo, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Nils und Sascha sind längst auf dem Platz.“
Schröder sah auf seine Armbanduhr und zog eine Grimasse. „Eigentlich neige ich ja nicht zur Unpünktlichkeit. Aber heute ist einfach der Teufel los. Sag mal, könnte ich etwas zu Essen bekommen? Ich weiß zwar, dass die Küche zurzeit geschlossen ist, aber ich habe einfach einen Bärenhunger. Und Durst auf ein großes, kühles Bier.“
„Sekunde.“
Fink verschwand kurz im Nebenraum und kam kurz darauf mit einem breiten Lächeln zurück. „Maria fragt, ob dir ein Schnitzel mit Kartoffelsalat genügen würde? Wäre blitzschnell fertig.“
„Hört sich fantastisch an.“
Fink bestätigte die Bestellung in der Küche und stellte sich dann hinter den Zapfhahn. „Was hat dich denn aufgehalten, Hajo?“
„Ich musste nach der Vorlesung schnell noch in die Stadt, um ein Geschenk zu besorgen. Meine Mutter hat am Montag Geburtstag, und das hätte ich beinahe vergessen. Weißt du, wie voll es samstags um diese Zeit in der City ist? Einfach furchtbar.“
Fink lachte. „Wirst du älter, Hajo? Jemand mit deinem Supergedächtnis wird noch nicht einfach den Geburtstag seiner Mutter vergessen.“
„Supergedächtnis? Übertreib mal nicht. Auch ich kann mir nicht alles merken.“
„Na komm schon, wenn jemand ein Computergehirn hat, dann doch wohl du.“
„Ich gebe ja zu, dass ich alle Arten von bildlichen Informationen sehr gut behalten kann. Mein fotografisches Gedächtnis hat mir in meinem Leben schon viele Dienste erwiesen.“
Fink servierte das gewünschte Bier. „Gibt es da einen besonderen Trick? Den müsstest du mir unbedingt verraten, denn ich selbst bin leider ungeheuer vergesslich.“
Schröder trank das Glas in einem Zug halb leer, bevor er antwortete.
„Einen Trick kann man das nicht nennen. Ich versuche mir alle Informationen grundsätzlich in bildlicher Form einzuprägen, wenn möglich sogar abstrakte Inhalte.“
Schröder wurde von einem plötzlichen Redeeifer erfasst. Ungewohnt aufgekratzt steigerte er sich in eine kleine Vorlesung hinein.
„Das gilt für Textinformationen genauso wie für Zahlen. Ich notiere mir alle Informationen, die ich für wichtig halte, so systematisch wie möglich und aktiviere dann meinen inneren Fotoapparat. Auf diese Weise habe ich die Kerninformationen zu Tausenden von wissenschaftlichen Arbeiten gespeichert. Auch im Hinblick auf Personen wende ich diese Technik an. Nimm ...“
Maria erschien unvermittelt und stellte einen riesigen Teller auf dem Tresen ab. „Grüß dich, Hajo, hier das gewünschte Wiener Schnitzel. Bon Appétit.“
Wiener Schnitzel.
Alles klar in Wien?
„Äh ... danke, Maria. Ich stehe tief in deiner Schuld.“ Schröder nickte ihr dankbar zu, und Maria kehrte zufrieden in die Küche zurück.
An Fink gewandt, setzte Schröder seine Ausführungen mit leuchtenden Augen fort. „Nimm zum Beispiel Milton Friedman.“
„Michel Friedman?“
„Nein, nein, ich meine Milton Friedman, den Ökonomen.“
Fink nickte, obwohl er den Namen noch nie gehört hatte.
„Ich habe wichtige Informationen zu seiner Person bildlich vor meinem geistigen Auge parat. Grundlage ist dabei ein Foto dieses Mannes, ergänzt um etliche Daten und Fakten. Promotion 1946. Ab 1948 Ordentlicher Professor an der Universität von Chicago. Nobelpreis 1976 ...“
24. April 2004, dachte Schröder, während er weiter sprach. Das Bild meiner bezaubernden jungen Braut. Noch keine dreißig Jahre alt. Ich sehe sie in ihrem weißen Kleid, das Reinheit und Unschuld verspricht. Sie hält einen üppigen Blumenstrauß. Der jungenhafte Priester wirkt so nervös, als wäre er selbst der Bräutigam. Das Bild meiner in Ehren ergrauten Mutter. Wie glücklich sie lächelt. Nach etlichen gescheiterten Beziehungen hat ihr Sohn als gereifter Mann endlich sein großes Glück gefunden.
„Ich bin auch in der Lage, ganz leicht logische Verbindungen zwischen verschiedenen Themen herstellen. Es ist fast wie Hypertext im Internet. Zu jedem Stichwort kann ich mein Gedächtnis nach weiterführenden Informationen befragen, und meistens erhalte ich eine umfassende Antwort. Was da in meinem Gehirn passiert, weiß ich selbst nicht genau, aber im Grunde ...“
Sie mag es, wenn die Leute sie unsinnigerweise mit „Frau Professor Schröder“ anreden. Sie mag unser Ferienhaus in der Toskana. Sie liebt Schmuck. Und ihren Hund. Er ist ja sooo süß.
„... arbeite ich mit einer umfassenden inneren Datenbank, deren Grundlage visuell aufbereitete Informationen sind. Ich kann mir sogar ein bestimmtes Jahr vornehmen und alle Bilder abrufen, die unter diesem Jahr gespeichert sind.“
Und sie mag Männer. Weiß der Teufel, mit welchem sie mich zuerst betrogen hat. Sie gibt sich nicht einmal besondere Mühe, ihre Seitensprünge zu verbergen. Ich selbst bin für sie als Mann vollkommen uninteressant.
„Nehmen wir einmal das Jahr 1950. Ich sehe die deutsche Nationalelf bildlich vor mir, aufgereiht zum Gruppenbild, ein angestaubtes Schwarz-Weiß-Foto. Erstes Länderspiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Sieg über die Schweiz durch ein Elfmetertor. „Der dritte Mann“ kam in die Kinos. Heinrich Mann starb in Amerika, ebenso der Maler Max Beckmann.“
Dann treibt sie es auch noch mit einem meiner Studenten. Der Kerl posaunt es in der ganzen Uni herum, und ich werde endgültig zum Gespött. Ich will mich revanchieren. Meine linkischen Annäherungsversuche an eine Doktorandin führen um ein Haar zu einer Anzeige wegen sexueller Belästigung.
„Auch die Ökonomie hatte 1950 den Tod einiger wichtiger Persönlichkeiten zu beklagen. Walter Eucken, führender Kopf der Freiburger Schule, starb im März.“
Als ich von Scheidung spreche, findet sie das amüsant. Rechnet mir die Scheidungskosten vor. Tja, Hajo, blind vor Liebe gewesen? Keinen Ehevertrag abgeschlossen? Dumm gelaufen. Wo du doch während unserer Ehe mehr Geld denn je verdient hast. Wenn du mich loswerden willst – bitte sehr! Aber das wird verdammt teuer!
„Der österreichische Ökonom Joseph Alois Schumpeter starb ebenfalls 1950. In Taconic, Connecticut. Du weißt schon, der mit der „schöpferischen Zerstörung“ und dem „dynamischen Pionierunternehmer“. Er starb am 8. Januar, um genau zu sein.“
Fink hoffte, dass Schröders wirrer Monolog damit ein Ende gefunden hatte, und nickte beeindruckt. „Mensch Hajo, und du behauptest, du hättest kein Computergehirn.“
Der Professor lächelte stolz, nahm Messer und Gabel zur Hand und widmete sich seinem Schnitzel.
Der Vollzug von Rache macht richtig Spaß, ein tolles Gefühl. Nicht wahr, Schnauzbart?