Vergessene Fehler
Jahrelang habe ich mich vor diesen übernatürlichen Wesen gefürchtet.
Und nun steht er vor mir. Ein Vampir.
Hätte ich doch nur auf Flynn und die anderen gehört. Sie haben mich davor gewarnt, dass ich mich nicht allein auf den Weg machen soll. Jetzt kann ich es aber nicht mehr ändern.
Der Vampir schleicht immer näher an mich ran. Wir stehen in einer kleinen, dunklen Gasse und ich kann nur noch nach hinten rennen. Schnell blicke ich hinter mich. Keine Lampen, nichts als Dunkelheit. Gerade als ich lossprinten will, greift er nach mir. Seine langen, spitzen Fingernägel bohren sich in meinen Arm. Voller Wucht zieht er mich näher an sich und eine plötzliche Kälte umgibt mich. Er stösst mich auf den feuchten Boden und ist blitzschnell über mir. Ich beisse mir auf die Lippen, damit ich nicht laut aufschreie. Der Schmerz an meinem Hinterkopf verbreitet sich brutal schnell.
Der Vampir lächelt mich spöttisch an. Seine weissen und spitzen Zähne blitzen auf. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen und trete ihn. Er verzerrt nur kurz das Gesicht. Reflexartig greife ich nach meinem Dolch an meinem Oberschenkel. Aber ausgerechnet heute habe ich ihn im Quartier vergessen. Ich schreie auf, als ich seine Zähne in meinem Hals spüre.
Das Gefühl ist grausam. Warme Flüssigkeit tropft von meinem Hals auf den Boden. Blut. Ich kann nicht schreien, wie gelähmt liege ich da. Ich will, dass es endlich vorbei ist. Meine Lider werden schwer, ein schwarzes Loch nähert sich, bis ich nur noch die Haare des Vampirs sehe. Abrupt löst sich der Vampir von mir und wird nach hinten gerissen.
Erschöpft versuche ich mich auf die Seite zu drehen. Ich höre Schläge, Keuchen, und das Ziehen eines Dolchs. Jemand flucht. Krampfhaft zwinge ich mich, die Augen offenzuhalten. Jemand nähert sich mir, fasst mir an den Hals und schüttelt mich. Eine gedämpfte Stimme drängt in mein Bewusstsein. «…Musst mir zuhören… wir müssen uns…wach auf!» Die Person probiert mich hochzuziehen. Wieder höre ich die Stimme, diesmal aber deutlicher. «Thea, komm schon!», ich erkenne die Stimme sofort. Flynn. Als ich die Augen leicht öffne, sehe ich sein Gesicht, es ist Blut verschmiert. Seine Augen zucken panisch. «Thea!», ruft Flynn nochmal. Mir wird schlecht. Und plötzlich wird alles schwarz.
Als ich aufwache, spüre ich keine Schmerzen mehr. Ganz im Gegenteil, ich fühle mich so fit wie noch nie. Gerade als ich versuche aufzustehen, spüre ich dicke Metallketten an meinen Füssen und Handgelenken. Verwirrt schaue ich mich um. Ich bin an einem Bett angekettet. Das Bett steht in einem weissen Raum, mit einem grossen Fenster, einer Pflanze die in der Ecke steht und einem Stuhl daneben. Dicht neben dem Bett steht ein Nachttisch. Die Wände sind leicht beige gefärbt, aber sonst ist der Raum farblos. Erneut versuche ich mich zu befreien. Die Metallketten zersplittern in tausend Stücke. Fassungslos starre ich auf die Kettenteile, die auf dem Boden liegen. «Okay…», murmle ich leise. Wie war das möglich? Und wieso bin ich in diesem Raum? Wo ist der Vampir? Oder war das alles nur ein Traum? Ein Klopfen an der Türe reisst mich aus den Gedanken. Zögernd rufe ich die Person herein. Aber ich habe mich getäuscht. Es ist nicht nur eine Person. Nein, es sind vier Männer, die ganz in schwarz gekleidet sind. Sie tragen alle schweren Waffen und verteilen sich sofort in jeder Ecke des Raumes. Dann erkenne ich noch eine zierliche Frau, die wiederrum eine hellblaue Schürze trägt. Da wird mir auch klar, wo ich gelandet bin. Im Krankenhaus. «Guten Morgen, Miss Thea Jackson.» Ihre Stimme ist dünn und ungewöhnlich hoch. Sie fährt fort: «Sie sind im Laptes Krankenhaus. Ich-« «Was soll das?», knurre ich sie an. Eine plötzliche Wut kriecht in mir hoch. Als sie einen Schritt näherkommt, bemerkt sie die Kettensplitter am Boden und macht grosse Augen. «Wie…?» «Was wollen sie eigentlich? Wo sind meine Freunde? Flynn, Piet und Pheobe?» Sie räuspert sich. «Deine Freunde sind im Wartezimmer, Sie-«, wieder unterbreche ich sie grob. «Wo ist das Wartezimmer genau?» Leicht schüttelt sie ihren kleinen Kopf. Erst jetzt bemerke ich wie klein sie ist. Während sie den Männern in Schwarz ein Zeichen gibt, dass sie gehen sollen, beobachte ich sie genauer. Sie hat hellblonde, fast weisse Haare, die in einen Pferdeschwanz gebunden sind. Ihr Gesicht leicht kantig und ihre Augen sind leuchtend grün. Hübsch. «Das spielt keine Rolle», sagt sie, als die Türe geschlossen wird, «denn du wirst jetzt hierbleiben. Wir müssen noch etwas besprechen.» Auf einmal ist ihre Stimme nicht mehr so nett, sondern streng und hart. Ich lehne mich zurück in das Bett und runzle fragend die Stirn. «Was genau?» Statt zu antworten, zieht sie den Stuhl aus der Ecke zu sich und mustert mich. «Wie geht es dir Thea?» «Furchtbar». «Warum?», «weil Sie mich nerven!»
Jetzt seufzt sie laut und schüttelt wieder den Kopf. Sie geht aus dem Zimmer und schliesst die Tür. Das ist meine Chance. So schnell wie möglich springe ich aus dem Bett und gehe zum Fenster. Kurz sehe ich an mich hinunter. Weisse Jeans, weisses Shirt und hellblaue Socken. Alles klar… ich sehe aus dem Fenster. Perfekt. Ein riesiger Baum steht genug nah am Fenster, dass ich herausspringen könnte. Ich hole tief Luft und öffne das Fenster. Ich steige hinauf. Jetzt sitze ich auf dem Fensterrahmen. Ich springe. Alles verläuft wie in Zeitlupe. Ich bin so hoch. Viel zu hoch, für einen Menschen möglich. Und viel zu weich lande ich auf dem Baumstamm. Verwirrt schaue ich wieder zum Fenster, aus dem ich gesprungen bin, es liegt so weit weg… Ich habe jetzt aber keine Zeit, um nachzudenken, wie das gerade möglich war. Mit einem kleinen Sprung lande ich auf dem Boden. Vor mir sehe ich eine Strasse und irgendeinen Warenladen. Gerade als ich mich umdrehe, packt mich eine kalte Hand, umfasst meinen Hals und drückt zu. Ich schnappe nach Luft. Der Druck um meinem Hals wird immer stärker. Vor mir steht er.Der Vampir, der mich beinahe umgebracht hätte. Wie hat er mich gefunden? Und wieso? Ich ramme mein Bein in seinen Bauch. Kurz wird mir schwindlig, aber schnell habe ich mich wieder unter Kontrolle. Er taumelt zurück. Ich nutze diesen kurzen Moment und schlage noch einmal zu. Meine Faust fliegt auf sein Gesicht zu und trifft hart. Er stöhnt laut auf. «Du dumme Göre!», schreit er. Und in diesem Moment erschaudere ich. Ich kenne diese Stimme. Aber wer…? Jetzt nutzt er meine Verwirrung aus und schlägt mit der geballten Hand auf mein Gesicht. Ich falle zu Boden, kann aber merkwürdigerweise sofort wieder aufstehen. Und jetzt kann ich ihn kurz mustern. Er ist gross, hat schwarzes, mittellanges Haar, das ihm in das Gesicht fällt. Trotzdem erkenne ich seine Augen. Eines braun wie die Erde, eines blau wie das Meer.
«Andrew?», meine Stimme zittert. Für einen Moment starrt er mich nur an. Dann spüre ich seine Wut. Viel Wut. Er kommt einen Schritt näher. Ich weigere mich zu bewegen. «Du… kannst dich also erinnern?» Noch einen Schritt. «An was?», frage ich. Jetzt steht er so dicht vor mir, dass ich sein Gesicht genau sehen kann. Andrew Cooper. «An alles…» Ich schüttle den Kopf. Plötzlich fasst er meine Schultern unsanft an. Er zwingt mich zu Boden. Zieht etwas aus seiner Hosentasche. Mit aller Kraft versuche ich aufzustehen, aber seine Kraft ist unglaublich. Vampire sind stärker, schneller, besser. Darum gewinnen sie immer. Eine Spritze mit einer hellgrünen Flüssigkeit erscheint aus seiner Hosentasche. «Gleich wirst du dich an alles ganz genau erinnern…», flüstert er, gerade noch so laut, dass ich es höre. Angst packt mich und zieht mich mit sich. Ohne, dass ich etwas tun kann, sticht er mir mit der Spritze in den Hals, dort wo er mich gebissen hatte. Und jetzt sehe ich hunderte von Bildern vor mir. Und eines ganz klar. Andrew, seine jüngeren Geschwister. Zwillinge. Seine Eltern. Alle an Stühlen angekettet. Flynn und ich. Wie er die beiden Geschwister erschiesst. Die Schüsse. Schreie. Und dann, wie ich vor Andrews Augen die Eltern erschiesse. Mit einem Lächeln im Gesicht…