Hôl Àgra
Seit dem Vorfall im Wald sind vier Tage vergangen. Der Tannenwald ist einer weiten Prärie gewichen, der Himmel wird von vielen dunklen Wolken überspannt und Donner gröllt und Blitze erhellen die Umgebung. Regen fällt auf das Land und erweicht den vertrockneten Boden und lässt die Bäche und Flüsse anschwellen. Tinka und Ikairi wandern unermüdlich durch Matsch und Morast, waten durch das Hohe, triefnasse Gras und versuchen möglichst rasch voranzukommen, was durch den überraschenden Regenfall erschwert wird. Meistens schliefen sie unter einem Felsvorsprung, falls welche vorhanden waren, doch an diesem Tag erstreckt sich vor ihnen endloses Flachland. Ikairi seufzt laut auf und dreht sich weiter in Richtung Norden. Sie kann nur erahnen, dass irgendwann eine gewaltige Gebirgskette am Horizont auftauchen muss, es ist womöglich noch ein sehr weiter Weg.
„Wie weit ist es noch bis zur nächsten Stadt?“, fragt sie müde.
„Es müssten noch etwa fünftausend Fuß sein!“, antwortet Tinka.
„In welche Richtung?“
„Hier entlang!“, ihr Zeigefinger deutet auf eine Baumgruppe, doch dahinter erkennt Ikairi schwach die Silhouette einer Stadt, die durch das Erhellen eines Blitzes erkennbar wird.
Große Backsteingebäude vor einer noch größeren Burg, die über allem anderen thront, die Fahnen, auf jedem der fünf Türme, ragen wie Speerspitzen in den schwarzen Himmel. Der Wind lässt sie schnell flattern und peitscht den Regen gegen die Mauer.
„Wow“, staunt Ikairi. „Ich hätte nicht gedacht, dass man von hier schon so viel von einer Burg erkennen kann, die etwa fünf Kilometer entfernt ist.“
„Ja, das ist die Burg Hurôm und davor die Stadt Hôl Àgra. Es ist eine der wohlhabensten Städte der Umgebung. Sie handelt mit teurem Karimoru.“
„Was ist das denn schon wieder?“, fragt Ikairi etwas genervt.
„Das ist ein sehr stabiles Metall, das vor fast jedem Angriff schützt. Es wird in einem Bergwerk weit entfernt von hier gefördert und durch Karawanen zur Stadt gebracht.“
„Warum haben sie Hôl Àgra nicht direkt an der Miene errichtet?“, fragt Ikairi verwundert.
„Ich glaub, das liegt an den Jûngstér!“, erklärt Tinka. „Das ist eine gemeine Diebesbande, die alles und jeden überfällt!“, fügt sie auf Ikairis fragenden Blick hinzu.
„Und die Karawanen werden nicht überfallen?“, fragt sie verdutzt.
„Nein, das liegt daran, dass Garas einen Abwehrzauber bei Gefahr aussprechen!“
„Und Garas sind ...?“
„Sind große Lasttiere, die etwa Fünfmillionen Hedrums tragen können!“
„Ahhh!“, flucht Ikairi, genervt durch die vielen fremden Wörter. „Lass uns gehen!“, schließt sie und spurtet voran, durch den etwas stärker gewordenen Regen.
Die Tore der Stadt sind gewaltig, die Säulen, aus schönem Marmor gefertigt, tragen den schweren Bogen, zwei Metalltüren öffnen erst, wenn von einem der beiden Wachtürme links und rechts das Hornsignal kommt. Ikairi schätzt, dass die Torflügel aus dem Karimoru bestehen. Tinka wechselt ein paar Worte mit dem Pförtner, dann ertönt das schrille Horn und man lässt sie ein. Ein gepflasterter Weg führt hinein und schlängelt sich zwischen vielen Häuser hindurch, hinauf auf eine kleine Anhöhe, wo die Burg steht. Ikairi staunt, als sie das sieht, denn sie hätte nicht gedacht, dass es so edel in einer Stadt in einer solchen Epoche geben könnte.
An einigen der Häuser hängen Holzschilder, die sich im Wind leicht wiegen, Rauch steigt aus vielen Kaminen auf, viele Bewohner lockt es, trotz des Regens auf die Straße. An einer Kreuzung verkaufen Händler ihre Waren, schreien sich die Kehle heiser, können aber dennoch dem tosenden Regen, der auf die Dächer und den Pflasterweg trommelt nicht übertönen.
„Lass uns eine Pension suchen“, sagt Tinka freudig. Ihre sonst schönen, schwarzen Haare sind nass und kleben nahezu an ihrer Kopfhaut.
„Ja“, antwortet Ikairi und lächelt etwas. „Haben wir Geld dabei?“, fragt sie weiter.
„Ja, aber nur etwa dreißig Zellum“, antwortet Tinka und kramt einen alten braunen Lederbeutel aus ihrer Tasche, der an manchen Stellen etwas durchlässig wirkt.
„Reicht das?“
„Ja, für zwei etwa eine Nacht!“
„Eine Nacht?“, fragt Ikairi verwundert.
„Wir sind nicht so sehr reich!“
„Aber ihr seid doch Zauberer, oder Teréist, sind die nicht immer reich?“ Tinka lacht auf: „Nein, das war früher einmal, als der Großteré Fer’ Juhl noch nicht das Land beherrschte. Er stürzte alle Teréist in den Ruin, plünderte Stadtbewohner aus. Es ist schrecklich gewesen, aber es ist noch nicht vorbei. Er lebt in ...“, sie hält inne und schaut Ikairi eindringlich an.
„Jaah?“, hakt sie nach.
„In Germinta“, endet sie.
„Was? Also so können wir nicht zusammen arbeiten Tinka! Du kannst mir doch nicht alles Schritt für Schritt erzählen.“, regt sich Ikairi auf.
„Tut mir Leid!“, murmelt Tinka und blickt schuldbewusst zu Boden. Ikairi seufzt.
„Schon gut. Hauptsache ist, dass du mir es überhaupt sagst. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte, bevor wir weitergehen?“
„Du solltest wissen, dass auch ich eine Teréist bin, also auch über teréistische Mächte verfüge. Und dass man nach Germinta nicht so einfach kommt. Deshalb haben es auch erst so wenige geschafft, zum Orakel zu kommen.“
Nach wenigen Minuten erreichen sie eine kleine Schenke mit der Aufschrift: „Zum weinenden Hirrtehas“, was so viel heißt wie: „Zum weinenden König“, dort sitzen stumm viele Männer und betrinken sich mit einem rötlichen Getränk, das in verdreckte Bierkrüge gefüllt ist. Tinka und Ikairi setzen sich an einen Tisch in der hintersten Ecke, um in Ruhe reden zu können. Sie haben weder einen Plan wie sie in die Stadt Germinta gelangen sollen, noch wissen sie, wie sie sich geldmäßig über Wasser halten wollen.
„Wir können arbeiten“, meint Tinka. „Irgendwo bei einem Weber oder Schmied.“
„Arbeiten ist nicht gut, Tinka. Dazu reicht mir die Zeit nicht. Gibt es nicht einen anderen Weg an Geld zu gelangen?“, flüstert Ikairi. Tinka überlegt lange, dann beugt sie sich über den staubigen Tisch zu Ikairi herüber: „Etwas gäbe es da schon!“, sie lächelt verschwörerisch und Ikairi bekommt Lust, mehr über ihren Plan zu erfahren: „Erzähl!“
„Der Plan ist folgendermaßen: Wir brechen in die Burg ein und plündern sie aus, nur soviel, wie wir brauchen.“ Tinka erwartet einen Widerspruch, doch der bleibt aus, stattdessen grinst Ikairi übers ganze Gesicht.
„Deine Pläne gefallen mir immer besser!“
„Übermorgen werde ich versuchen mich über die Westmauer auf den Rundgang zu schleichen, dort beseitige ich die Wachen, die dort ihre Aufsicht beginnen. Du kletterst auf der Südseite hoch und steigst über den Balkon in den Thronsaal. Dort treffen wir uns und beraten Weiteres.“
„Tinka?“
„Ja?“
„Woher weißt du so gut Bescheid?“
„Zuhören ist alles und ein bisschen“, Tinka zieht einen kleinen Beutel aus ihrer Tasche. „Cerumpulver. Das zeigt alles, was man wissen muss, also an Pläne. Aber das Objekt, das man betrachten will, muss zweitausend Fuß nah sein.“ Sie streut etwas davon auf den Tisch und murmelt ein paar Worte, sie hören sich alt und weise an und plötzlich bewegen sich die feinen Pulverkörner wirr drunter und drüber, streben einen bestimmten Ort auf dem Tisch an und nach weniger Zeit, sieht Ikairi vor sich ein genaues Abbild der Burg, die auf der Anhöhe von Hôl Àgra steht.
In den darauffolgenden Tagen nimmt der Regen nicht ab. Er gießt unverholfen auf die Strohdächer der Häuser hinab, Ikairi überlegt, ob sie das wagemütige Unterfangen nicht etwas nach hinten verlegen sollen, was sie sich aber im Angesicht der mangelnden Zeit aus dem Kopf schlägt. Um klarer denken zu können, entscheidet sie sich, die stickige Pension zu verlassen und etwas die Stadt zu besichtigen. Der Pensionär, ein kleiner Mann fortgeschrittenen Alters, huschte schnell hinter den Tresen, als Ikairi aus ihrem Zimmer kommt. Etwas verdutzt schaut sie ihm nach. Sie läuft den Gang entlang, vorbei an vielen nummerierten Türen und einigen Kerzenhaltern, entlang an dem Tresen und zum Portal.
Auf den Straßen tummeln sich, wie am Vortag auch, viele Menschen. Zu ihrer Linken erstreckt sich eine riesige Mauer und zu ihrer Rechten die große Burg, sie nimmt den Weg, der zum Markt führt, schlendert durch die etwas überfluteten Gassen der Stadt, biegt mal hier und mal dort ab und landet schließlich am anderen Ende der Stadt.
„Durch Schatten, nicht durch Licht, aber zeige dich nicht“
Ikairi erwacht so jäh, als hätte ihr jemand ins Ohr geschrieen, jedoch wuselt Tinka hektisch durch das kleine Zimmer. Heute trägt sie einen nahtlos überlaufenden, schwarzen Anzug und am unteren Ende ihres Bettes liegen weitere Kleider der selben Farbe. Erst ist Ikairi etwas verwirrt, doch als sie sich wieder an das Vorhaben erinnert, schlüpft sie schnell in das Gewand und geht im Kopf die einzelnen Schritte durch. Ob sie auch alles aufs Kleinste genau geplant haben, kann sich erst herausstellen, wenn es womöglich schon zu spät ist. Erst nachdem Tinka das vierte Mal den Raum ohne aufzublicken durchquert, bemerkt sie Ikairi, die sich etwas räuspert und in voller Pracht vor Tinka steht.
„Bist du bereit?“ Ikairi gähnt und antwortet: „Ja!“
„Gut dann ...“, Tinka kramt einen Beutel aus einer ihrer kaum sichtbaren Taschen. „So“, flüstert sie weiter, nimmt eine Brise des Inhaltes in die Handfläche und streut es über sich und Ikairi und murmelt ein paar Worte. Plötzlich verschwindet Tinka dort, wo sie eben nach stand. Ikairi schreit spitzt auf.
„Pssst!“, mahnt Tinka. „Du weckst doch noch die ganze Pension!“
„Was hast du gemacht?“, flüstert Ikairi erregt.
„Ich hab beim Markt ein paar Kräuter eingekauft und na ja, ein paar gestohlen, sonst hätte mir das Geld nicht gereicht“, antwortet sie.
„Sind wir unsichtbar?“
„Nicht genau ... mhh ... eigentlich könnte man sagen, dass das Licht uns nicht mehr bescheint!“, überlegt Tinka.
„Was soll das nun heißen? Ja oder nein?“
„Ja, ja, ja“, antwortet die Teréistin flott.
„Wie lange hält der Zauber an?“, will Ikairi wissen. Sie ist angespannt und nervös.
„Etwa bis zum ersten Hahnschrei.“
„Ist es noch lange bis dorthin?“, Ikairi überlegt und kratzt sich am Kinn. „Das dürften etwa drei bis vier Stunden sein!“
„Vergiss deine Waffen nicht!“, erinnert Tinka sie und wirft sie ganz aus ihren Überlegungen.
„W –was? Ja, ja, die Waffen!“, sie lacht auf und greift nach dem Katana, das in der Scheide steckt und bindet es mithilfe eines Gürtels um ihre Hüfte. Es sitzt etwas wackelig, dann nimmt sie den Dolch und versteckt ihn im Schuh.
„Bist du bereit?“ Tinka ächzt bei dem Versuch, den Speerhalter anzubringen und Ikairi hilft ihr etwas.
„Ähm ...“, stockt Ikairi. „Ich kann dich sehen!“
„Gefi!“, bedankt sie sich und steckt ihren Speer zwischen den Lederriemen hindurch in die Festigung.
„Das liegt daran, dass sich Unsichtbare sehen.“ Ikairi setzt ein verwirrtes Gesicht auf und runzelt etwas die Stirn.
„Frag nicht! Bereit?“
„Ja ich bin bereit!“, endet sie knapp und löscht die Kerze, die in der Lampe auf dem Tisch brennt. Die Finsternis umgibt sie wie ein dickes Tuch, sie wird in der nächsten Zeit Ikairis ständiger Begleiter sein.
„Halt!“, ruft Ikairi und bückt sich unter das Bett und holt eine kleine Kiste hervor, darin befindet sich eine Art Haken, mit dem sie an der Mauer hinaufklettern kann. Eigentlich ist es ein weiteres Schwert, an dem ein langes Hanfseil gebunden wurde.
„Brauchst du nichts?“, fragt Ikairi verwundert.
„Nein, nein, ich hab ja mein Pulver“, obwohl es dunkel ist, sieht Ikairi, dass Tinka ihr zuzwinkert. Sie nickt und zusammen verlassen sie das Zimmer und betreten den noch finstereren Flur. Eine Totenstille liegt auf der Pension, nur die Dielen unter ihnen knarren leise. Plötzlich schwenkt die Tür des Pensionärs auf und der Mann schleicht hinaus. Ikairi und Tinka drücken sich gegen die Wand, als er einige Zentimeter an ihnen vorbei läuft. Er scheint in Gedanken versunken zu sein. Die Bretter krachen schon fast, doch Ikairi hält ihren Atem an. Schließlich verlässt er die Pension und tritt ins Freie.
„Was hat er vor? So spät abends?“, fragt Ikairi leise.
„Keine Ahnung. Komm, wir haben keine Zeit, lange darüber nachzudenken“, Tinka huscht flink zur Tür, öffnet sie geräuschlos und verschwindet in der Dunkelheit und der Kälte.
Der Wind heult über die Dächer der Stadt, als wolle er die Bewohner vor den Beiden warnen, die sich rasch der Burg nähern und sich an deren Mauer trennen, Tinka verschwindet nach Westen.
„Tinka!“, ruft Ikairi ihr nach. Sie dreht sich um. Ikairi kann sie kaum sehen, so sehr ist ihre Kleidung mit der Nacht verschmolzen.
„Pass auf dich auf.“
„Du auch Ikairi und merke dir: Durch Schatten, nicht durch Licht, aber zeige dich nicht!“, sie lacht leise auf, dann rennt ihre Gefährtin an der Mauer entlang. Ikairi verschwindet nach Osten und versucht so unbemerkt an die Südmauer zu gelangen. Die Bäume beugen sich im Wind, der Regen platscht laut gegen ihre Blätter. Ikairis Anzug ist schon so sehr durchnässt, dass er wie eine zweite Haut an ihr klebt, sie hält ihr Katana fest umklammert, immer darauf vorbereitet, dass jeden Moment etwas Unerwartetes passieren könne. Zu ihrer Linken verschwinden langsam die Häuser und die Mauer knickt nach Süden ab; sie befindet sich an der Ostmauer, noch etwa einen halben Kilometer von der Südlichen entfernt. Ikairi rennt schnell, weicht ab und an Steinen aus, die sie zuvor bemerkt hat, stolpert aber auch schwer. Schließlich zügelt sie ihr Tempo, einerseits, weil ihre Kraftreserven langsam aufgebraucht sind und sie noch einen Aufstieg vor sich hat und andererseits will sie sich nicht die Knie blutig schürfen.
Die Türme der Burg zeichnen sich schwarz von dem grauen Hintergrund ab, in keinem Fenster leuchtet Licht, nur die Wachen besitzen eine fast heruntergebrannte Fackel, die leicht über die Mauer schimmert. Da sie schon lange Zeit ihre Runden drehen, kann sie sich es denken, dass das Licht nicht mehr sehr lange brennen wird. Immer dann drückt sich Ikairi an die Mauer, vor Angst, sie könne gehört werden und wenn der Lichtschimmer und die schlürfenden Schritten auf der Mauer abklingen, löst sie sich von dem Gemäuer und hastet voran. Letztendlich knickt auch diese Wand nach rechts ab und Ikairi befindet sich an der Südmauer. Ein Stück weiter hebt sich ein kleiner, halbmondförmiger Balkon von der Grundmauer heraus.
Als sie unter dem Vorbau steht, packt sie ihren Haken aus, holt ein wenig Schwung und wirft ihn hoch. Er verfängt sich und Ikairi kann problemlos daran hinauf klettern. Das Seil ist rutschig, der Regen hat es aufgeweicht, doch nach einem sehr anstrengenden Aufstieg steht sie keuchend auf dem Balkon. Zwischen großen Scheiben, die als Fenster dienen, befindet sich eine Glastüre. Ikairi rüttelt an dem Griff und ohne dass sie es erwartet hat, schwingt die Tür zur Seite und lässt sie ein. Sie betritt einen großen, langen Thronsaal, Er ist dunkel, nur ein schwacher Schein, im Gang ihr gegenüber brennt Licht. Plötzlich hört Ikairi einen Aufschrei und das Aneinandergeraten von Klingen. Sie befürchtet, dass Tinka gegen die Wachen keine Chance hat, doch sie wartet und hofft, dass es ihr gut geht. Viele weitere Schmerzensschreie folgen auf den ersten, doch Ikairi rührt sich nicht, vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen und ringt mit den Tränen. Ist ihretwegen Tinka gestorben? Es war zwar nicht ihr Plan, aber Ikairi hat es zugelassen, dass sie mit ihr gehen darf. Schritte hallen, ein Schatten huscht in den Saal und packt sie am Arm, zieht sie in den Korridor und erst jetzt erkennt sie, dass es Tinka ist, die vor ihr steht. Ihr Speer ist in der Mitte zerbrochen, Blut befleckt ihre Kleidung und ihr Gesicht, Kratzer überall am Körper und einen Lebensbedrohlichen knapp an ihrer Halsschlagader vorbei, doch sie lebt und das ist Ikairi im Moment das Wichtigste. Weinend schlingt sie ihre Arme um ihre Gefährtin und drückt sie fest an ihre Brust.
„Ist doch schon gut Ikairi. Wir haben jetzt keine Zeit, große Gefühle walten zu lassen. Die Schatzkammer befindet sich im Untergeschoss. Sie wird von etwa fünf Wachen beschützt und nur ein Schlüssel kann das große Eisentor öffnen. Diesen Schlüssel besitzt der König. Du holst ihn, das Gemach befindet sich gleich hier!“, sie zeigt auf eine schöne Holztür, an der ein Banner hängt. Auf ihm kann Ikairi einen großen Schwan erkennen oder etwas ähnliches. Sie runzelt die Stirn.
„Das ist ein Aswer!“, sagt Tinka auf Ikairis Gesichtsausdruck. „Das größte lebende Wesen, das es auf Globelia gibt. Globelia, so nennen wir unseren Planeten.“
„Ohh!“, staunt Ikairi überrascht. „Ihr benutzt das Wort Planet? Ich dachte schon ihr habt für alles etwas anderes. Aber dieser Vogel ist herrlich!“, schwärmt sie.
Ikairi tritt vor die Tür und öffnet sie leise und vorsichtig. Der Raum ist duster und Ikairi sieht kaum, wohin sie läuft, nur das Licht, das aus dem Gang in das Gemach fällt, weist ihr etwas den Weg. Von links hört sie leises, gleichmäßiges Atmen. Plötzlich stößt sie gegen etwas hölzernes. Es ist ein kleiner Nachtschrank und sie tastet sich daran hinab und macht die erste Schublade auf. Darin befinden sich viel Pergamentrollen, ein Tintenfass und eine Feder, in der unteren Lade erfühlt sie einen kleinen Schlüssel und ergreift diesen. Plötzlich hört sie das Bett ungewöhnlich laut knarren und eine tiefe Stimme, die verwirrt fragt: „Was ist hier los?“
Ikairi stockt der Atem, ihr Herz rast schnell und rasch verlässt sie den Raum und knallt die Tür zu.
„Bist du verrückt?“, raunt Tinka.
„Nein, aber in Schwierigkeiten!“, antwortet sie, dann hastet sie an ihrer Begleiterin vorbei eine kleine Treppe hinab und dann nach links, dort lehnt sie sich keuchend an die Wand und wartet, bis sie Tinka hört. Wenig später rennt sie an ihr vorbei und Ikairi spurtet wieder voran. Ihre Schritte hallen laut durch die Korridore, doch das ist nicht mehr von Bedeutung. Sie wurden durch Ikairis Unachtsamkeit verraten. Tinka biegt nach rechts ab und landet in einem großen Raum, in dem fünf Wächter sie bereits empfangen, sie zieht ihre zwei Speerteile und schwingt sie über ihren Kopf. Ikairi reißt ihr Katana aus der Scheide und richtet es gegen die Wache zu ihrer Rechten. Sie sieht in ihrem Augenwinkel, wie Tinka ihr Pulver herausholt und wieder etwas murmelt. Die Wachen krachen auf die Knie, dann vollends auf den Boden.
„Los schnell, solange sie schlafen.“, ruft Tinka ihr zu. Ikairi hastet zu der Tür, steckt den Schlüssel ins Loch und dreht herum. Ein leises Klicken und sie schwingt auf und gibt den Weg auf eine reichgefüllte Schatzkammer frei.
„Nimm dir eine Tasche voll und dann lass uns von hier verschwinden!“ Ikairi betritt den Raum und entdeckt als erstes ein Prisma, das auf einem hohen Sockel liegt. Das ist ihre Fahrkarte aus dieser Welt und nach wenigen Schritten steht sie davor und greift nach dem Prisma. Flink lässt sie es in ihre Tasche gleiten und nimmt sich eine paar Goldmünzen. Tinka ist bereits aus der Schatzkammer wieder draußen und winkt ihr aufgeregt zu. Ikairi schließt die Tür ab und rennt zurück zu dem Balkon.
Die Nachtluft schlägt ihnen entgegen und mit ihr ein lautes Gebrüll unterhalb der Mauer. Es klingt so furchtbar wie das, das sie im Wald hörten, als ihnen das Kamataska begegnete. Tinka huscht zu den Zinnen und späht hinab.
„Oh Gott!“, stößt sie aus. Ikairi folgt ihr und sieht etwa hundert Kamataskas, die sich um die Mauer scheren und laut brüllen. Einige Stadtwachen versuchen sie zu vertreiben, doch vergebens, sie stehen immer wieder auf, ohne einen kleinen Kratzer abbekommen zu haben.
„Was machen wir jetzt? Wir sind doch noch unsichtbar oder?“, fragt Ikairi leise.
„Nein, die Unsichtbarkeit haben wir vor dem Kampf in der Schatzkammer verloren.Uns bleibt nur noch eines.“, fängt sie flüsternd an. „Renn!“, schreit sie und hastet an der Ostmauer entlang und versucht zur Nordmauer zu gelangen. Von dort aus hätten sie eine Chance auf dem schnellsten Weg die Stadt zu verlassen. Ikairi blickt zurück. Einige Kamtaskas befinden sich bereits auf der Mauer und setzten zum Sprung an. Plötzlich saust eines an ihr vorbei und landet auf Tinka, die schreiend mit den Füßen trampelt. Aus dem Maul des Ungeheuers läuft klebriger Sabber, der auf Tinkas Haar tropft.
„Hilfe! Ikairi ... schnell!“, schreit sie panisch. Ikairi, die erschrocken stehen geblieben ist, versucht das Monster von ihr zu rammen, doch als ihr Körper gegen den des Wesen kracht, spürt sie einen zuckenden Schmerz in ihrem Bauch, der sie in die Knie zwingt. Sie krümmt sich und reibt mit ihren Händen den Bauch.
„Ikairi, schnell ... es drückt mir ... meine Lunge ... ich kann kaum noch ... atmen“, krächzt Tinka. Bereits sind die Beiden von einer Schar Kamataskas umgeben, die noch immer wild brüllen. Tinka dreht und windet sich und schafft es, sich auf den Rücken zu legen. Das Monster rutscht ab und landet schwer auf dem Steinboden, dann zieht sie etwas Pulver aus ihrem Beutel und beschwört eine Feuerwand hervor, die Tinka und Ikairi schnell kreisend umgibt.
„Hier sind wir fürs erste sicher“, haucht sie in Ikairis Ohr. Die Kamataskas versuchen über den Ring zu springen, scheitern aber daran, weil die Flamen sofort eine geschlossene Kugel bilden. Tinka kniet sich neben Ikairi und versucht ihr zu helfen, doch sie weiß nicht, wie sie helfen soll.
„Was ist mit dir Ikairi? Los antworte mir! Der Zauber wird nicht mehr lange halten!“
„I –ich weiß nicht ... mein B –bauch“, erklärt sie mit schwacher Stimme.
„Ich hab nichts, das heilen kann. Versuch aufzustehen. Schaffst du es?“ Ikairi räkelt sich und bemüht sich auf die Knie zu gelangen, aber sie scheitert jämmerlich daran. Tinka greift unter ihre Achseln und zerrt sie auf die Beine, schlingt ihren Arm um Tinkas Hals. Ikairi steht, aber ihre Beine zittern bedrohlich. Mit erröteten Wangen öffnet Ikairi leicht die Augen, dann fällt sie wieder auf den kalten Boden.
„Oh nein“, klagt Tinka und versucht es ein weiteres Mal, Ikairi auf die Beine zu hieven.
Langsam lösen sich die Flamen auf und die Hitze nimmt ab.
„Die Macht ist erloschen, Ikairi. Hoffen wir das Beste!“, haucht sie, dann legt sie sich schützend auf Ikairis Körper.
Gehetzt
Tinka spürt wie eine scharfe Kralle ihre Kleidung aufschlitzt und ein stechender Schmerz durch ihren Köper zuckt. Sie schreit auf, bleibt aber auf dem reglosen Körper Ikairis liegen. Wenn ich jetzt nachgeb, wird Ikairi sterben, denkt sie. In ihrer rechten Hand hält sie den Beutel mit dem Pulver fest umklammert, mit der Linken holt sie etwas davon heraus und streut es mit einem leisen Murmel über sich. Eine frostige Kälte umgibt sie einige wenige Sekunden, dann blickt sie vorsichtig auf. Zwei der Wesen sind zu Eisskulpturen erstarrt, der Rest des Rudels weicht erschrocken zurück. Tinka nimmt ein Stück ihres Speers und zerbricht beide Statuen mit einem einzigen Hieb. Klirrend landen die Überreste auf dem Boden.
„Ha!“, krächzt sie. „Also kann nicht nur Lava euch töten!“, sie faltet ihre Hände.
„Oh Veru, hilf uns. Schwing deine mächtige Axt und erlöse uns!“, betet sie. Die Kamataskas lassen sich nicht abschrecken und schließen den Kreis enger um die Beiden, eine Pranke erwischt Tinka im Gesicht und reist eine tiefe Wunde, die über ihre rechte Wange verläuft. Schmerzerfüllt jault sie auf und fängt an zu weinen, bis der nächste Schrei die Nacht erschüttert. Der Regen strömt über ihren Körper und lässt ihre Wunden brennen, wie Feuer fühlt es sich an. Wut nimmt von ihr Besitzt und bebend steht sie da und brüllend streut sie den Rest des Pulver um sich. Einige der Monster verbrennen sofort, während andere jaulend zurücktreten und das Feuerspiel mit geängstigten Blicken betrachten. Die Flammen verschmelzen zu einem Kämpfer, der sein feuriges Schwert schwingt und alles in Brände aufgehen lässt, was seine Klinge berührt. Mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck sinkt Tinka wieder auf Ikairi. Der Regen verdampft bei der Berührung mit dem Krieger und bildet Nebel, der langsam Teile der Burg umgibt und träge über den Boden warbt. Schließlich löst sich der tapfere Kämpfer auf und mit ihm langsam der Dunst. Einige Wesen liegen verbrannt auf dem Boden, andere sehen Tinka nun als größere Feindin und schlitzen sie schneller auf, als sie erwarten hat. Nach wenigen Minuten ist ihr ganzer Rücken überdeckt davon, doch plötzlich taucht ein Mann auf, in seinen Händen hält er eine Axt. Er schwingt sie bedrohlich, doch mit bedacht darauf, keines der Wesen zu verletzten. Er weiß über deren Gabe bescheit, dass sie jeden verfluchen, der ihnen eine Wunde zufügt. Doch die Kamataskas sind schon zu geschwächt, um einen weiteren Kampf anzufangen und ziehen ab. Zurück bleiben Ikairi und Tinka, beide tödlich angeschwächt und fast bewusstlos und der Mann, der seine Axt gesenkt hat und beide auf dem Boden zurücklässt. Tinka hebt schwer den Kopf, während er an ihnen vorbeischreitet.
„Hättet ihr nicht geklaut, hätte ich euch geholfen, aber ich will nicht als Mörder dastehen, deshalb ... Hier!“, er wirft ihnen ein Beutel mit vielen Kräutern entgegen.
„Ich hoffe du weißt, welche du verwenden musst.“, mit diesen Worten rauscht er an ihnen vorbei.
„Jaah!“, krächzt Tinka und greift zittrig nach dem Beutel und betrachtet die Kräuter. Einige unter ihnen sind giftig, andere haben eine heilende Wirkung und nach etwa zehn Minuten ist Ikairi wieder auf den Beinen und Tinka wieder etwas bei Kräften. Ikairi torkelt schwankend zum Balkon und lässt sich an dem Seil herab. Doch mitten im Abstieg lässt sie los und landet auf dem matschigen Boden. Ihre Kräfte sind noch zu schwach, um sie sicher bis ans untere Ende tragen zu können. Tinka macht es ihr gleich, stellt sich aber beim Abstieg etwas geschickter an und landet leichtfüßig neben ihr.
„Alles in Ordnung?“, hakt sie nach.
„Ja!“, ächzt Ikairi und steht auf.
„Uns bleibt nichts übrig, wir müssen die Stadt auf dem schnellsten Weg verlassen.“, meint Tinka und steigt über einige Leichen hinweg, die zweifellos die Stadtwachen sind, die durch die Kreaturen getötet wurden. Ikairi rafft sich auf und folgt ihr.
„Meinst du sie kommen wieder?“, fragt sie Tinka, die bereits ein Stück voraus ist.
„Ja, sie werden erst ruhen, wenn sie dich getötet haben.“
„Aber warum tun die das?“, fragt Ikairi etwas verzweifelt.
„Das hängt womöglich mit dem Fluch zusammen, aber ich hab keine Ahnung wie er genau wirkt“, sie seufzt.
Noch an diesem Tag haben sie die Stadt verlassen und sind an der Küste Richtung Norden entlanggelaufen. Tinka schätzt, dass sie schneller vorankommen, als sie geglaubt hat und dass sie bald in eine weitere Stadt kommen würden, doch einige Verfolger sitzen ihnen dicht auf den Versen. Nachts hören sie sie brüllen, tagsüber ist es jedoch still und unscheinbar, doch jeden Tag sind ihre Hetzer ihnen ein Stück näher. In der Nacht, als sie verjagt wurden, sind sie weit geflohen, doch hier draußen, in der weiten Prärie sind sie verwundbar und schwach. Tinka musste ihr ganzes Pulver aufbrauchen und die Kräuter, die ihnen gegeben wurden, sind längst verwelkt und unbrauchbar.
Ikairi und Tinka wagen kaum zu schlafen, die Nacht hat sich wie ein Schatten auf das Land gesenkt und die Wolken vertrieben. Einige Sterne funkeln auf sie herab und zwei Monde spenden viel Licht. Einer steht bereits hoch am Himmel, der andere neigt sich gegen Westen und will hinter einigen Hügeln versinken. Ikairi und Tinka liegen unter einem kleinen Felsvorsprung und scharen sich aneinander, um sich gegenseitig Wärme zu spenden, zu kalt ist die Nacht geworden und zu gefährlich ein Feuer entflammen zu lassen, vor Angst entdeckt zu werden.
„Wenn die Kamataskas uns wieder angreifen ... meinst du wir werden wieder gerettet?“, fragt Ikairi besorgt und blickt zu den Sternen.
„Ich weiß es nicht, aber ich denke, dass andere Wesen uns retten werden, zumal die Kamataskas gehasst werden.“, etwas kaltes liegt in Tinkas Stimme. Ein tiefer Brüller hallt über das Land, er klingt sehr nah. Ikairi schreckt auf.
„Lass uns lieber gehen! Ich möchte nicht, dass wieder das Gleiche geschieht wie damals!“
Tinka überlegt lange, dann antwortet sie: „Ja gut, lass uns an der Stadt vorübergehen, direkt auf den Yut’ Ill – Pass. Dort liegt die Stadt Germinta, etwas unterhalb auf einem schmalen Plateau.“
„Ja gut, wie hoch geht der Berg denn?“
„So etwa zehntausendeinhundertachtzig Meter.“
„Bitte?“, fragt Ikairi schockiert. „Kann man dort überhaupt atmen? Und wie kommt man dort rauf?“
„Man geht zu Fuß oder nimmt fliegt mit einem Eisvogel hinauf, doch das kostet viel Zellum. Das können wir uns nie leisten!“, meint Tinka. Ikairi überlegt, dann antwortet sie: „Aber wie sollen wir es denn schaffen, bis hoch zu kommen? Wir brauchen Monate bis dahin!“
„Nicht wenn wir durch den Fôitî-Kanal laufen. Aber dort ist es sehr gefährlich!“, mahnt sie.
„Uns bleibt nichts übrig, was erwartet uns denn dort?“, will Ikairi wissen. Tinka atmet einmal durch, dann antwortet sie zögernd: „Es sind riesige Würmer, die unter der dicken Eisschicht leben und nur zum Fressen an die Oberfläche kommen. Sie sind blind und taub, doch sie werden durch Bewegungen angelockt. Die Bewohner von Germinta meiden sie und der Rest der Besucher auch. Viele wandern freiwillig den längeren Weg über den Hus – Pass. Das Wese wurde auf den Namen Xeru getauft. Xeru heißt so viel wie Eisschrecken. Es zu bekämpfen wird schwer, denn es ist größer, als ein Kamataska springen kann.“
„Was?“, schreit Ikairi erstaunt auf. „Und wie sollen wir es besiegen, mit unserem mickrigen Waffen?“
„Wir brauchen Glück, Ikairi, viel Glück!“, sie seufzt. Der Weg führt am rauschenden Meer vorbei, über eine kleine Felsenklippe hinab zu einem Sandstrand. Jeder Schritt hinterlässt eine feine Spur im Sand, doch was macht das jetzt noch? Die Kamataskas sind bereits so nah, dass sie ihre Fährt wittern können, dazu brauchen sie nicht auf den Boden schauen. Tief im Inneren wünscht sich Ikairi, dass es schnell vorbeigehen möge, aber andererseits ist sie froh, eine so schöne Welt gesehen zu haben.
„Da vorne ist ein Dorf!“, schreit Ikairi und rennt darauf zu. Tinka folgt ihr nicht, sie bleibt stehen, ihre Miene zeigt keine Spur der Freude.
Am Fuß des Qutsus – Gebirges
Die Nacht haben Ikairi und Tinka vor den Toren der Stadt geschlafen. Die Wächter haben gemeint, dass es zu spät sei, Fremdlinge in das Dorf zu lassen. Die warmen Sonnenstrahlen wecken sie, die Luft ist kalt und frisch. Ikairi steht auf und blickt sich um. Vor ihr erstreckt sich das weite, unendliche Meer, in dem die Sonne langsam über den Horizont kriecht, hinter ihr dehnt sich ein riesiges Gebirge aus. Die Bergkuppen und Ausläufe sind durch Schnee bedeckt und weit oben sieht Ikairi etwas Goldenes, das durch das Licht schimmert. Auf den Hängen wachsen die ersten Tannen und Kiefern und verleihen der Natur einen hauch von Winterlichkeit. So etwas hat Ikairi noch nie zuvor gesehen. Diese Widersprüchlichkeit verblüfft sie.
„Hier Ikairi!“, murmelt Tinka. „Das ist meine Heimatstadt. Ich wollte sie eigentlich meiden, aber es ließ sich nicht vermeiden!“, sie blickt traurig auf die Weiten der Prärie.
„Warum wolltest du hier nicht hin?“, fragt Ikairi, die es nicht recht verstehen kann.
„Weil hier meine Eltern begraben wurden!“
„Ohh ...!“, Ikairi verstummt kurz und fügt sehr leise hinzu: „Das hab ich vergessen. Tschuldigung!“ Tinka seufzt.
„Wenn wir schon hier sind, können wir auch gleich Kräuter und ein paar Waffen kaufen gehen!“, schlägt sie vor. Ikairi lächelt und sagt freudig: „Gerne!“
Der Markt der Stadt ist üppig. Hier und da bieten Händler kostbare Waren wie Getöpfertes, Teppiche und Möbel an, an anderen Ständen werden Kräuter und Nahrung verkauft. Tinka und Ikairi trennen sich auf: Tinka will Kräuter kaufen gehen und Ikairi hält nach Waffen Ausschau und schon bald wird sie fündig. In einem Stand, unweit einer kleinen Kapelle, glitzert das Metall in der Vormittagssonne. Sie tritt näher und nimmt einige Gegenstände behutsam in die Hände; der Verkäufer beäugt sie misstrauisch. Erst schaut sie einen Krummsäbel an, der aber ziemlich ungelenk in der Hand liegt, für Tinka kauft sie einen weitere Doppelspeer und ein Breitschwert, das sie haben will. Das Schwert ist schön, die Klinge durch Rillen und Fugen zu einem Muster geschliffen, das Heft mit feinem Leder umwickelt und Bernsteinbesetzt.
Letztendlich verlässt sie mit zwei Breitschwertern samt Scheide, etwa fünfzehn Niniasternen und einem Doppelspeer den Laden, der Verkäufer schaut ihr glücklich nach, denn sie hat mit fast ihrer ganzen Beute dafür bezahlt. Tinka kommt ihr entgegen, auch sie besitzt kaum noch Geld, dafür haben sie sich aber ausgiebig für mehrere Kämpfe gewappnet. Plötzlich hören Ikairi und Tinka ein Warnhorn, das von dem oberen Wachturm an der Südmauer über die Stadt schallt.
„Oh mein!“, schreit Tinka und rennt zwischen vielen Häuser vorbei, durch eine panische Masse zu dem Gemäuer und erklimmt flott die wenigen Treppen, die dort hinaufführen. Wenige Meter von der Stadt entfernt hüpfen gestalten auf und ab und ohne Zweifel, ihre Jäger scheuen keinen Angriff auf die Stadt. Hinter sich hören die Beiden schweres Klimpern mehrerer Rüstungen und das Getrampel vieler Füße, die sich langsam an der Maue aufstellen. Manche halten Bögen in ihren Händen, andere Fackeln oder Schwerter.
„Tinka, was ist hier los?“, fragt Ikairi flüsternd.
„Die Kamataskas greifen die Stadt an.“, erklärt sie.
„Aber die sind doch noch weit entfernt, woher wissen sie, dass sie angreifen?“
„Die Kamtaskas sind hungrig, weil wir ihnen nicht zum Opfer gefallen sind, müssen andere eben herhalten!“, ihre Stimme ist grob und kalt, wie der Wind, der langsam auffrischt.
„Müssen wir kämpfen?“, fragt Ikairi besorgt. „Wir konnten sie schonmals nicht in die Flucht schlagen!“
„Wir müssen nicht kämpfen, wir können auch fliehen wie die elenden Hunde!“
„Männer!“, ruft eine grobe Stimme hinter ihnen. Ein stolzer Feldmarschall erklimmt die Mauer und läuft vor den Soldaten auf und ab. Sein Gesicht ist etwas vernarbt und sein kalter Gesichtsausdruck wie eingefroren.
„Die Kamataskas rücken näher. Wer auch immer sie hierher gelockt hat!“, er blickt böse in die Runde, Ikairi schluckt vernehmbar. „Wir müssen kämpfen, versucht sie zu treffen, auch wenn Geschosse nicht wirken. Benutzt das heilige Feuer, das von Germinta zu uns gesandt wurde und vertreibt die Bestien. Ich will nicht, dass hier nachher eine Schar dieser Viecher über die Mauer bricht! Los kämpft! Kämpft für eure Heimatstadt! Kämpft für euer Leben!“ und ohne Ikairi und Tinka zu bemerken, verlässt er die Mauer wieder. Das Tor am unteren Ende öffnet sich und rund hundert Soldaten stürmen auf die weite Prärie. Sie grölen laut zum Sieg, doch Ikairi glaubt nicht, dass sie wissen, wie weit der wirkliche Erfolg liegt. Die Bogenschützen vor ihnen spannen die Bögen und die Männer mit den Fackeln entfachen diese. Jemand zählt laut auf drei, dann schießen die Pfeile wie ein Hagel auf die Gegner prasseln gegen deren Haut und richten doch keinen Schaden an. Die Kämpferschar stürmt wie eine Welle auf die Kamataska zu.
„Komm!“, schreit Tinka, und reißt Ikairi hinter sich her.
„Was hast du vor?“ Tinka dreht sich um. Entschlossenheit steht in ihrer Miene, dann antwortet sie: „Willst du sie da draußen sterben lassen?“ Und bevor Ikairi antwortet rasen sie weiter die Treppe hinab und durch das offene Tor, hinaus auf die Prärie. Die gelben Stoppelgräser biegen sich zu allen Seiten, als die Beiden hindurchhasten, zielstrebig auf den entfachten Kampf zu.
„Tinka ...“, keucht Ikairi. „Wie sollen wir sie denn besiegen? Ich hab keine teréistischen Mächte, so wie du!“
„Die Männer dort draußen auch nicht!“, sagt sie hart und in diesem Moment fällt Ikairi zum ersten Mal auf, dass Tinka nicht die schüchterne Zauberin von neben an ist, sondern mit beiden Füßen tatkräftig auf dem Boden steht und wenn es um alles geht, ihren Hals riskiert. Schließlich kommen sie japsent am Schlachtfeld an. Die Soldaten wehren sich mit ihren Schwertern gegen die scharfen Krallen der Kamataskas, einige Männer liegen tot auf dem Boden; ein Pfeil hat sie in den Rücken getroffen.
„Du kannst sie nur durch Schläge etwas anschwächen!“, hilft Tinka und stürmt in die Menge und vielleicht auch in den Tod. Ikairi bleibt noch einige Minuten wie angewurzelt stehen, schaut den Männern zu, wie sie sich winden und versuchen den gefährlichen Pranken auszuweichen, schließlich stürmt auch sie in den Kampf. Ihre Hände zu Fäusten geballt, das Katana ruht sicher in der Scheide, jagt sie auf das ihr nächste Kamataska zu und versenkt ihre Stoß gezielt in den Bauch des Wesens. Es knickt leicht ein, seine Augen glühen wütend, dann richtet es sich auf und versucht einen Gegenschlag zu erlangen, doch Ikairi duckt sich geschickt und rollt sich zu Seite. Ihre Kraft reicht nicht aus, eines der Wesen schlaggebend zu verletzten.
„Los Männer!“, brüllt ein Marschall zu ihrer Rechten und streckt seine geballte Hand drohend in die Luft. Das Heer schreit, von neuer Kraft und Motivation gepackt, auf und startet einen weiteren Sturmangriff, der jedoch von der gegnerischen Seite abgeblockt wird. Einige Brüller und Schreie erfüllen die Luft, ein Geruch von Schweiß und Blut verbreitet sich über das Feld und bleibt wie Dunst darüber hängen. Ikairi rümpft die Nase, während sie einem weiteren Prankenschlag ausweicht. Plötzlich singt ein Mann neben ihr röchelt zu Boden, sie schreit spitzt auf und schaut, was geschehen ist. Es ist wieder ein Pfeil gewesen, der ein weiteres Leben forderte.
„Warum sind sie so dumm und schießen weiter, wenn es doch nichts bringt?“, fragt sie sich verbittert und springt über die Leiche hinweg.
Plötzlich flammt etwas weit in der Mitte auf, das zweifellos Tinkas Kunst ist. Die Flammen treffen sich in der Mitte und verschmelzen zu einem gigantischen Feuermann, der einen Hammer in seiner Hand schwingt und auf die Kamataskas niederschmettert. Einige Soldaten bilden erschrocken einen weiten Kreis um den Kämpfer und blicken mit Staunen, aber auch mit Angst auf das Wesen.
„Tinka! Du überrascht mich immer wieder!“, lächelt Ikairi. Der Feuersoldat erlöscht rasch und übrig bleiben verbrannte Kamataskas und Stoppelgras, das fröhlich vor sich hin knistert.
Die Zahlen zu beiden Seiten haben sich inzwischen stark vermindert und die Kräfte lassen nach. Plötzlich stürmt eines der Kreaturen aus der Menge und landet krachend vor Ikairi. Sie sieht eine kleine, schmale Narbe am Bauch, die zweifellos von ihrem Katana stammt. Es war das Wesen, was ihnen vor ein paar Wochen im Wald, unweit des Hauses von Tinkas Onkel begegnet ist. Sie weicht erschrocken zurück, stolpert über eine, am Boden liegende, Leiche und landet im hohen Gras. Schützend hält sie die Arme vor ihr Gesicht und wartet auf einen Prankenschlag. Das Ungeheuer brüllt auf und kratzt Ikairis unterarme auf, sie schreit laut auf und mit letzter Kraft reißt sie ihren Dolch aus ihrem Schuh, trennt die Scheide von der Klinge und rammt es ihm beim Aufspringen in die Kehle. Es röchelt, brüllt und rudert wild mit den Armen um sich, doch Ikairi nimmt einen Abstand ein, in dem sie nicht mehr getroffen werden kann. Das Kamataska packt das Heft des Dolchs und zieht es mit einem gedehnten Schmerzesschrei aus seiner Kehle und hält ihn keuchend vor seine Augen. Das Blut tropft auf den Boden und wird dort von der Erde aufgesaugt, dann bricht es auf den Füßen zusammen und brüllt laut auf.
„Was hast du getan Ikairi?“, Tinka rennt neben Ikairi und zerrt sie auf einen weiteren Abstand. Ikairi sieht, wie sich die braune Haut langsam von dem Kamataska lößt und zerbröckelt zu seinen Füßen landet. Aus seinem Kopf treiben Hörner, die sich am oberen Ende leicht nach vorne wölben, die Krallen nehmen an Größe zu, die Beine werden muskulöser, genau wie die Arme und der Körper. Zu Schlitzen verengte Augen blitzen bedrohlich hinter dicken Liedern hervor, seine zweite Haut nimmt eine glühende rote Farbe an und dampft leicht. Die Luft scheint sich so schnell zu erhitzten, dass die Erde austrocknet und das Gras in der größeren Umgebung anfängt zu kokeln.
„Was hab ich den getan?“, fragt Ikairi verdutzt.
„Ich weiß nicht viel über die Flüche dieser Bestien, aber das was ich weiß!“, schreit sie, gegen das Knistern der hitzigen Luft und das Flackern der Flammen. „Ist, dass, wenn ein Verfluchter den selben Kamataska angreift, der ihn den Fluch aufhalst hat, er zu einem stärkeren Mutiert!“
„W –was? A –aber!“, stottert Ikairi.
“Schnell Ikairi, wir haben hier nichts mehr zu suchen! Das ist jetzt alles zu hoch für uns!“, Tinka reißt an ihrem Arm und versucht sie wegzuzerren.
„Aber wir können die Leute doch nicht ihrem Schicksal überlassen!“
„Das hättest du dir davor überlegen sollen!“, raut Tinka.
„Wenn ich es gewusst hätte, aber von dir erfährt man ja so gut wie nichts!“, zischt sie zurück.
„Jetzt lass uns von hier verschwinden! Ikairi bitte! Ich will nicht auch noch sterben!“, ihre überraschende Boshaftigkeit mischt sich mit Angst. Ikairi holt aus und klatscht ihre Handfläche gegen Tinkas Wange: „Jetzt seh endlich ein, dass man nicht einfach abhauen kann, wenn man versagt hat!“ Tinka funkelt sie böse an, dann wirbelt sie herum und rauscht davon. Ikairi blickt ihr noch kurz nach, dann wendet sie sich dem Ungeheuer zu, das sich bereits zu voller Größe aufgerichtet hat. Sie schätzt es auf zehn Meter. Rasch zieht sie ihr Katana, es gibt ein sirrendes Geräusch von sich, als würde das Schwert sich darauf freuen, endlich zum Einsatz zu kommen. Dann rast sie auf das Monster zu, ohne darauf zu achten, dass es soeben seinen tödlichen Atem gegen die Erde gerichtet hat.
Am Fuß des Qutus – Gebirges entscheidet sich an diesem Tag das Schicksal über viele junger Leben.
Ein heißer Dunst dringt über die Erde und verbrennt Ikairis linken Arm. Schreiend fällt sie zu Boden, über ihr brennt die Luft und unter ihr bebt die Erde unter den Tritten des Monsters.
Hitze und Kälte
Was lieg ich hier und starre fort
Zu einem fremden, neuen Ort
Lieg ich am Boden doch und frier
So ist es nicht, es bleibt bei dir.
Wie Kälte mich umringt,
mich in ein dunkles Loch abbringt,
darüber droht die Hitze fort,
es ist nicht Leben – es ist Mord!
Die Erd’ bricht ein
Und rettet mich
Mich und mein Gebein,
Ein Wesen darauf erpicht.
Er schlängelt sich durch Dunkelheit
Macht sich auf dem Schlachtfeld breit,
verdrängt das Feuer ganz,
verleiht allem einen Glanz.
Nichts kann es besiegen,
Sei das Wesen auch noch so stark
Es wird nie am Boden liegen,
es ist arg!
Wie Hitze dich anmutet
so ist sein Hauch,
der dich überflutet,
es schafft Rauch.
Lange Tage ohne Sonne,
für das Tier ist eine Wonne,
zu sehn, wie Mann und Kind,
Das Blut über das Kinn rinnt.
Es ist vorbei bald wirst du sehn,
dich vor einem großen Spiegel stehn.
Und zwei Lichter einander schlagen.
Es wird über alles ragen!
Ikairi liegt in einem tiefen dunklen Loch, über ihr dröhnt Geschrei, ihre Schulter schmerzt und brennt und sie weiß nicht was passiert war. Von Fern hört sie immer wieder ein Gedicht, das mit den Worten „Was lieg ich hier und starre fort“ beginnt. Ob es eine weitere Trübung ihrer Sinne ist, kann sie nicht beurteilen. Sie öffnet ihre Augen und erkennt eine erdige Umgebung, dann sitzt sie auf, klopft sich den Dreck von ihrer Kleidung und blickt durch eine Öffnung mehrere Meter über ihr. Sie kann nur den blauen Himmel erkennen. Schwungvoll steht sie auf und versucht wieder hinauf zu klettern, jedoch rutscht sie an der matschigen Erde ab und findet nicht genügend Halt. Sie überlegt etwas und kratzt sich dabei am Kinn, dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Elegant zieht sie das Breitschwert aus der Scheide und sammelt das Katana auf, das ein Stück neben ihr entfernt liegt und stößt die beiden Klingen in einem geringen Abstand in die Erdwand. Sie zieht sie daran hoch – ihre Schulter brennt, als würde sie gleich aus dem Gelenk gerissen werden – doch sie rutscht ab und fällt stöhnend auf den dreckigen Untergrund zurück. Die Schwerter stecken einige Meter über ihr, doch davon lässt sie sich nicht entmutigen. Sie krallt ihre Fingernägel tief in die Erde und klettert, doch die Erde bröckelt ab. Verzweifelt blickt sie hinauf und setzt sich schließlich frustriert gegen die Tunnelwand und versenk ihren Kopf in ihrem Schoß. Es ist doch nicht so einfach, wie sie es immer gedacht hat. Letztendlich versucht sie ein letztes Mal die steile Mauer empor zuklimmen. Mit mühe und Not schafft sie es und gelangt an die Schwerter, mit denen sie sich weiter vorantreibt der Rand des Erdloches kommt zum Greifen nahe und mit letzten Kraftreserven schafft sie es, über den Rand zu steigen. Japsent legt sie sich dort auf den Boden, hat aber nicht genug Zeit um sich auszuruhen, denn ein wurmartiges Geschöpf kracht nahe bei ihr auf den Erdboden. Erschrocken springt sie auf und weicht viele Meter zurück. Erst jetzt klingen die Stimme stark an ihr Ohr, die Männer beten ein Gedicht mehrere Male. Ikairi starrt ängstlich auf die beiden Ungetüme, die sich angriffslustig bekämpfen.
Das wurmähnliche Wesen liegt zu Füßen des mutierten Kamataskas und für Ikairi sieht der Kampf entschieden aus. Sie dreht sich um, blickt in die überzeugten Gesichter der Soldaten und schmuggelt sich an ihnen vorbei.
Ihr Ziel ist das Orakel, das ihr den Weg aus dieser Welt weisen soll, doch bis dahin wird es ein anstrengender Aufstieg werden. Tinka, ihre Gefährtin, hat sie alleine zurückgelassen, sie ist für Ikairi so etwas wie eine Freundin geworden und ist gleichzeitig die Führerin dieser Reise gewesen, doch das ist vorbei, beendet durch eine einzige Wutgeste Ikairis. Sie hätte sich dafür Ohrfeigen können.
Der kiesige Steinweg schlängelt sich an den Ausläufern eines der Berge auf der Ostseite entlang. Ikairi stapft schwer und müde, ihre Arme baumeln fast leblos über dem Boden, sie läuft gebeugt und mit gesenktem Kopf. Der Wind frischt auf und weht stark von Westen her, die Sonne hat sich hinter grauen Wolken versteckt und wenn Ikairi lauscht, hört sie noch immer die tobende Schlacht, die womöglich nicht so schnell ihr Ende finden wird. Ikairi hätte sich nie im Leben ausgemalt, dass ihr so etwas schreckliches passieren könne, als sie mit ihrem Katana eine tiefe Wunde in den Leib des Kamataskas schlitzte. Man hätte sie aufklären müssen; Tinka hätte sie aufklären müssen! Wieso ist sie auch so zurückhaltend? ,Letztendlich’, denkt Ikairi, ‚ist es ihre Schuld, dass wir in diese verzwickte Lage gekommen sind!’ Der Weg führt zwischen zwei kleinen Hügeln vorbei und lenkt in einen Tannwald. Er ist dunkel und kein Vogel zwitschert darin. Nach diesem Waldabschnitt müsste das eigentliche Gebirge ansteigen, Ikairi ist sich da nicht so sicher. Tief in Gedanken versunken tappt sie in den dunklen Wald, das Krachen eines Stockes rechts von ihr lässt sie aufschrecken.
„Was war das?“, stößt sie aus und blickt etwas ängstlich um sich. Etwa drei Meter kann sie in den Hain spähen, dann verlieren sich die dicken Stämme in der Finsternis. Die Kronen verdecken den Himmel und die graue Wolkendecke fast gänzlich. Plötzlich hört sie ein donnerndes Brüllen hinter sich. Es kommt von Tinkas Heimatstadt. Rasch rennt sie das Stück des Weges zurück. Über dem gesamten Tal und über weite Teile der Prärie hängt eine dichte Rauchdecke, dort wo der Wind sie aufreißt erkennt Ikairi Flammenherde. Sie spielt mit dem Gedanken dem Volk zu helfen, aber was soll sie allein gegen ein Ungetüm ausrichten, dass zwanzig mal größer ist als sie? Aber sollte sie die Bewohner ihrem Schicksal überlassen und diesem Monstrum aussetzten?
Letztendlich entscheidet sie sich dagegen, in das Tal zu rennen. Es scheint ihr zu abwegig etwas zu unternehmen. Mit einer arroganten, aber eleganten Bewegung dreht sie sich um und taucht wieder in den Wald ein.
Die Nacht bricht herein, ohne dass es Ikairi bemerkt. Sie ist bereits so weit in den Tannwald vorgedrungen, dass ihr der Tag wie Nacht erscheint.
Unheimliche Geräusche durchdringen den Wald und das Echo hallt noch viele Male darin wieder, bis es endlich verklingt. Wo am Anfang dicke Stämme waren, hängen jetzt dunkelbraune Lianen vom Blätterdach herunter, der Weg ist mit dichtem Gras bewachsen und scheint, als ob er nie begangen wird. Ikairi kommen langsam Gewissenbisse, ob sie nicht doch lieber den Südhang hätte nehmen sollen, anstatt sich hier herumzuplagen? Jetzt ist es zu spät. Wenn sie jetzt umdreht, kann sie Gefahr laufen, sich zu verirren. So bleibt sie zielstrebig auf dem selben Kurs, steckt ihre Arme zaghaft nach vorne, damit sie ertasten kann, wenn ein Baum kommt oder etwas anderes. Ikairi wird müde und setzt sich auf den Weg.
„Nur mal durchschnaufen!“, murmelt sie. „Nur mal durch ...“
Sie erwacht jäh und setzt sich auf und stellt erschrocken fest, dass sie eingeschlafen war. Hurtig huschen ihre Hände über den ganzen Körper, um sie nach Verletzungen abzusuchen, doch sie findet nichts, dass sie in Besorgnis bringen sollte. Etwas erleichtert steht sie auf und taumelt etwas gegen einen dicken, klebrigen Stamm.
Vyy
Schon seit Stunden wandert sie orientierungslos durch den dichten, dunklen Wald, ohne ein Anzeichen von Licht. Sie weiß schon gar nicht mehr wie es aussieht, wie es sich anfühlt, wenn es langsam die Haut wärmt und die trübe Stimmung nimmt. Sie atmet stöhnend aus, ein weißes Atemwölkchen tritt aus ihrem Mund. Sie möchte so schnell wie möglichst zu dem Orakle, aber wie soll sie das schaffen, wenn sie in diesem Wald festsitzt? Ihr kommt es langsam vor, als würde sie im Kreis laufen. Plötzlich kommt ihr ein Idee. Sie lässt ihre Hände in die Taschen gleiten und wühlt darin herum. Schnell findet sie das, was sie sucht und als sie es herauszieht strahlt es ein schwaches Licht aus. Ikairi strahlt erleichtert über das ganze Gesicht. Die Bäume scheinen, als würden sie vor dem Licht Angst haben, den ein lautes Rascheln fährt durch das Blätterdach, aber was kümmert es sie? Mit der anderen Hand bringt sie ein zerknülltes Blatt Papier zum Vorschein, musternd entfaltet sie es, überall weist es Knitterfalten auf und mit einem Handstreich versucht sie es erfolglos etwas zu glätten. Ihre Augen huschen über das Blatt; es handelt sich um das Runengedicht, das damals aus dem Spiegel kam, damals, als ihre Mutter noch lebte, als Celón noch bei ihr war und als sie noch nicht Tinka getroffen hatte. Sie fluchte leise bei dem Gedanken an ihre ehemalige Gefährtin, die sie nur mit den nötigsten Aufklärungen fütterte und sie kaltblütig im Regen stehen gelassen hat, als es für Ikairi wirklich gefährlich wurde.
„Da muss doch ein tieferer Sinn dahinter stecken!“, murmelt sie und runzelt die Stirn. „Immerhin hat jedes Gedicht so was. Hmm ...“
Nach einer Zeit lässt sie es wieder in die Tasche gleiten. Sie hat zu viel um die Ohren, um sich jetzt damit zu beschäftigen und außerdem hat es nicht einmal einer der gutgebildeten Teréisten geschafft, das Geheimnis zu lüften. Warum sollte sie es dann können?
Langsam setzt sie wieder einen Fuß vor den anderen, sie hätte genauso gut stehen bleiben und in den düsteren Wald blicken können, denn sie fühlte sich, als käme sie nicht voran. Zu beiden Seiten weichen die Schatten dem grellen Licht des Prismas; es wirft gespenstisches Licht gegen die dunkelbraunen Stämme. Plötzlich grabbelt ihr etwas großes über den Weg. Ikairi erschreckt sich zu tote. Es ist eine große Spinne, die haarigen acht Beine scheinen unter dem Gewicht des Wesens zusammenzubrechen, genau wie das pulsierende Hinterteil des Tieres, das eine klebrige Spur hinter sich herzieht. Der kantige, behaarte Oberkörper des Achtbeiners schwebt nur einige Zentimeter über dem Boden, auf dem Rücken haben sich kleinere Spinnen festgebissen. Ihre große schwarze Zange am Mund klickte bedrohlich, die zig Pigmentaugen blitzen ihr gefährlich entgegen, schrecken aber vor dem grellen Licht ab. Ikairi weicht beängstigt ein paar Schritte zurück. Plötzlich berührt etwas ihre Schulter und als sie zurückblickt, schaut sie einer weiteren Spinne mitten ins Gesicht. Sie schreit laut auf und will wegrennen, aber beide Wege sind nun versperrt. Panisch rennt sie in den Wald davon, ohne zu wissen wohin. Die Äste peitsche ihr ins Gesicht und verursachen Kratzer, das Unterholz kracht. Ikairi blickt über ihre Schulter zurück, doch die Dunkelheit hat sie eingeschlossen. Nur noch das schwächer werdende Licht des Prismas zeigt ihr die Umgebung. Keuchend bleibt sie stehen, ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals. Lauschend steht sie da, doch die listigen Mörder dieses Waldes wird sie nicht hören können. Sie schleichen sich unbemerkt von hinten heran und stechen gnadenlos zu, dann, wenn sie es am wenigsten erwartet. Langsam zieht sie das Breitschwert. Es ist schwer und ihre Kraft scheint nicht auszureichen, um es aufrecht zu halten. Sie schließt die Augen, da sie ihr so gut wie nichts mehr bringen, und horcht, versucht die Bewegungen zu spüren. Doch der Wald ist still, keine Bewegung, kein Wind, eine tödliche Stille.
Ikairi steckt ihr Breitschwer zurück und entscheidet sich, es hier zulassen, da es unnötiger Ballast ist. Langsam schnallt sie denn Gurt ab, nimmt das Katana, das in seiner Scheide steckt in die Hand und lässt das Breitschwert zu Boden fallen. Langsam fragt sie sich, warum sie das Schwert überhaupt gekauft hat.
Unerwartet hört sie ein Knacken, links von ihr. Es ist verräterisch und ohne in die Richtung zu schauen, rennt sie weiter.
Der Wald scheint sich zu lichten, als Ikairi den Hang vollends hinaufgehastet ist. Zwischen den Stämmen schimmert mattes Licht hindurch und sie hört viele hohe Stimmen. Ein Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit und als sie näher in den Schein tritt, dringt sie aus dem Wald in eine Lichtung. Von diesem Ort aus, kann Ikairi den schwarzen Himmel, mit einer Vielzahl an Sternen sehen. Der Mond schimmert kupferrot und versinkt langsam hinter den Wipfeln der Bäume. Ihr Lächeln wurde noch breiter und sie könnte vor Freude in die Luft springen.
Die Lichtung erstreckt sich kreisförmig im Umkreis von etwa zehn Meter, dann geht sie wieder in Wald über, hohes Gras wiegt sich leicht im Wind und auf den Ästen sitzen Wesen, deren Körper mit viele leuchtende Pünktchen übersprenkelt sind.
„Vyyp?“, eines der Wesen rechts von ihr springt von dem Baum herunter und landet ächzend neben ihr. Das Tierchen ist etwa kniehoch, sein ganzer kugelrunder Körper wird von einem buschigen, schwarzen Fell überzogen und darin haben sich die kleinen Leuchtpunkte verfangen. Ikairi steckt ihr Prisma in die Tasche und bückt sich zu dem Wesen hinunter. Die Augen sind groß und rund und auf dem Kopf befinden sich zwei lange Fühler.
„Vyy?“, es legt den Kopf etwas schräg und mustert Ikairi. Seine Artgenossen scheinen neugierig geworden zu sein, denn immer mehr springen von den Ästen hinab und bilden einen engen Kreis um Ikairi und dem Wesen. Zaghaft streckt Ikairi ihre Hand aus, aber es springt etwas erschrocken ein paar Schritte zurück. Die Menge fängt an aufgeregt zu schreien.
„Ich tu euch nichts!“, flüstert Ikairi einfühlsam und beruhigend. Das Tier vor ihr springt auf sie zu und schnappt sich ihre Hand. Ikairi hätte nicht erwartet, dass sie so viel Kraft besitzen, denn als es wieder auf den Füßchen landet, muss sie sich bücken. Es zerrt sie voran in den Wald, seine Artgenossen folgen in geringem Abstand und als sie in den Wald eintauchen, erhellen die Wesen die Umgebung so sehr, als würden Fackeln den Weg beleuchten. Ikairis Blick schweift über die Stämme am Saum des Waldes; sie sind moosbewachsen, was heißt, dass sie nach Westen laufen. Plötzlich zupft etwas an ihrem Hosenbein und als sie erschrocken über ihre Schulter blickt, stellt sie erleichtert fest, dass es ein weiteres Tierchen ist. Einige unterhalten sich mit hohen, piepsigen Stimmchen andere klammern sich an Ikairi fest.
„Vyyp!“, schreit das Wesen, dass Ikairi an der Hand hält und deutet mit seinen kurzen Ärmchen auf den Pfad, der unter einem riesigen Spinnennetz durchführt. Ein anderes zeigt auf den Stamm links und rechts daneben, zwei gewaltige Spinnen kauern auf den Bäumen und lauern auf Beute. Ikairi erschrickt und als sie sich nach rechts abwendet, sieht sie, wie sich eines der achtbeinigen Krabbelmonster an einem Faden auf Höhe ihres Gesichtes abseilt. Es dreht sich am Strang um sich selbst, doch als es Ikairi erblickt, lässt es sich wütend das letzte Stück zum Boden hinab. Ikairi stampft und trampelt auf den Pfad und versucht die Spinne totzutreten, doch sie weckt die Aufmerksamkeit der restlichen Artgenossen auf sich.
Die kleinen Wesen um sie herum, vyypen wütend und knurren die Gegner an. Ikairi zieht sich etwas zurück. Schließlich haben sich etwa zwanzig der Krabbelbiester auf den Boden abgelassen und klicken laut und bedrohlich mit ihren Zangen.
Eines der niedlichen Wesen zu ihrer Rechten springt auf einen Ast, zwei weitere hopfen auf eine Spinne zu und hieben auf sie ein. Sie scheint sich nicht wehren zu können, doch die anderen Achtbeiner fangen an, ein dickes Netz zu weben. Ikairi hält sich etwas zurück, während die Tierchen mutig angreifen.
Der kleine Kampf entwickelt sich zu einer großen Schlacht, klebrige Netze bedecken den Boden und einige der kleinen Wesen, Spinnen liegen auf den Rücken und rudern hektisch mit ihren Beinen, doch vergebens. Ihnen gelingt es nicht wieder auf die Beine zu gelangen. Aus den Kronen der Bäume stürzen immer wieder dicke Äste auf die Gegner und von ihnen erschlagen, bleiben sie ohnmächtig oder gar tot liegen. Letztendlich geben sich die Spinnen geschlagen und grabbeln rasch die dunklen Stämme hinauf, doch ihre wachsamen Augen verfolgen sie, wohin sie auch gehen.
Das große, über den Weg gespannte Spinnennetz ist weniger das Problem, als die Schlucht, die sich dahinter weit erstreckt. Der Riss ist kaum sichtbar, nur ab an und hallt vom Abgrund dröhnende Laute zu ihnen herauf. Karge Felsvorsprünge ragen aus der Klippe heraus. Der Schlitz zieht sich weit über das Land, soweit, dass er hinter den dicken Bäumen gänzlich verschwindet. Ikairi möchte nicht wissen, wie weit er reicht und wie tief es dort hinuntergeht. Zudem ängstigen sie die Geräusche, die stetig heraufhallen. Seien es Monster oder die Felsen, die an der Wand keinen Halt mehr haben und hinunterstürzen, was dort unten sie erwartet, wird nicht sehr schön anzusehen sein.
Ikairi stöhnt auf. Die Wesen schauen sie traurig an. Sie weiß, dass diese niedlichen Wesen ihr bestimmt weiterhin geholfen hätten.
„Ach, komm ich denn nie aus diesem Wald raus?“
Schneegestöber
Der Tag bricht an, weit oben auf den höchsten Gipfeln, in einer Burg erwacht das Leben.
Durch die Mosaikfenster dringt das Licht nur dämmrig, verstaubte Kronleuchter hängen von einer Decke eines großen Saales. In diesem Raum steht lediglich ein großer, roter samtüberzogener Sessel, in dem ein Mann sitzt, die Fingerkuppen aneinandergelegt und die Ellenbogen auf die Lehne gestützt. Düster lässt er seinen Blick aus dem einzigsten Fenster schweifen, das ohne Mosaikverzierungen im Rahmen liegt. Die Wolken schweben rasch, durch den Wind getrieben an dem Turm vorbei, Schneeflocken tanzen vor seinen Augen, heben und senken sich und lassen sich irgendwo nieder. Wo sie genau landen, kann er nicht sehen. Vor dem Sessel steht ein Spiegel, er lehnt verschmutzt an die Wand, der Rahmen ist bereits von Grünspan überzogen und ein großer Sprung verläuft quer über den Spiegel. Überraschend leuchtet er in einem matten Türkisgrün auf und ein verdunkeltes Schemen wird sichtbar. Der Mann verzieht etwas die Miene, würdigt dem Schemen jedoch keines Blickes.
„Wie geht es voran?“, eine weibliche Stimme hallt im Raum wieder, bestimmend, grob und beherrschend. Der Mann antwortet nicht, vielleicht hat er es nicht gehört, denn die Frau wiederholt etwas lauter und wütender: „Wie geht es voran?“ Sie scheint sehr verärgert zu sein, denn ohne die Antwort abzuwarten fährt sie fort: „Die Zeit rennt uns davon. Wenn du nicht bald etwas unternimmst, wird der Plan scheitern!“ Der Mann blickt sie müde an.
„Dann soll es so sein!“, erwidert er.
„Niemals!“, zischt sie. „Ich möchte, dass du sie tötest, koste es, was es wolle. Sie ist bereits zu weit vorgedrungen.“
„Meine Monster konnten nichts gegen sie ausrichten!“
„Dann musst du es selbst in die Hand nehmen! Sie befindet sich noch im Ferdrunwald. Beeile
dich!“
„Sie wird nicht sehr gefährlich werden!“, sagt der Mann in einem ruhigen Ton.
„Warum bist du dir so sicher?“, fragt sie etwas verblüfft.
„Sie ist alleine und schwach.“ Er erhebt sich, sein Umhang fällt raschelnd zu Boden und lässt den Spiegel hinter sich. Seine Schritte hallen über den staubigen Marmorboden wieder, als er hastig zu einer alten, weißen Holztür schreitet. Sein Gang wirkt hochnäsig und arrogant.
„Wo willst du hin?“, schreit sie schallend hinter ihm her. „Bleib stehen!“ Er überhört sie und geht schnurstracks durch den Saal, öffnet das Portal und steigt die dünne Wedeltreppe hinab. Unterwegs kommt er an vielen Portraits und Landschaftsgemälden vorbei. Er gelangt in einen langen Korridor, ein roter Teppich ziert den Boden, viele Holztüren zu beiden Seiten des Ganges führen in andere Räume, manche größer, andere kleiner und viele Haushälter wuseln durch die Zimmer und wischen den Schmutz von den Möbeln. Sein Zimmer soll nicht gesäubert werden, er liebt es in dreckigen Sälen zu sitzen und einfach nur nachzudenken, zudem sollen die Madge nicht der Frau aus dem Spiegel zusammenkommen. Es wäre ihm lieber, wenn er nie ihr begegnet wäre. Im Haus riecht es nach köstlichem Essen und eine wohlige Wärme umwiegt ihn. Viele Kamine in diesem Schloss sorgen für die Temperatur im Winter, gegen die Sommerhitze lässt sich jedoch nichts machen.
Er rauscht an den Frauen vorbei, die ihn neugierig mustern.
Sie bekommen ihn nur wenig zu Gesicht und wenn, dann nur flüchtig. Außer mit seiner Mutter, die in einem Zimmer im Westflügel untergebracht ist, redet er kaum. Nur mit sich selbst, droben in seinem Turmzimmer. Doch wissen sie nichts von seinen Intrigen, die er mit dem Bösen schmiedet, sie wissen nichts von dem Spiegel.
„Herr!“, ruft eine mollige Hausfrau hinter ihm her. Er dreht sich um, seine Augen funkeln böse, dann fragt er barsch: „Was?“ Die Frau fängt verängstigt an zu stottern.
„N –nichts!“ Hurtig wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
Er gelangt an eine weitere Treppe. Das Geländer besteht aus feinem Buchenholz, die Stufen aus Stein. Rasch geht er die Treppenstufen hinab, als eine weitere Magd von der Eingangshalle zu ihm ruft: „Eure Frau hat noch Euch gefragt, Herr. Sie verlangt Euch unverzüglich zu sehen!“ Er wirft ihr einen finsteren Blick zu, dann macht er auf den Absätzen kehrt und braust den Korridor nach Westen entlang.
Der Gang knickt leicht nach links ab und er gelangt an eine hohe Tür. Er poltert gegen das Holz und eine zierliche Stimme bittet ihn herein. Vernehmbar öffnet er das Portal und tritt in den hellen Raum. Seine Augen müssen sich zunächst an das Licht gewöhnen, bevor er näher in den Raum geht.
„Oh, du bist es, Robäh.“ Ihre Stimme klingt nun nicht mehr zierlich, eher abstoßend und geschwollen. Sie sitzt in einem alten Korbstuhl, auf ihren Beinen liegt ein altes, in ledergebundenes Buch und auf der Nase trägt sie ein Glas, das ihr das Lesen erleichtert. Der Mann verzieht die Miene und wendet sich von ihr ab.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“, befiehlt die alte Dame. Er dreht sich nicht um, er knurrt leise vor sich hin.
„Robäh!“ Er wirbelt herum und blickt sie an.
„Was ist denn?“, faucht er böse. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen und der pure Abscheu steht in seinem Gesichtsausdruck geschrieben. Die Frau sieht ihn verwirrt und etwas desorientiert an, dann sagt sie, als wäre es ihr eingefallen: „Ich habe Durst, Robäh! Kannst du mir nicht etwas bringen?“ Er brummt hörbar, dann antwortet er verbittert: „Dazu habe ich die Dienstmägde eingestellt, falls du das vergessen hast!“
„Oh ja!“ An der rechten Wand hängt ein Wandspiegel und als er kurz seinen Blick dorthin lenkt, meint er, einen Schatten dort gesehen zu haben.
„Der Fluch hat dich verwirrt, Mama!“, sagt er etwas behutsam, als wäre alle Wut verflogen. Seine Mutter weiß nicht mehr, dass er ihr den Fluch damals aufgehalst hat, dass er sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Sie ist verwirrt und leidet und dauerhaftem Gedächtnis-schwund. Sie stand ihm zu der Zeit im Weg, sie als großzügige Teréistin wurde von allen geliebt und er konnte damit nicht umgehen. Die Farera, die Bewohner Globilias, denken noch immer, dass ein Unfall daran schuld ist.
„Ja, ich glaube ich brauche etwas Schlaf!“, sie versucht sich zu erheben, doch schafft es nicht sich auf den Beinen zu halten und sinkt zurück.
„Lass sie für immer schlafen!“, dringt eine Stimme aus dem Spiegel. „Sie ist uns nur im Weg und falls sie doch je das Gedächtnis wiedererlangt, eine ernstzunehmende Gegnerin. Ich halte es für angebracht ihrem Leben einem sofortigen Ende zu bereiten!“ Er nickt und tritt neben seine Mutter. Sie scheint die Stimme nicht gehört zu haben und wenn doch wird sie sie nicht für wirklich gehalten haben.
Aus seiner Manteltasche kramt er das, was er für das Beendigen ihres Lebens benötigt, einen kleinen Dolch. Die Frau stützt sich an seinem Arm und erhebt sich. Sie hinkt etwas und langsam gehen sie zu einem Bett, das an der linken Wand steht. Gemächlich lässt sie sich stöhnend darin sinken und schließt die Augen.
„Ist das heute nicht ein schöner Tag? So schön!“, sie sieht friedlich aus. Das Licht bescheint schwach ihr Gesicht und die sonst tiefen Falten scheinen einer glatten Haut gewichen zu sein.
„Jaah, ein schöner Tag“, haucht er in ihr Ohr und zieht die Scheide von der scharfen Klinge.
„Los jetzt!“, faucht die Stimme drängend.
„Ich muss jetzt aber gehen!“, fügt er zu der Frau hinuntergebeugt hinzu.
„Ohh!“, seufzt sie. „Wohin denn? Kommst du zum Essen wieder und leistest einer alten Dame Gesellschaft?“
„Ich werde wiederkommen, aber du ...!“, er stockt und blickt zögernd zum Spiegel. „Du wirst nicht wiederkommen!“ Seine Mutter lächelt.
„Wo gehen wir denn hin?“
„Fort!“ Er legt die Klinge an ihren Hals und drückt zu. Rotes Blut dringt aus der Wunde und rinnt am Hals entlang hinab auf den weißen Samtbezug.
„Ohh!“, stöhnt sie schmerzerfüllt. „Robäh! Mein Hals, ich bekomm kaum noch Luft!“, sie schlägt die Augen auf und das letzt was sie sieht ist sein breites Grinsen und den Dolch in seiner Hand.
„Garad dûé!“, verabschiedet er sich, wischt das Blut an seinem Mantel ab und stolziert, arroganter denn eh und je, aus dem Zimmer. Hinter sich ruft seine Mutter noch ein schwaches Wort, dann stirbt sie.
„Sehr gut, du gehorchst mir ja doch. Jetzt kümmer dich um das andere Problem!“
Erleichtert schließt er die Tür und rauscht den Korridor entlang zu der Treppe. Elegant setzt er einen Fuß vor den anderen, die Hand leicht an das Geländer gelegt. Die Haushälterinnen werfen ihm einen verachteten Blick zu, dann gehen sie weiter.
„Reinigt das Zimmer meiner Mutter. Sie fühlt sich ...“, er sucht nach Worten und wedelt mit der Hand. „Etwas schwach. Erledige das, bevor ich wieder Heim komme!“, keift er zu einer Magd, die zufällig seines Weges kommt.
„Jawohl, Herr!“, antwortet sie etwas leiernd und rennt die Treppe hinauf. Der Mann zieht schwarze Handschuhe aus seinem Mantel und stülpt sie sich über seine Hände, dann öffnet er das Portal und tritt ins Freie.
Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss und einige Sekunden später gellt ein gezogener Schrei durch das Schloss und hallt mehrere Male wieder. Er grinst höhnisch, dann steigt er auf seine Kutsche, die von weißen Pferden gezogen wird, und sagt dem Kutscher sein Reiseziel. Sobald der Chauffeur hinter ihm die Tür geschlossen hat, setzt sich die Kutsche in Bewegung und rollt zu einem großen Gittertor, das von zwei Pförtnern aufgezogen wird. Ein großes A ruht in der Mitte des Gitter, umschlängelt von Seilen.
Der Axtschwinger
Noch immer steht Ikairi wie gefesselt am Abgrund, der sich vor ihr erstreckt. Sie weiß nicht wie sie hinübergelangen soll. Ihr Blick schweift immer wieder über die gleichen Stellen des Waldes, doch nirgends erscheint plötzlich eine Lösung. Sie schaut zu den kleinen Wesen um sie herum hinab, obgleich auch sie Ratlos zu sein scheinen. Schließlich wendet sie sich verzweifelt ab und versucht einen anderen Weg zu finden. Etwas wütend kickt sie einen Stein und flucht leise. Das einzigste was sie will, ist, dass sie endlich aus diesem verfluchten Wald hinausgelangt und ihren Weg ungehindert fortsetzen kann. Eines der Wesen schaut sie fragend an und tappst schneller, um den zügigen Schritten Ikairis mithalten zu können. Sie seufzt leise und versenkt ihre Hände in der Tasche.
Nach vielen Meter erreichen sie die kleine Lichtung, doch diesmal schlagen sie noch etwas westlicher in den Wald ein. Sie erhofft sich, dass sie die Schlucht umgehen können, jedoch weiß sie nicht, wie lang sie sich durch den Wald zieht., weder welche Kreaturen dort unten hausen. Der Weg ist mühsam zu begehen, denn zu allen Seiten ragen Wurzeln aus dem Boden und Ikairi wäre schon mehrere Male beinahe hingefallen. Langsam kommt ihr der Verdacht, dass dieser Wald tatsächlich verflucht ist, dass die Bäume so klug sind, dass sie ihren Standpunkt nach belieben ändern und mal hier und mal dort sich wieder absetzten. Bei dem Gedanken läuft ihr ein kalter Schauer über den Rücken und sie blickt beängstigt zu den Pflanzen zu allen Seiten. Plötzlich bleiben die kleinen Tierchen stehen, einige springen schnell auf die Äste der Kronen, bis nur noch eines übrig bleibt. Es neigt leicht den Kopf und blick in die Dunkelheit, dann hebt es sein kleines Ärmchen und weist in den Wald. Ikairi folgt seinem Deut, kann jedoch nichts erkennen.
„Vyy!“, piepst es und hopft auf ihre Brust und krallt sich sanft an ihrer Kleidung fest.
„Süß!“, lächelt sie und drückt das Wesen fest an sich. Es ist weich und seine Augen schauen sie durchdringend an.
„Du willst bei mir bleiben?“, fragt sie. Das Wesen nickt, als hätte es sie verstanden.
„Na gut“, sie schweigt einen Augenblick, um zu überlegen. „Wie nennen wir dich denn?“
„Vyy?“, es legt wieder den Kopf etwas schief und schaut sie fragend an.
„Vyy? Das ist eigentlich ein guter Name, aber ich denke, dass alle deiner Artgenossen so heißen, also wie ...?“
„Ich weiß es!“, stößt sie laut aus. Ihre Schrei scheint von der schweren Luft verschluckt worden zu sein, denn er hallt nicht wieder. „Ich nenn dich Crépu!“
„Vyy!“, piepst es freudig. Zusammen laufen sie weiter in die Dunkelheit, jetzt da die anderen Vyys nicht mehr hier sind, bleibt nur ein kleiner Schein übrig, der einzig von Crépu ausgeht.
Als sie tiefer in den Wald eindringen, erkennt Ikairi langsam einige Umrisse einer alten Hütte.
Ikairi bleibt stehen, doch nach einigen Sekunden geht sie zögernd darauf zu. Als sie sehr nahe sind, erkennt sie, dass die Hütte aus bearbeiteten Holzstämmen besteht, die lückenhaft aufeinandergelegt worden sind. Das Dach besteht aus Stroh und ein Steinkamin ragt an der östlichen Seite empor. Ikairi ist überrascht, dass so eine zerbrechlich wirkende Hütte überhaupt einen Kamin besitzt. Vor den Öffnungen, die als Fenster dienen, hängen vergerbte Tierhäute, die Tür hängt zersplittert im Rahmen. Sie glaubt nicht, dass jemand hier hausen könne und so betritt sie das ebene Gelände, rund um das Haus. Dicke Spinnenweben überziehen einige Teile der Holzwand und Ikairi hütet sich, weiter vorzudringen. Unter ihr kracht ein Stock entzwei, eine eulenähnliches Wesen schwebt von einem Ast herunter und dicke Seilen schnüren sich dicht um ihren Körper. Vor Schreck lässt sie Crépu los, dass hart auf seinem Hintern landet und zornig und vorwurfsvoll zu ihr hinaufblickt. Ikairi hängt an einem Baum in einer Seilfalle mehrere Meter über dem Boden. Stöhnend zerrt sie an den schmutzigen Tauen und versucht sich so zu befreien, doch es gelingt ihr nicht. Ihre Knochen schmerzen, als hätte man sie soeben mehrere Kilometer hinter einen Zug gebunden, der sie schleifend hinter sich herzieht. Crépu vyypt laut unter ihr, stößt sich am Boden ab und springt auf den Ast, der das Seilgerüst hält. Hurtig nagt es das Tau durch, Ikairi will noch ‚Nein!’ schreien, doch zu spät. Sie fällt hart auf den Grund und ihre Knochen schmerzen noch mehr, als zuvor. Seufzend und stöhnend erhebt sie sich, Crépu landet leichtfüßig neben ihr und legt den Kopf schräg.
„Ja es ist schon gut!“, beruhigt sie das Tier und humpelt voran zu der zersplitterten Tür. Bevor sie sie durchschreiten kann, hält sie eine raue Stimme auf: „Halt! Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir oder von meiner Hütte?“ Ikairi kann den Mann nicht genau erkennen, weil er im Schatten eines Baumes steht, doch um ihn zu besänftigen antwortet sie: „Wir sind Wanderer, die des Weges gekommen sind. Wir haben uns, glaub ich, verirrt und wissen nicht wie wir aus diesem verdammten Wald rauskommen sollen!“ Sie hätte lieber nicht fluchen sollen, denn der Mann krunzt laut und empört sagt er: „Dieser Wald ist mein Heim. Wenn Ihr etwas dagegen habt, könnt Ihr ja verschwinden und zwar schleunigst!“ Ikairi lacht auf.
„Ich glaub Sie missverstehen mich. Das ist nur so ein Wortspiel, mit dem verdammt, wissen Sie?“
„Wen meint Ihr mit „wir“?“, fragt er und tritt näher in das Licht. Er scheint das Vyy noch nicht gesehen zu haben, doch in seinen beiden Händen hält er eine Axt, die er schräg über die Schulter gelegt hat. Sein Gesicht ist vernarbt und seine Haare feuerrot. Der Mann ist eher klein und mollig.
„Nun ich und mein Freund hier!“, sie lächelt und hebt Crépu etwas höher. Es neigt den Kopf etwas und vyypt leise.
„Euch kenne ich, zuvor seid ihr mit einer Teréistin unterwegs gewesen. Wo ist sie?“, nervös schaut er sich um.
„Sie ist ... nicht mehr hier!“, ein kurzes Schweigen tritt ein, dann sagt der Mann: „Ihr habt Zellum aus der Burg gestohlen und als euch die Kamatskas angriffen, hab ich euch geholfen!“
Ikairi runzelt die Stirn und antwortet: „Da muss ich wohl schon ohnmächtig gewesen sein!“
„Ja, Ihr saht nicht gut aus. Diese üblen Viecher haben Euch ziemlich zugesetzt!“, knurrt er.
„Ja“, murmelt sie. Der Mann holt eine kleine Pfeife aus seiner Hosentasche und etwas Tabak. Ikairi glaubt, dass es Tabak ist, ist sich aber nicht sicher und mustert ihn etwas überrascht. Er stopft die Pfeife zügig, dann fragt er: „Habt Ihr eine Fackel, womit ich meine Pfeife anstecken kann?“ Ikairi lacht auf.
„Wenn ich so etwas besäße, wäre ich nicht mehr hier!“
„Ohh!“, seufzt er und nimmt sich die Pfeife aus dem Mund. „Drin hab ich etwas Feuer, wollt Ihr mitkommen?“ Ikairi zögernd. Sie ist schon solange hier, um zu wissen, dass man lieber nicht mit jedem mitgeht und niemanden vertrauen soll.
„Waren sie es, der die Fallen ringsherum aufgestellt hat?“
„Ja“, brummt er und blickt an ihr vorbei zu dem Haufen Seil.
„Weshalb stellen Sie die auf?“
„Diese gemeinen Spinnen überfallen mich nächtlich. Ich kann von Glück reden, dass ich noch leb“, er schwingt seine Axt.
„Das kenn ich. Mich haben sie auch angegriffen!“, seufzt sie.
„Euch auch? Ihr müsst auf der Hut sein. Sie sind rings um den Abgrund und lauern dort auf Fressen. Man kommt nicht an ihnen vorbei, um über den Abgrund zu gelangen.“
„Wissen sie, wie man rübergelangt?“, fragt Ikairi neugierig.
„Ja!“, der Mann wendet sich zum Gehen und betritt die kleine Hütte. Rasch folgt Ikairi ihm. Das Häuschen ist schmutzig, Tische und Stühle liegen kreuz und quer über dem Boden verstreut, einige Regale wurden umgestoßen und Holzteile liegen zerbrochen da. Ikairi steigt über die Gegenstände hinweg und schaut dem Mann zu, wie er Tische und Stühle wieder ordentlich aufstellt.
„Früher war alles so friedlich. Da waren die blöden Biester noch nicht da!“, brummt er.
„Seit wann sind sie da?“
„Seit der Großteré an der Macht ist.“ Der Mann wagt es nicht seinen Namen auszusprechen, mehr aus Ehrfurcht, als vor Hass.
„Hat er diese Kreaturen hier hergebracht?“
„Ja, sie sollten ihn schützen“, er setzt sich auf einen Stuhl und bietet Ikairi auch einen an. Sie setzt sich vorsichtig hin und schaut dem Mann ins Gesicht.
„Aber vor was hat er Angst?“, murmelt Ikairi mehr zu sich.
„Angst gestürzt zu werden.“
„Sie sagten, sie wissen einen Weg über die Schlucht?“ Ikairi beobachtet wie der Mann zwei Steine in die Hände nimmt, zu dem kleinen Kamin geht und die Steine kräftig gegeneinander schlägt. Funken entfacht etwas Stroh, das im Kamin liegt. Der Mann beugt sich hinab und bläst kräftig. Das Feuer springt auf das Holz über und nach wenigen Minuten lodern de Flammen knisternd. Ikairi schiebt etwas das Leder vor dem Fenster beiseite und späht hinaus.
„Warum ist es so dunkel hier?“, fragt Ikairi und zieht den Vorhang wieder zurück. Der Mann hat inzwischen seine Pfeife angezündet. Der würzige Geruch nach Tabak steigt ihr in die Nase und Rauchwolken trübt die Luft.
„Eins nach dem anderen. Ich kann Euch zu dem Übergang über die Schlucht bringen, ab dann müsst Ihr allein rausfinden. Warum es so dunkel ist, weiß ich nicht. Die Bäume stehen so dich aneinander, dass das Licht nicht durch die Kronen fällt.“ Ikairi gibt sich damit zu Frieden und wendet sich Crépu zu, der wild an ihrer Hose zupft. Eine lange Zeit schweigen sie, Ikairi kommt es vor, als säßen sie bereits einen Tag hier, als der Mann sagt: „Lasst uns gehen. Bis zum Mittag sollten wir dort sein!“ Rumpelnd erhebt er sich und schmeißt den Stuhl hinter sich um. Ikairi muss sich das Lachen verkneifen und steht ebenfalls auf. Jetzt wundert sie nichts mehr, warum es hier so unordentlich aussieht.
Der Weg schlängelt sich durch die Dunkelheit hindurch und beide reden kein Wort miteinander. Ikairi ist es auch in gewissem Maße recht. Sie hasst es mit fremden Leuten über sich zu reden. Tinka ist was anderes gewesen, sie ist ihr freundlich gewesen. Mit ihr konnte sie sich gut unterhalten.
Engpass Fôitî-Kanal
Die Bäume lichten sich und vor ihnen erstreckt sich eine weite, tiefe Schlucht. Ein entwurzelter Baum liegt schräg über dem Abgrund und dient als Brücke. Schockiert blickt Ikairi abwechselnd zu der Überführung und zu dem Mann, der stur geradeaus schaut.
„Das ist nicht Ihr ernst?“, fragt sie.
„Das ist der einzigste Weg über die Schlucht. Entweder Ihr geht rüber oder Ihr sucht euch einen anderen Weg.“ Ikairi stöhnt auf uns betritt den Stamm. Er ist von Moos überzogen und an einigen Stellen sehr rutschig. Verunsichert blickt sie zu dem Mann, doch dort, wo er zuvor stand, ruht er nicht mehr. Vor Überraschung kippt ihr die Kinnlade herunter und es dauert einige Zeit, bis sie sich wieder fängt. Behutsam setzt sie den zweiten Fuß auf den Stamm, Crépu klammert sich fest um ihren Hals, als Ikairi ihre Arme von sich streckt. Zitternd versucht sie über den Stamm zu balancieren, immer darauf achtend, nirgends auszurutschen und ihren Blick stur geradeaus gerichtet, damit sie keinen Schwindelanfall bekommt, wenn sie herunterschaut.
Ein tiefes Grölen dringt vom Grund zu ihr herauf, sie schluckt schwer und tastet sich mit den Füßen weiter voran. Plötzlich rutscht sie gewichtslos ab, knickt mit dem Fuß leicht ein, kann aber die Balance halten. Ihr Herz schlägt bis zum Hals, so hat sie sich das letzte Mal gefühlt, als sie vor einem tosenden Publikum stand und gesungen hat.
Zu ihrer Erleichterung erreicht sie das andere Ende ohne weitere Probleme, ihre Beine zittern stark. Crépu löst sich von ihrem Hals und hopft fröhlich auf und ab. Schmunzelnd sieht Ikairi ihm zu.
„Es geht hier raus!“, stöhnt sie erleichtert. Der Weg schlängelt sich noch einige Meter voran und zwischen den Bäumen erblickt sie etwas Licht, das schwach in den Wald schimmert. Sie könnte mit dem Vyy mithopfen, vor Freude, doch sie zügelt sich, indem sie laut und herzhaft lacht. Crépu legt den Kopf leicht schief und schaut sie überrascht an.
„Komm!“, ruft sie und rennt den Pfad entlang, zwischen den Bäumen hindurch ins Freie. Die Sonne wird durch schwere, dunkle Wolken verdeckt, der Wind bläst frisch und kräftig, doch das ist für Ikairi an diesem Tag kein Grund Trübsal zu blasen. Sie atmet die Luft tief ein und seufzend wieder aus. Sie hat es vermisst, dieses frei sein und dann dreht sie sich zu dem Wald um, legt die Fäuste in die Hüfte und feixt laut: „Ha, du blöder Wald! Du dachtest wohl ich käme nie hier raus!“ Der Wind weht säuselnd durch die Wipfel, als wolle er etwas sagen. Argwöhnisch blickt sie ihn noch einmal an, dann wirbelt sie herum und rennt den grasbewachsenen Hang hinauf. Crépu scheint überrascht worden zu sein, denn er plumpst etwas hilflos zu Boden und rackert sich erst nach wenigen Minuten wieder auf.
Der Tag geht rasch zur Neige. Wo vorher noch graue Wolken waren, ist jetzt ein schwarzes Tuch, das sich breit und lang über den Himmel spannt. Die Dämmerung tritt rasch ein und ohne, dass es Ikairi wirklich realisieren kann, ist es auch schon Nacht. Hurtig sucht sie sich eine Schlafstätte und wählt einen kleinen Vorsprung an der westlichen Gebirgswand. Stöhnend lässt sie sich sinken. Sie fröstelt.
Der nächste Morgen kommt überraschend mit Schnee, die Flocken tanzen im Wind wie junge Flamencotänzerinnen in einer lieblichen Ekstase. Der Rasen um sie herum ist bereits überdeckt worden und die Bäume mit einer dünnen Schicht Winterlichkeit überzogen worden. Die Luft ist kalt und brennt in ihrer Nase. Crépu scheint auch zu frieren, er versteckt sich bibbernd unter ihrem Pullover. Damit hat Ikairi nicht wirklich gerechnet, sonst hätte sie von zu Hause ein dickes Paar Handschuhe, eine Wollmütze und einen langen Wintermantel mitgenommen. Stöhnend setzt sie sich dem eiskalten Wind aus und versucht so gut es geht gegen ihn anzukommen. Nur schwer gelingt es ihr, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Hände in den Hosentaschen vergraben und der Blick zu Boden gerichtet. Pfeifend fegt der Sturm durch die Nischen der Steinmauer.
„Schlimmer kann es nun wirklich nicht mehr kommen“, murmelt sie zu sich. Crépu läuft ein Stück vor ihr, sein Fell trieft vor Nässe und Schnee hat sich verfangen. Vyypend kämpft es und es scheint besser mit dem Wetter fertig zu werden, als Ikairi. Plötzlich wird das Tierchen von einer besonders starken Böe erwischt, erhebt sich leicht in die Lüfte und landet kullernd vor ihren Füßen. Schmunzelnd hebt sie das putzige Knäuel auf und versteckt es behutsam unter ihrer Jacke.
Gegen Mittag lässt der Wind leicht nach, Ikairis Magen knurrt unangenehm, doch sie hat weder Essen noch Trinken bei sich und das schon mehrere Tage lang. Schließlich greift sie aus Verzweiflung in den Schnee in stopft ihn sich in den Mund. Schnell kaut sie auf ihm herum und etwas Wasser löst sich.
„Besser als nichts!“, flüstert sie, als sie die nächste Ladung zu ihrem Mund führt. Plötzlich hört sie etwas. Sie dreht sich herum, doch sie sieht nichts, nur die Flocken, die wirbelnd um sie tänzeln.
„Komisch!“, murrt sie und wendet ihren Kopf zu den Klippen hinauf, als erwarte sie einen schwarzen Reiter zu sehen, der auf sie hinabblickt. Doch auch dort ist nichts. Wieder das Geräusch, jetzt näher. Ikairi sieht panisch Crépu an, doch er neigt nur leicht den Kopf und sieht sie nichtswissend an. Langsam denkt sie, dass sie sich das alles nur einbilde, doch damals, als sie auf das Kamataska getroffen haben, ist es nicht gerade zu ihren Gunsten ausgegangen. Ein schlürfen, wie über Kies, genau hinter ihr. Erschrocken wirbelt sie herum, um mit Erleichterung, aber auch mit Enttäuschung feststellen zu müssen, dass es wieder nichts ist.
„Hörst du etwas?“, fragt sie etwas verwirrt.
„Vyy?“, das Stimmchen ist schwach und noch höher, als sonst und Ikairi macht sich allmählich ernste Sorgen um sich und um Crépu.
„Du hast Recht, mir geht es auch nicht gut!“
Letztendlich beschließt sie, am Wegrand zu rasten. Zwar ist es ungeschützt, doch etwas besseres ist nicht in Sicht. Langsam lehnt sie sich zurück und ihr Kopf kommt leicht auf dem schneebedeckten Boden auf. Der Kälte scheint in ihren Kopf zu dringen, genau wie die Bilder, die sich vor ihrem Auge abspielen.
Sie befindet sich in einem hellen Raum, die Wände bestehen aus grauem Granit und vor ihr befindet sich ein blauer Sarg. Zögernd geht sie darauf zu, erklimmt die Stufen auf das Podest und hält vor dem Sarg inne. Ihre Augen huschen über die goldene Schrift. Dann atmet sie erschrocken ein.
Hier ruht
Die Tochter des Lichts,
unter Eis und Schnee – ohne Mut
Ihre Augen leer – nichts
Hier liegt
Die Tochter des Gesang’
Sich völlig in ihr Bett schmiegt
Es war, wie ein Drang
Hier liegt begraben
Ikairi,
die Tochter des Lichts,
die Tochter des Gesangs
„Was hat das zu bedeutet?“, Ikairis Hand fährt über die Buchstaben, in der Hoffnung, sie könnten verschwinden und die ursprüngliche Innschrift zum Vorschein kommen, doch sie bleibt unverändert. Eine Lied hallt durch den Raum.
Was bin ich nur so jäh erwacht.
So früh? Es ist noch lang nicht Tag.
Fahl liegt die Kammer, durch die Nacht
Hallt eines Krampen dumpfer Schlag.
Vorm Fenster steht ein Mann und schwingt
Den Schaft und das Pflaster auf.
Der scharfe Hauch der Erde dringt
Mit jedem Schlag zu mir herauf.
Vor Schwäche dreht es mich zur Wand;
Lang ist es her, schon viel zu lang,
dass auf dem Stein gespreizt ich stand
bei Nacht und selbst den Krampen schwang.
Die Funken stoben und wie Wein
Roch scharf der Grund, das ist vorbei.
Ein andrer lockert Stein um Stein
Und weckt mich vor dem Hahnenschrei
Der du am Fenster stehst: Vielleicht
Hab’ ich vor Jahren dich gekannt
Und dir die Schaufel zugereicht
Und hab’ dich meinen Freund genannt.
Das ist vorbei. Lang hungert mich.
Ich tät’ dein Werk genauso gut.
Und säh’ ich auf der Straße dich,
ich zöge nicht vor dir den Hut.
Weißt du Gesell’, was Hunger ist?
Und weißt du’s auch, was gilt es mir!
Den Karren, der die Erde frisst,
das Scheit den Krampen neid’ ich dir
ich ließ’ dich nicht herein zur Tür:
Du reißt mit jedem neuem Schlag.
Kannst du auch zehnmal nichts dafür.
Mehr als das Pflaster auf vor Tag.
Den tiefen Riss, du schüttelst nicht.
So lang du lebst, mit nichts ihn zu
Am Barren schwingt das rote Licht.
Die fahlen Sterne gehen zur Ruh’.
Ein Zug geht, draußen auf dem Steig.
Verhallt der letzte Krampenschlag;
Ans Fenster schlägt ein schwarzer Zweig.
Mich friert. Es ist noch lang nicht Tag.
Ikairi erwacht jäh und fährt auf. Ihre Glieder schmerzen vor Kälte und als hätte das Lied die Wahrheit gesprochen, ist es Nacht. Crépu liegt auf ihrem Bauch und hat sich zu einem Knäuel eingerollt. Langsam erhebt sie sich, um sich zu vergewissern, dass nicht wirklich jemand mit einer Spitzhacke auf dem Rasen steht und womöglich ihnen ein Grab buddelt.
Der Schneefall hat nachgelassen und der Himmel hat sich gelichtet. Die Sterne strahlen hell, doch der Mond übertrumpft sie. Es ist voll und rund und wirft schreckliche Schatten auf den Schnee. Der Wind bläst kaum noch, nur ab und an und dann schrecklich eisig.
So sitzt sie auf dem Boden, die Beine an den Körper gepresst und die Arme darum geschlungen. Mit den Händen reibt sie sich die Oberarme warm; sie sind so verfroren.
Sie wartet bis der Tag anbricht. Die Sterne verblassen langsam am Horizont und die Sonne steigt hinter einer Bergkette auf. Die Strahlen erhellen einige Gipfel weit oben. Als sie aufsteht, spürt sie nichts, ein taubes Gefühl, das sich auf den ganzen Körper gelegt hat und nur langsam scheint das Blut durch ihren Leib zu fließen.
„Komm Crépu!“, behutsam hebt sie das Wesen auf und reibt es ein bisschen. Wenigstens ihm soll es gut gehen.
Vor ihnen erstrecken sich gewaltige Gebirgswälle, zu beiden Seiten, nur ein enger Pfad führt durch diese hindurch.
„Das muss der Fôitî-Kanal sein!“, staunt sie und tritt näher. Der Wind heult darin, wie ein einsamer Wolf, der sich verirrt hat.
Die Kammer der Starre
Die Klippen erstrecken sich hoch in die Luft, der Pfad windet sich durch einige Klüfte hindurch, ab und an sind die Gesteinswälle so nah beieinander, dass das Durchkommen fast unmöglich wird. Der Hang steigt steil an, das Atmen wird beinahe unmöglich. Ikairi schätzt, dass sie sich auf einer Höhe von etwa fünftausend Meter befinden.
Der Himmel der durch die schmale Lücke sichtbar ist, ist blau, nur vereinzelt schweben kleine, weiße Wölkchen vorbei. Immer häufiger setzt sie sich hin, um sich auszuruhen, immer länger bleibt sie bei der Rest sitzen. Am Anfang waren es wenige Minuten gewesen, jetzt sind es fast zwei Stunden, die sie da sitzt und ihren Blick über das Gemäuer schweifen lässt. Das Gefühl der Taubheit verbreitet sich wie ein Netz über ihren Körper, die Kälte fühlt sich an, als würden Millionen von dünnen Nadeln ihre Haut durchstechen.
Der Wind säuselt leise.
Ihr Blick hinauf zu den oberen Gipfeln wird immer sehnsuchtsvoller und in Gedanken malt sie sich aus, wie es ist, dort oben zu stehen und hinab zu blicken. Das Land wie eine Karte vor sich erstrecken zu sehen. Sie seufzt leise und steht mühsam auf, um sofort wieder zu Boden zu gehen. Vor Schwindel dreht sich die Umgebung um sie. Plötzlich schimmert etwas zischen dem Gestein heraus. Neugierig beäugt Ikairi es und krabbelt näher. Der Schwindel klingt langsam ab und sie kann wieder klar denken. Vor ihr dehnt sich eine große Kammer aus, Eiskristalle werfen das Sonnenlicht, das von irgendwoher weiter oben zu kommen scheint, gegen die Wände. Vor Staunen kippt Ikairi die Kinnlade herunter. Unerwartet berührt sie jemand am Rücken und Ikairi verliert das Gleichgewicht, das sie die ganze Zeit auf ihr rechtes Bein verlegt hat und stürzt durch die dünne Steinwand in die Kammer. Große Gesteinsbrocken lösen sich von der Decke und krachen in einiger Entfernung von ihr auf den Boden.
„Vyy?“ Ikairi stöhnt: „Ohh Crépu, musst du mich immer so erschrecken?“ Vorwurfvoll blickt sie zu dem Wesen, das den Kopf schräg legt und sie verwundert anblickt. Sie rafft sich auf und klopft sich den Staub von ihren ohnehin schon schmutzigen Klamotten. Es ist reine Gewohnheit, von dem sie nicht mehr loskommt. Die Kammer verläuft nach links und rechts ein gutes Stück in den Wall, vor ihr verhindert schon nach wenigen Metern eine Mauer das Durchkommen.
„Wenigstens ist es hier einigermaßen mild und windgeschützt“, murmelt sie und läuft in den Korridor zu ihrer Linken. Nicht viel weiter jenseits befindet sich ein weißer Altar, auf einem kleinen Podest, ringsherum sind Fenster in das Gestein eingelassen worden. Das Sonnenlicht dringt ungehindert in den kegelförmigen Raum. Hinter ihr verläuft der Gang weit in das Dunkel, stetig ansteigend. Ikairi beschließt den Altar genauer unter die Lupe zu nehmen und geht darauf zu, steigt auf das Podium und sieht eine Steinplatte, die in den aus Eis bestehenden Hochaltar eingelassen wurde. Darauf steht ein weiteres Gedicht.
„Das war ja klar“, seufzt sie. „Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, hier normal an Informationen zu gelangen.“
Es ist kalt,
rühr dein Gebein!
Dein dumpfer Schrei durchs Gemäuer hallt
Du bist mein!
Ich steh regungslos,
Eisiger Hauch, der mich fängt
Seine Macht ist groß!
Ich fühl mich eingeengt.
Er kommt so schnell wie der Tot,
mit Sichel, bringt mit Not,
Wasser ihm ewig ergeben,
und ich steh bewegungslos daneben.
Mein Blut zu Kristall erstarrt,
mein Atem so flach,
Meine Hand übers Eis scharrt
Es ist so traurig, er spielt Schach.
Ich bin der Bauer, er die Dame
Nicht Geist, Pfarrer oder Schamane,
uns allen ist er schon begegnet,
er kommt auch, wenn es regnet.
Manche laufen vor ihm davon
And’re sagen, er ist die Wonn’
Kämpfen wird nichts bringen,
er will uns alle verschlingen!
Sein Sog ist eisig, seine Augen kalt,
er ist nicht jung und auch nicht alt,
Wie ein Schleier, in einer dunkelblauen Nacht,
hat er den Tot mitgebracht.
Wieder wird ihr ein neues Rätsel aufgegeben, das womöglich der Schlüssel zu allen Lösungen ist.
„Ich hätte nie erwartet, dass du so weit kommst!“, eine raue, männliche Stimme ertönt ein Stück weit hinter ihr. Ikairi wagt es nicht sich herumzudrehen. Schritte kommen näher.
„Halt!“, mahnt Ikairi und greift zum Heft ihres Katanas.
„Na, na, wollen wir mal friedlich bleiben!“, feixt er. Ikairi wirbelt herum und blickt einem Mann, etwa Mitte vierzig, ins Gesicht. Sein Antlitz ist noch jung, nur wenige Falten um den Mund und Augen, das Haar ist schwarz und dicht, durchzogen von weißen Strähnen, die vom Scheitel ausgehen. Ein langer Schmiss ziert seine linke Wange, um seinen dünnen Leib trägt er einen dicken Mantel. Am Kragen ist ein hervorstechendes Muster genäht worden, es ist ein A und Ikairi glaubt es bereits gesehen zu haben, kann sich aber nicht erinnern wo. Der Umhang fällt bis zum Boden und schleift wie eine Schleppe hinter ihm her, seine Kleidung ist elegant und gepflegt. Seine Hände sind behandschuht und im Gürtel steckt eine Scheide und darin ein Schwert, glaubt sie. Ikairi mustert ihn etwas angewidert. Seine Augen sind blau, kalt und glasig.
„So, so, du bist also Ikairi, Ikairi aus ... lass mich raten ... du kommst von der Erde?“, seine Stimme ist verbittert und Ikairi hört etwas Wut heraus. Sie zögert, bevor sie antwortet.
„Ja ... aber ... kennen wir uns?“
„Natürlich nicht. Ich bin Robäh Fer’ Juhl“, ein Lächeln umspielt seine Lippen. Ikairi weicht erschrocken zurück, bis sie am Altar anstößt. Mit hektischen Schritten umrundet sie diesen, um etwas zwischen sich und dem Großteré zu schaffen.
„Ihr seid der Großteré Fer’ Juhl?“, fragt sie, um sich zu vergewissern.
„So ist es! Du brauchst auch keine Angst zu haben. Du willst doch zum Orakel, oder nicht? Willst du nicht mit mir gehen? Ich habe eine wunderschöne Kutsche, mit Samt ausgeschmückt!“ So verlockend es auch klingt schüttelt Ikairi den Kopf und meint: „Ich wurde vor Euch gewarnt!“
„Oh, warum diese Höflichkeit. Nenn mich Robäh!“
„Also Robäh!“, sie betont seinen Namen mit besonderem Abscheu. „Ich werde nicht mit dir mitkommen. Keine zehn Pferde werden mich dazu bringen.“ Crépu versteckt sich hinter ihr. Auch er scheint Angst vor dem Mann zu haben.
„Aber du möchtest doch bestimmt das?“ Er holt ein Prisma aus der Tasche und wedelt damit in der Luft herum. Ikairi schnappt nach Luft und beißt sich auf die Lippe. Zögernd antwortet sie: „Ja sicher, aber ich glaube wir werden einen Kompromiss finden können.“
„Natürlich!“, seine Augen blitzen gefährlich auf. Ikairi zieht ihr Katana aus der Schneide. Böse und hinterlistig faucht sie: „Ich lasse sie am Leben, wenn sie mir das Prisma unverzüglich in die Hände geben!“ Robäh lacht schallend auf und blickt zu Ikairi, als wäre sie irr und zu hochmütig.
„Was gibt’s da zu lachen?“, zischt sie.
„Du glaubst nicht wirklich, dass ich Angst vor dir habe?“ Ikairi verzieht das Gesicht vor Überraschung, doch nach einem kurzen Augenblick ist sie wieder in ihrem aggressiven Zustand.
„Ich seh’ keine Bewaffnung“, mit der Schwertspitze zeigt sie auf seinen Gurt. „Wer sagt, dass es ein echtes Schwert ist und nicht nur eine Täuschung.“
„Ich pokere nicht!“, sagt er bestimmend, zieht sein Schwert, lässt es einmal elegant über seinen Kopf schwingen und steckt es zurück in die Scheide. Ikairi stutzt.
„Zudem“, er lässt seine behandschuhte Hand in seine Manteltasche sinken und fördert einen kleinen Lederbeutel zum Vorschein. „Du vergisst, dass ich teréischtische Mächte hab’. Mehr als deine Freundin ... wie heißt sie noch gleich?“ Er summt leise und kratzt sich nachdenklich am Kinn, dann sagt er strahlend: „Genau, Tinka!“ Seine Augen blitzen auf. Ikairi zuckt bei diesem Namen zusammen und richtet ihr Katana wütender gegen Robäh.
„Denkst du wirklich, du hättest eine Chance? Wir suchen dich schon lange, komm mit mir mit und du wirst ein Leben in Wohlstand und Luxus haben, von denen du in deinen kühnsten Träumen nichts ersehnt hast! Die Kutsche steht jenseits dieses Korridors.“ Er reicht ihr seine Hand.
„Niemals, davor sterbe ich lieber. Ich wurde vor dir und deinen dunklen Machenschaften mit dem Bösen gewarnt!“
„Oh, spielen wir jetzt ‚Gut gegen Böse’?“, fragt er mit einem kindischen Unterton. „Spielen wir ‚Katz und Maus’?“
„Spielen wir nicht schon die ganze Zeit ‚Gut gegen Böse’?“, unschuldig zuckt sie mit den Schultern. „Das ganze Leben ist Pokern, man wettet hoch und verliert meist alles!“, etwas Bitteres liegt in ihrer Stimme.
„Dann möge die Macht mit dir sein!“, er lacht auf. „Wo hast du dein Breitschwert gelassen?“, feixt er.
„Es war Ballast. Deine lieben Haustierchen haben mich gehetzt.“
„Ach, du bist meinen Spinnchen begegnet? Ich hoffe sie haben dir nichts getan?“, Ikairi hört den gespielten väterlichen Ton. Sie sieht, wie seine Hand in den Beutel wandert.
„Wer ist dein Hintermann?“ Verdutzt schaut Robäh sie an.
„Das werd ich dir sicherlich nicht auf die Nase binden!“, raunt er sie an. Sie muss Zeit gewinnen, das steht fest und da ist ihr jedes Mittel recht.
Der Eissee
Robäh zieht schwungvoll seine Hand aus dem Beutel. Blauer Staub hängt einige Sekunden in der Luft und einen Moment später scheint sie zu zerbersten. Steine fliegen durch die Kammer und eine mächtige Windböe überrascht Ikairi und wirft sie gegen die Wand hinter ihr. Einige Sekunden lang wird sie daran gedrückt, bis sie allmählich an der Mauer hinunterrutscht und auf dem kalten Boden stöhnend liegen bleibt. Der Mann lacht hämisch und schallend auf und tritt ein paar Schritte auf sie zu. Ikairi krümmt sich, fühlt sich aber nicht in der Lage aufzustehen. Eine starke Hand packt sie am Kragen und zerrt sie auf die Beine. Ikairi blinzelt ihn an, Schmerz zuckt durch ihren Körper. Sie stöhnt schwach, ihre Arme baumeln leblos herunter.
„Was ist?“, faucht er. „Mehr hältst du nicht aus? Nur so einen lächerlichen Windstoß?“ Er streicht ihr mit der Hand langsam und sanft über die Wange, dann erstarrte sein Gesichtsausdruck, wo zuvor ein Lächeln zu sehen war und öffnet seine Faust, die Ikairis Kraken fest umschlossen hält. Sie stürzt wie ein nasser Sack zu Boden. Elegant wendet er sich von ihr ab.
„Nun“, fängt er an und zupft ein Wenig an seinem Handschuh. „Ich glaube der Kompromiss wird sein: Ich lasse dich leben und du kommst mit mir mit!“
„Nein!“, Ikairis Stimme ist schwach und zittert. Sie umschließt fest ihr Heft, stößt die Spitze des Katanas in das Gestein und zieht sich daran auf die Beine. Verwundert dreht sich Robäh wieder um. Er sagt: „Oh, du schaffst es doch noch! Schön, dann kann unser Katz und Mausspiel ja weitergehen!“ Ikairis Kraft scheint zu ihr zurückzukehren, denn ihre Beine hören auf zu schlackern. Langsam steckt sie das Schwert zurück in die Scheide und geht an ihm vorbei in den hinteren Teil des Korridors. Der Mann hält sie weder auf, noch schleudert er ihr einen weiteren Zauber entgegen.
Auf dem rechten Bein humpelt Ikairi, doch sie verzieht keine Miene des Scherzes. Die Wut brodelt in ihr und droht jeden Moment überzulaufen.
„Ich lass dir einen kleinen Vorsprung!“, brüllt Robäh ihr hinterher und ein Lachen folgt. Ikairi schnaubt, hält sich aber in Fassung. Sie will nicht, dass sie wieder in eine verzwickte Lage kommt, wie damals auf der Burg. Sie muss ihre Aggressivität zu zügeln lernen. Ihre Hand schleicht zu den Ninjasternen, die in einer Tasche am Gürtel untergebracht worden sind. Langsam umschließt sie einen mit den Fingerspitzen und zieht in geräuschlos heraus. ‚Hoffentlich bringt er mir genauso viel Glück, wie auf der Burg’, harrt sie in ihren Gedanken. Ikairi bleibt jäh stehen und dreht sich gemächlich herum. Robäh schaut sie überrascht an und zieht die Augenbrauen hoch. Die Fingerkuppen aneinandergelegt steht er dar, wie zu einer Salzsäule erstarrt.
„Ist noch was?“, fragt er mit einem blasierten Unterton.
„Nein!“, antwortet Ikairi kühn. „Nur das!“ Mit voller Wucht, die sie dem Stern noch entgegenbringen kann, wirft sie den Schuriken. Er schwingt etwas in seinem Flug und stürzt vor Robähs Füßen zu Boden. Er bückt sich, hebt ihn auf und betrachtet ihn eingehend.
„Du musst noch sehr viel üben!“ Er lacht hohl und wirft den Stern zurück. Überrascht davon gelingt es Ikairi nicht mehr auszuweichen. Das Geschoss trifft sie an ihrer verbrannten Schulter, die in den letzten Tagen sehr gut verheilt war, jetzt aber wieder zu schmerzen beginnt. Zornig humpelt sie weiter in die Dunkelheit.
„Crépu, komm!“, zischt sie, obwohl sie keine Ahnung hat, wo das Tierchen steckt. Etwas vyypt leise hinter ihr. Einige Augenblicke später erscheint das Wesen neben ihr, es hüpft wild und erregt von dem Vorfall und mustert sie etwas besorgt.
„Mir geht’s gut!“, faucht sie es an. Crépu legt den Kopf schräg und wendet seinen Blick von ihr ab.
Der Gang mündet in eine weitere, größere Halle. Von der Decke hängen dicke, lange Eiszapfen hinab in der Mitte befindet eine große, zugefrorene Ebene. Ringsherum sind große Statuen eingelassen worden. Alle haben ein Schwert aus grauem Stein in den Händen und eine große Krone auf dem Kopf. Jenseits der Halle befindet sich ein weiterer Altar. Links und rechts davon stehen große Feuerpfannen; das Feuer ist schon seit langer Zeit erloschen.
Blut rinnt ihre Schulter hinab und saugt sich in das Gewebe, Ikairi versucht das Blut durch ihre Hand zu stoppen. Rasch rennt sie auf die glatte Oberfläche. Womöglich ist es eine Pfütze gewesen, die im Laufe der Zeit zugefroren ist.
„Willkommen in der Kammer der Starre!“, ruft Robäh, der breitbeinig am Eingang steht.
Erst jetzt fällt ihr die Kälte auf, die in dieser Halle herrscht. Sie fröstelt und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr Atem hinterlässt einen feinen, weißen Dampf, der rasch verschwindet.
„Einst versammelten sich die größten Teréisten hier. Einer für Licht“, er deutet auf den Koloss zu seiner Rechten. „Einer für Dunkelheit, Wasser, Feuer, Erde und Wind. Sie herrschten uneingeschränkt und zumeist grausam, außer der Herr des Lichts. Er war gutmütig und warmherzig. Er hatte seine Domäne auf der Südinsel und eines Tages wurden die Dynastien von den Farera gestürzt. Sie kamen nicht an, der Kreis wurde zerbrochen und die Kammer der Starre veralterte im Laufe der Jahre. Ich kam an die Macht und unterdrücke nur ... meine Mitteréisten!“, erlachte hämisch. „Und jetzt wirst du meine Macht zu spüren bekommen!“, eine eisige Aura umgibt ihn, kälter als die in der Halle. Seine Augen leuchten einmal kurz türkisblau auf. Schwungvoll nimmt eine Prise seines Pulver. Sein Lachen schwellt an und machtvoll reist er seine Arme in die Luft, formt mit den Händen eine Art Kugel. In dieser Kugel bildet sich eine blaue Sphäre, die stetig an Ausdehnung zunimmt. Ein Windhauch umwirbelt seinen Körper, der Umhang hebt einige Zentimeter vom Boden ab. Ikairi duckt sich und schlägt die Hände über den Kopf. Sie schreit vor Angst. Robäh scheint Schwierigkeiten zu haben, die Macht zu bändigen, denn einige große Ader an seiner Schläfe pulsiert heftig.
„Jetzt bekommst du es mit meinem Klingensturm zu tun!“, schreit er gegen das Getose der Böen um ihn herum an. Er senkt die Hände etwas, bis sie auf der selben Höhe wie Ikairi sind, dann öffnet er blitzartig seine verkrampften Hände, die immer noch die Kugel bilden. Der Wind saust auf sie zu, schlitzt Risse in das Eis und wirbeln schließlich um sie herum. Nach wenigen Momenten ist das grausame Spektakel vorüber. Ikairi steht auf, etwas zaghaft und blickt in das erschöpfte Gesicht von Robäh. Das Eis unter ihr knackt bedrohlich.
„War wohl nichts!“, spottet Ikairi.
„Oh doch.“ Wasser spritzt zwischen den Lücken heraus und schwappt auf die Eisschorlen, die auf dem See treiben.
„Ein See?“, schreit Ikairi spitzt.
„Nicht irgendeiner. Ein teréistischer See.“ Ikairi sieht, wie sich nach und nach immer mehr Schorlen lösen und auf dem Wasser herumtreiben. Sie packt Crépu am Fell und springt von Schorle zu Schorle, doch sie ist Mitten auf dem See. Plötzlich tritt sie auf eine zerbröckelte Eisschorle, die unteren ihrem Gewicht in tausend Einzelteile zerbricht. Schreiend rutscht sie in das Wasser, kann sich aber an einer Schorle festklammern. Robäh gleitet über den See, von Magie gehalten gelangt er bis zu ihr, blickt spottend auf sie herab und löst ihre Hand mit einem einzigen Kick von ihrem Halt.
Sie sinkt gänzlich in das Wasser, platscht und rudert um sich, geht aber immer weiter in die tiefen des Sees unter. Das Bild vor ihren Augen verschwimmt langsam, mühevoll streckt sie ihre Hand gen Oberfläche, doch es scheint, als würde dickes Glas auf dem Wasser liegen. Sie kann nicht hindurchdringen.
Um sie herum schaukelt und wackelt es. Ihre Sinne sind vernebelt und ihr ist zum Übergeben schlecht. Der Wind weht durch ihr Haar und erschrocken fährt sie auf. Sie befindet sich in einer Kutsche, das rote Samtpolster ist weich und zart. Crépu liegt direkt neben ihr und schläft. Sie schließt nochmals die Augen um sich zu erinnern, doch es ist alles weg, als hätte ein großer Sog all ihre Erinnerungen gelöscht. Sie tastet nach ihrem Katana, doch das wurde ihr abgenommen, sowie die Ninjasterne und der Dolch, der in ihrem Schuh steckte. Leise stöhnt sie.
Die Kutsche bleibt jäh stehen. Ikairi lauscht, hört das Säuseln des Windes und scharrende Schritte, die sich rasch der Kutsche nähern. Plötzlich wird die Tür aufgerissen und Robäh steigt in die Kutsche. Schnee hat sich in seinem Haar verfangen, seine Lippen sind blau, als wären sie unterkühlt. Das große A sticht ihr wieder ins Auge und wie ein Geistesblitz kommen alle Erinnerungen wieder. Scheu drückt sie sich vor ihm ins Samt.
Aárter
Er betrachtet Ikairi mit großen Augen.
„Was ist?“, fragt er, als wäre nie etwas geschehen. Ikairi antwortet ihm nicht und weicht seinen Blicken aus. Schließlich fragt sie: „Müsste ich nicht tot sein? Mit diesen Verletzungen, die ich erlitten hab?“ Robäh lacht auf, als wüsste sie nicht wovon sie redet.
„Nein. Ich hab dich wieder zusammen geflickt.“
„Ach so, erst bringst du mich halb um und dann ... dann heilst du mich wieder. Wo ist da bitte die Logik?“ Robäh runzelt die Stirn, tiefe Falten umspielen seinen Mund.
„Nun“, beginnt er und blickt auf seine Handschuhe hinab. „Sie will dich lebend und unverletzt sehen!“
„Wer ist sie?“, fragt Ikairi scharf. Robäh lacht wieder auf.
„Nun, das wirst du sicher bald erfahren!“ Beide schweigen und Ikairi nutzt das, um nachzudenken. Dieses A hat sie schon mal gesehen, aber wo?“
„So, so“, murmelt Robäh mehr zu sich. Ikairi schielt ihn mit gesenkten Kopf an. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass du törichterweise eines meiner Kamataskas mutiert hast!“ Hat er eben meine gesagt?
„Das waren deine Ungeheuer, die mich über das ganze Land gehetzt haben?“, fragt sie erschrocken und beängstigt zugleich und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen.
Damals, als das Kamataska Tinka entführen wollte und Ikairi es durchstochen hatte, sah sie das gleiche A auf seinem Hinterkopf. Sie wurden beauftragt sie zu schnappen und von keinem anderen als ... Robäh? Verabscheuend starrt sie ihn an.
„Du!“, faucht sie. „Du warst es, der mir diesen Fluch aufgehalst hat, wegen dem ich mehrmals knapp dem Tote entronnen bin!“
„Ja, das stimmt. Du bist nicht sehr ... äh ... robust!“ Ikairi muss sich beherrschen, um ihn nicht an die Kehle zu springen, rutscht erregt auf ihrem Sitz herum.
„Du wolltest, dass die Wesen mich töten? Oder sollten sie mich zu dir „hetzten“?“, sie beton das letzte Wort mit Wut und wartet auf seine Antwort ab.
„Töten?“, er überlegt kurz. Der Innenraum der Kutsche wackelt heftig, dann sagt er: „Vielleicht ... so würde ich es eh nicht ausdrücken ... eher ... aus der Welt schaffen? Aber ich brauche dich eh noch und so sollten sie dich auch zu mir hetzten. Beides war mir Recht!“ Ikairi schnaubt und ballt die Hände zu Fäusten. Etwas entzückt blickt Robäh auf ihr wutverzerrtes Gesicht, dann fügt er hinzu: „Du weißt nicht warum wir dich jagen, nicht? Du weißt nicht, warum deine Welt das jähe Ende fand und du weißt nicht, warum die hier gelandet bist?“ Ikairi verschränkt die Arme vor der Brust und schaut die schwarze Kutschenwand an.
„Das meiste, das kann ich dir sagen, hängt mit den Ereignissen auf Ingmari zusammen!“ ‚Er weiß von Ingmari!’, denkt sie erschrocken und reißt die Augen auf. Ihr Gesichtsausdruck bringt Robäh abermals zum Lachen.
„Wie kann das sein? Wie kommt es, dass zwei Welten voneinander wissen?“
„Ich weiß doch auf von der Erde, warum also nicht von Beguska?“
„Beguska?“, der Name verwirrt sie etwas.
„Ja, so heißt der Planet, aber ... was ich sagen will ... wenn Celóns Frau nicht gestorben wäre, würdest du jetzt nicht hier sitzen.“ ‚Er kennt also auch Celón!’
„Sie wurde aber von ...“, fängt sie an, wird aber von Robäh unterbrochen.
„Ja ich weiß, dass Menschen daran schuld sind. Es sind immer die Menschen. Menschen hier, Menschen da und dabei sind sie eines der primitivsten Völker, die es gibt.“
„Musst du sagen. Ihr lebt ja noch wie im Mittelalter!“
„Es hängt gar nicht mit Fortschritt oder Wissen zusammen. Es ist Macht und die Einstellung zueinander. Ihr fangt Kriege an!“, es klingt wie ein Vorwurf, wie, als wäre Ikairi an all dem schuld, was vorgefallen ist.
„Ihr seid aufständerisch und habt diese großen Teréisten gestürzt!“ Er scherzt böse und sieht sie funkelnd an.
„Dabei kam ich an die Macht, sie ist alles. Nur Macht!“
„Du bist verrückt!“, faucht sie.
„Ich weiß!“
Die Kutsche bleibt überrascht stehen und die Tür wird geöffnet. Robäh tritt hinaus und Ikairi schnappt sich Crépu und folgt ihm mit Widerwillen. Sie findet sich auf einem großen Hof wieder. Hinter ihr erstreckt sich ein riesiger Garten, diesen gestutzte Pflanzen verschiedenste Tiere formen, vor ihr erhebt sich ein mächtiges Schloss in die Höhe. Die Fahnen flackern wie wild im Wind, Schnee um wirbelt die hohen Steintürme, die bis in die Wolken reichen. Vier Stufen führen zu einem Holzportal, das von zwei Dienstmägden geöffnet wird. Der süße Geruch nach Essen weht zu ihr herüber und erst jetzt fällt es ihr auf, dass sie vor Hunger fast stirbt. Sie leckt sich die Lippen, Robäh sieht dies und fordert seine Mägde auf, die Tafel für zwei Personen zu richten. Sofort wuseln die Dienerinnen wieder in das Schloss; sie sehen verängstigt und verstört aus, als hätten sie eben erst einen Geist gesehen. Ikairi dreht sich um und wie sie erwartet hat, erstreckt sich das Land wie eine Karte zu ihren Füßen. Ein schmaler Weg führt von dem Schloss zu einem hohen Tor und verliert sich zwischen schneebedeckten Felsen. Etwas weiter links ruht eine Stadt noch in tiefem Schlaf, so scheint es ihr, nur aus vereinzelten Kaminen qualmt etwas Rauch. Hinter den letzten Häuser, in Stein gebettet, liegt ein großer Tempel, dessen Dach von schimmernden Gold überzogen ist.
Ikairi wartet einen Augenblick und beißt sich auf die Lippe, dann rennt sie los, über den mackelosen Garten, hinüber zu einem Holzzaun. Ihre Füße tragen sie so schnell sie können, doch der Zaun kommt und kommt nicht näher. Es ist, als würde sie überhaupt nicht rennen.
„Halt!“, schreit Robäh ein Stück hinter ihr und einen Augenblick später wird sie von zwei starken Soldaten geschnappt, die urplötzlich vor ihr erschienen.
Als sie wieder Robäh gegenübersteht, erwartet sie Bestrafung, doch er erhebt weder die Hand, noch zieht er sein Pulver aus dem Beutel, er steht da und grinst sie an. Ikairi fragt sich, was er wohl aushege, aber es hat keinen Sinn darüber nachzudenken. Herausfindet wird sie es, wenn es zu spät ist.
„Da rein!“, zischt er in einem bösen Ton. Sie hat sich wohl geirrt. Er wird es vermeiden wollen, sie vor all den Leuten zu bestrafen. Ikairi sieht ihm flüchtigen an, ihre Blicke treffen sich kurz.
Die Eingangshalle ist gigantisch und obwohl sie so groß ist, schlägt ihr eine wohlige Wärme entgegen. Ihre Wangen erröten sich, Robäh zieht die Handschuhe aus und lässt sie in seine Taschen gleiten.
„Hier entlang!“, murrt er und läuft voran, biegt nach rechts ab und bleibt vor einer weißen, verschlossenen Holztür stehen. Er nimmt beide Griffe in die Hände und zieht die Tür auf, nur langsam bewegt sie sich und ab und an knarrt sie laut. Das Speisezimmer ist fast noch größer als die Eingangshalle, abgesehen davon, dass es mit Kandelaber beleuchtet wird und nicht von Kerzenkronleuchtern, wie sie in der Halle hängen. Der riesige Eichenholztisch ist bereits bedeckt, eine weiße Samttischdecke bedeckt das nussbraune Holz, darauf Teller aus feinem Porzellan und Gläser, die so hauchdünn sind, das ein Windstoß ausreicht, um sie zu zerbrechen.
Eine Vase, in bläulichem Ton, ziert den Tisch und bildet vage die Mitte davon. Robäh setzt sich an das Tischende und dicht daneben, ist Ikairis Platz. Zögernd setzt sie sich und blickt nervös zu dem Mann. Nach wenigen Sekunden kommen zwei Kellner in das Zimmer und servieren ihnen einen großen Salat. Robäh bedient sich bereits, während sie in die Leere starrt.
„Was ist?“, brummt er. „Du hast Hunger, also iss auch!“ Seine Stimme ist so verbittert, dass Ikairi es fast auf ihrer Zunge schmeckt. Sie schluckt schwer und beladet sich ihren Teller mit Salat. Verunsichert greift sie zu der Gabel und stopft sich ein besonders großes Blatt in den Mund.
Schweigend essen sie, für Ikairi ist es fast ein Kampf, den sie mit sich selbst auszutragen hat. Ihr ist nicht wohl in ihrer Haut und immer wieder spielt sie sich vor Augen ab, was wohl als nächstes passieren könnte. Immerzu trudeln die Keller in das Zimmer, schenken Wein nach oder räumen die verschmutzen Teller ab, servieren den nächsten Gang oder kommen nur aus Zufall in den Raum, als erhoffen sie sich ein besonderes Ereignis. Jedes Mal werfen sie Ikairi ein freundliches Lächeln zu, während sie Robäh gegenüber eher verärgert wirken. Ob sie Sklaven sind, deren Dörfer in Schutt und Asche gelegt worden waren und sie durch seine Hand arbeiten müssen ... so wie Tinka ... kann sie nur erahnen? Wie alt sie wohl sind? Die meisten sehen aus wie Kinder, nicht wie erwaschene Männer und Frauen. Wie viel Sklaven hat er wohl gebraucht, um dieses Schloss zu erbauen? Wird sie auch seine Untergebene sein oder wird sie verkauft, wie ein wertvolles Handelsgut? Wer ist diese rätselhafte Person, für die sie unversehrt sein muss? Wird sie je wieder hier herauskommen? Aus diesem Planeten? Wird sie je wieder ihre Mutter wiedersehen, sie in die Arme schließen können oder wird der Groll sie zerfressen, der sich durch die Geheimniskrämerei auf ihre Seele geschlichen hat?
„Was bedeutet eigentlich das A auf deinem Mantel?“, fragt sie leise.
„So hieß der große Teréist des Windes: Aárter!“
Spieglein, Spieglein
Trotz großem Widerstreben gelingt es Ikairi nicht, sich von Robähs festen Klammergriff zu lösen, als sie eine steile Treppe in eines der oberen Stockwerke steigen. Selbst einige Dienstmägde versuchen ihn davon abzubringen, aber was schert ihn schon die Meinung seiner Sklaven? Als er die Tür mit seinem Fuß aufstößt, schwebt ihnen eine Staubwolke entgegen, langsam setzt sie sich auf die Stufen ab. Grob wirft er Ikairi auf den Staubboden. Der Raum ist fast stockduster, nur eine schlichte Fackel neben der Tür spendet spärlich Licht. Robäh zieht etwas Puder aus seinem Beutel und streut es auf den Boden. Er wartet einige Sekunden und ein Stuhl erscheint dort, wo zuvor gähnende Leere war. Schwarze Armfesseln stechen ihr sofort ins Auge, sonst ist der Stuhl völlig normal. Mit zornigen Blick deutet er ihr an, sich auf den Stuhl zu setzen. Rasch setzt sie sich auf den Sitzplatz und sofort schließen sich die Fesseln fest um ihre Handgelenke. Wehrlos zurrt sie an ihnen, doch zwecklos. Robäh setzt sich in einen roten Sessel, legt die Fingerkuppen aneinander und starrt in die Dunkelheit, die sich inzwischen wieder auf das Land gelegt hat. Stille beherrscht das Schloss, selbst das Kleppern des Geschirrs, das zuvor noch aus der Küche drang, ist verstummt. Die Diener scheinen alle den Atem anzuhalten, so wie es auch Ikairi tut und beten im Stillen.
„Warum tust du das?“, fragt Ikairi verängstigt. Wäre doch bloß jemand bei ihr, der ihr Hilfe leisten kann, doch selbst Crépu scheinen sie gefesselt und in die Besenkammer gesteckt zu haben. In welcher der zig Kammern weiß sie nicht.
„Ich hab dir den Grund schon oft genug genannt. Sie will dich sehen!“, die letzten Worte spricht er langsam und betont sie über, damit Ikairi auch alles aufs Kleinste versteht. Verärgert runzelt sie die Stirn.
Die Wolkendecke reist langsam auf und der Mond schimmert durch das Fenster. Sie sieht wie eine Eule dicht an der Öffnung vorbei flieg, lautlos schlägt sie mit den Flügeln und schreit einmal auf. Die Zeit verstreicht, ohne dass einer von beiden nur ein Wort sagt. Ikairi versucht es mehrere Male ansatzweiße, stockt aber mittendrin. Robäh sieht sie in einigen Abständen regelmäßig an, um sich einerseits zu versichern, dass sie noch dort sitzt, wo sie sein soll und andererseits, damit er ihr mit seiner Macht beeindrucken kann. Er hat es geschafft und das ist in Ikairis Augen keine große Tat. Er hat es bewerkstelligt sie zu schnappen und sie zwangsweise in sein Schloss an einen Stuhl zu fesseln. Aber sie hat gekämpft und darauf ist sie stolz, auch wenn das der letzte Abend sein soll, den sie erlebt. Dann kann sie mit einem guten Gewissen sterben, wenigstens sich nicht wehrlos gestellt zu haben. Aber in mancher Hinsicht glaubt sie nicht, dass sie heute zu Grunde gehen wird und wenn doch heute, dann nicht hier, nicht an einen Stuhl geknebelt.
Seufzend rutscht sie auf dem Sitz hin und her; sie wird langsam nervös. Im Inneren harrt sie, dass gleich ein Held durch das Fenster gestürzt kommt und sie befreit, aber worauf wartet er dann noch? In Filmen kommen sie immer im letzten Moment, sie hofft, dass dieser Augenblick nicht schon vorbei ist.
Robäh sieht sie wieder an. Seine Augen scheinen in dem Mondlicht noch bläulicher zu schimmern, als sonst. Ikairi hält seinem Blick stand, bis er den Kopf senkt. Nun ist er es, der ächzt. Er hat weder einen Grund zu seufzten, noch einen sie hier fest zu halten. ‚Doch, SIE will mich sehen’, denkt sie und atmet tief ein und laut aus. Was Tinka wohl in dieser Zeit macht? Eigentlich hat sie sich geschworen nie mehr wieder einen Gedanken an sie zu verschwenden, aber jetzt kann sie nicht mehr anders. Sie hat ihr zumindest mehr als einmal den Hals gerettet. Und im Grunde hat sie sich noch nicht mal überlegt, wie es nach dem Orakel weitergehen soll. Sie ist schon seit Monaten hier, auch wenn es ihr nicht so vorkommt, doch wenn, dann ist Celón bereits in Ingmari oder sonst wo. Wer weiß welches Unheil ihn erwartet hat - ob er tot ist?
Hinter der Tür knarrt es leise, als würde gleich jemand ins Zimmer kommen. Ikairi dreht den Kopf ein wenig, doch als niemand eintritt, verbannt sie den Gedanken mit dem Glauben, dass es nur Einbildung ist. Selbst Robäh, der angestrengt nach jedem Geräusch zu lauschen scheint, hat nichts gehört. Fern schlägt eine Uhr, laut durchdringt sie die Ruhe des Schlosses und genau zwölf mal schlägt sie, bis sie wieder verstummt und den Palast in sein Schweigen zurücklegt.
Robäh schließt die Augen und im selben Moment erhellt gleißendes, türkisblaues Licht das Zimmer. Erst jetzt fällt Ikairi der alte Spiegel auf, der jenseits des Sessels steht.
Wenige Sekunden später kehrt auch die Dunkelheit wieder zurück, nur ein grauer Schatten im Spiegel lenkt Ikairis Aufmerksamkeit.
„Da ist sie ja!“, eine weibliche Stimme dringt bedrohlich und doch entzückt aus dem Spiegel.
„Natürlich. Wie ich es versprochen habe!“, antwortet Robäh, ohne gefragt worden zu sein.
„Sehr gut“, sie lacht genauso hohl wie Robäh. „Hast du auch das Mädchen?“
„Nein, sie wird aber bald hier sein!“
„Welches Mädchen?“, mischt sich Ikairi ein.
„Still!“ Die Stimme der Frau klingt wie ein Befehl, gemischt mit Groll. Ikairi verstummt sofort.
Ein kurzes Schweigen, dann fährt die Frau fort: „So, du bist also die, die uns die ganze Zeit diese Schwierigkeiten bereitet hat?“ Ikairi versucht zu antworten, doch sie kommt nicht zu Wort. „Du dummes, törichtes Kind!“ Sie lacht laut auf.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden!“, verteidigt sich Ikairi.
„Oh, na dann! Ich glaube so braucht einen Denkzettel, Robäh!“ Der Mann steht auf und verbeugt sich kurz: „Natürlich Meisterin! Welche Art schlagt Ihr vor?“
„Erst mal eine schwach ... hm-h ...“, sie überlegt kurz, „wie wäre es mit einem Schlag? Ins Gesicht?“
„Jawohl!“, er tritt vor sie. Ikairi schenkte ihm nur einen bösen Blick, doch als Robäh ausholt, kneift sie die Augen zu. Wenig später spürt sie die harte Wucht seiner Faust auf ihrer Wange, die ihr die Tränen in die Augen treiben. Die Wut lässt sie beben, zornig verkrampft sie ihre Hände zu Fäusten.
„So, Ikairi, ich glaube jetzt weißt du, warum du hier bist. Warum?“, haucht sie mütterlich.
„Ich weiß es nicht!“, ihre Stimme zittert etwas.
„Robäh!“, sagt die Frau etwas gelangweilt.
„Jawohl, Meisterin!“ Seine Schlag ist dieses mal noch fester und Ikairi hätte es fast nach hinten über geworfen. Der Stuhl schaukelt zwei Mal gefährlich, bevor er wieder auf allen vier Beinen sicher ruht. Der Schmerzt pocht, genau wie die Ader an der Schläfe. Bei beiden Bestrafungen hat sie nicht geschrieen. Sie hat es einfach heruntergeschluckt und ihnen stand gehalten. Ihre Mutter hatte Recht, als sie damals immer sagte, dass sie ein Trotzkopf ist.
„Bravo Robäh!“, freut sich die Frau im Spiegel. „Wenn sie das nächste Mal nichts sagen will, hetzt einen Zauber auf sie!“ Ihre Redefluss wird nur durch ein schwaches „Jawohl!“ unterbrochen. „Ikairi! Sag mir endlich, warum du hier bist! Jeder hat einen Grund! Hat dich dieser Íve hergeschickt, damit du uns ausspionierst?“
„Ich weiß es nicht!“, weint Ikairi. Die Frau seufzt schwer und mit einem Kopfnicken weist sie Robäh auf, seine Macht walten zu lassen. Ikairi schreit auf. Laut hallen die Hilferufe durch das Zimmer. Dann geschehen mehrere Dinge auf einmal. Die Tür hinter ihr schwingt auf und mehrere Diener wuseln in den Saal, etwa ein Duzend Finger packen Ikairi unter den Achseln, einer sogar am Hals, und ziehen sie hoch. Ihre Hände verfangen sich schmerzhaft in der Armfessel und erst durch ein durchdringendes Jammern werden ihre Befreier darauf aufmerksam gemacht. Robäh tobt wütend und stampft polternd mit den Füßen auf den Boden. Staub wirbelt auf, eine helle Frauenstimme beschimpft Robäh, während er zu seinem Lederbeutel greift und blaue Geschosse durch das Zimmer fliegen lässt. Schnell haben die Mägde sie von den Armfesseln befreien können, wie, ist ihr unklar, doch rasch steht sie auf den Beinen und versucht durch die Tür durch zu flüchten. Einige Flüche haben bereits tiefe Dellen in den Boden geschlagen, einer direkt durch den Dachbalken, der sich knirschend dem Boden nähert.
„Robäh, du Versager! Schnapp sie! Schnapp sie! Schnapp sie!“ Ihre Schreie donnern durch den Raum, wie einer seiner Flüche.
Ikairi erreicht die Tür, die angelweit aufgerissen steht und rast hindurch. An der obersten Treppenstufe bleibt sie stehen und blickt zurück. Eine Magd ruft ihr zu: „Geh, schnell, unten wartet meine Mutter auf dich. Geh!“
„Danke!“ Ikairi dreht sich um, als sie hinter sich ein dröhnendes Krachen hört. Der Dachbalken ist vollends heruntergestürzt und hat viele Unschuldige unter sich begraben.
Sie schreit spitz auf und wirft die Hände vor das Gesicht. Tränen fließen und weitere Hände packen sie an den Schultern und zerren sie von der Unfallstelle fort.
Orakel
Rasch verlässt sie das Schloss. Mit Crépu unter dem Arm geklemmt und dem Schwert, samt Ninjasterne in den Händen rennt sie den Hang hinab. Die Dunkelheit hat sie umschlungen, nur das sanfte Licht, das vom Anwesen Robähs dringt, erhellt den Garten ein wenig. In der Ferne hört sie das gleichmäßige Rauschen von Wasser, eine Eule schreit in die Nacht hinein und weitere wehklage, hinter sich. Viele Unschuldige haben an diesem Abend ihretwegen ihr Leben auf das Spiel gesetzt und das Spiel verloren. Könnte sie die Zeit zurückdrehen, würde sie möglicherweise nichts anders machen. Sie hat die Sklaven von der Treiberei erlöst, denen sie täglich ausgesetzt waren. Womöglich wussten sie mehr als Ikairi über sie, deshalb haben sie es als Pflicht angesehen, ihr zur Hilfe zu eilen.
Die Kälte peitscht ihr ins Gesicht, als sie den Weg hinunter zum Gitter rennt. Zwei Wachen ziehen es auf. Dankbar atmet sie auf und hastet hindurch. Nach wenigen Schritten bleibt sie keuchend stehen. Sie weiß nicht, ob Robäh noch lebt, wenn ja, ob er sie verfolgt. Ihr kommt alles unwirklich vor, wie ein Traum, aus dem sie schnellst möglich aufwachen möchte. Wie konnte es passieren, dass der Dachbalken so schnell herunterrutschen konnte? Er sah so robust aus und entpuppte sich als Schlagkeule, die Opfer fordert.
Der Pfad zur Stadt Germinta ist nicht weit und so läuft sie rasch hinunter und sucht sich dort eine kleine Taverne, wo sie sich ausruhen kann.
Der Tag bricht mit kräftigem Gepolter an ihrer Zimmertür an. Müde schreckt sie auf und wird durch ein weiteres Pochen schlagartig hellwach. Langsam öffnet sie die Tür einen Spalt weit und späht hinauf. Unerwartet wird das Portal aufgerissen und mehrere Männer stürmen in den Raum. Verwirrt blinzelt sie die in Stahl gepanzerten Wachen.
„Was zum ...“, stößt sie aus und jappst nach Luft.
„Wir kommen von Gerschisa Ter’Jall, Herrin!“, sagt der Hauptmann und verbeugt sich leicht vor ihr.
„Von wem?“, fragt Ikairi, doch ohne, dass auf sie geachtet wird, fährt der Mann fort: „Wir sollen ihnen Geleitschutz zum Orakel gewähren!“
„Geleitschutz? Dann ... lebt er noch?“, gegen Ende des Satzes wird ihre Stimme leiser und schwächer. Eine bedrückte Stille herrscht einige Augenblicke im Raum.
„Ja“, er meidet ihren Blick. Ikairi glaubt, dass auch er froh wäre, wenn dieser Gewaltherrscher endlich aus dieser Welt fort wäre. Eine Tempelglocke läutet in der Ferne und holt sie wieder zurück.
„Also, gehen wir?“, fragt sie etwas abenteuerlustig.
„Natürlich.“
Die gepflasterte Straße steigt steil zum Tempel des Orakels an und ohne, dass Ikairis Blick von ihm abweicht läuft sie zielstrebig darauf zu. Hinter ihr das gleichmäßige Klappern der Panzerungen und die schlürfenden Laute über das Gestein. Der Hauptmann läuft an der Spitze, gefolgt von drei Männer, dann Ikairi und die Nachhut bilden etwa ein Duzend weitere Wachen, die belustigt miteinander plaudern. Ihr ist nicht zum Reden zumute. Sie malt sich aus, wie das Orakel wohl aussehe und warum kaum jemand zurückkehrt.
Die goldene Kathedrale hebt sich von dem grauen Gestein ab, die kühle Bergluft schlägt ihr ums Gesicht. Anscheinend meidet der Schnee dieses Haus, denn auf dessen Dach liegt kein winterlicher Niederschlag.
„Da sind wir!“, sagt der Hauptmann und deutet mit seinem Zeigefinger auf den Tempel.
Ikairi legt die Hände ineinander und bedankt sich höflich und wünscht den Herren noch einen schönen Tag. ‚Schön ist der Tag wahrlich und etwas verzaubertes liegt in der Luft’, sie atmet tief ein und steigt die drei Stufen zum Portal hinauf. Dicke Säulen zu beiden Säulen halten das schwere Dach. Das Tor steht weit offen und ein muffiger Gestank kommt von darin heraus. Etwas aus Weihrauch und abgesetzter Luft, doch das schreckt sie nicht ab und mit einem breiten Lächeln, wie es breiter schon seit Tagen nicht gewesen ist, betritt sie das Gotteshaus.
Der Raum liegt dunkel da, nur einige Feuerschalen spenden spärliches Licht und wirft zitternde Schatten gegen die Wände. Kerzen umringen einen Altar, vor dem eine Frau steht, ihr Haar geschickt zu einem Knoten hoch gesteckt und darinnen verirren sich einige graue Strähnen. Weitere Säulen tragen die Decke der Halle, weder Stühle noch Bänke dienen hier als Sitzgelegenheit, nur einige ausgefranste Teppiche liegen schmächtig auf dem Boden zerstreut.
Das Orakel, das sie erwartet hat ist nicht da, es sei denn die Frau ist es, was sie eher nicht glaubt, denn sie kniet immer wieder vor einem großen Standbild hinter dem Altar nieder. In den Händen, über ihrem Kopf, der gesenkt ist, hält sie eine Schale Reis. Ein zarter Sprechgesang erhellt den Raum. Das Monument hinter dem Bild, stellt zwei Figuren da, eine schlanke Frau und ein dicker Mann, die wie es aussieht, miteinander verschmelzen. Es ist wie das Ying und Yang auf der Erde, nur hier. Ikairi rätselt was beide darstellen sollen, kommt aber auch nach längerem Überlegen nicht dahinter.
Sie räuspert sich ein wenig, um sich gegenüber der Frau erkenntlich zu zeigen, die voll und ganz in ihrem Element zu sein scheint. Erschrocken blickt sie hoch und dreht sich um.
„Ohh!“, stößt aus und betrachtet Ikairi mit großen Augen. Ihr Gesicht ist faltig, doch der Ausdruck weder hochnäsig, noch böse oder arrogant. Sie lächelt Ikairi an und deutet ihr an, näher zu kommen. Langsam naht sie sich dem Altar.
„Nicht so schüchtern!“, ruft sie ihr und winkt heftig. „Los!“ Wieder tritt das freundliche Lächeln auf ihre Lippen.
„Guten Tag!“, grüßt sie die Frau.
„Guten Tag! Sie müssen neu sein, ich hab euch noch nie zuvor hier gesehen“, meint sie und mustert Ikairi mit einem etwas forschen Blick.
„Oh ja. Ich bin sozusagen auf Durchreise. Ich wollte das Orakel um Rat fragen“, antwortet sie.
Die Frau verzieht ihr Gesicht zu einer traurigen Miene: „Oh je, tut mir Leid, aber das Orakel ist ebenfalls auf Durchreise!“ Die Nachricht trifft Ikairi wie ein Speer durchs Herz und keuchend atmet sie auf.
„Der ganze Weg? Umsonst?“, murmelt sie mehr zu sich. „Das kann nicht sein. Es muss sich um ein Irrtum handeln!“, ruft sie wieder an die Frau gewandt.
„Nein leider nicht.“ Sie zuckt etwas mit den Schultern. „Aber so tragisch ist es nicht ...“
„Nicht tragisch!“, stößt Ikairi atemlos aus. Sie fährt mit ihren Händen über ihr Gesicht und Haaren, mehr damit sie ihren erschütterte Gesichtsausdruck verbergen kann.
„Lass mich doch mal ausreden!“, zischt sie und Ikairi hört schlagartig auf sich um das Gesicht wie wild anzufassen. „Er wird in etwa drei Tagen wieder kommen“, beruhigt sie Ikairi, die erleichtert aufstöhnt. Wieder mustert die Frau Ikairi und sagt schließlich mit etwas mütterlichem und verzweifelten in der Stimme: „Du bist ja ganz müde und ausgehungert. Wärm dich erst mal bei uns auf. Es ist nicht schlimm, wenn du dich die restlichen Tage bei uns aufhältst!“ Ikairi zögernd und überlegt. Sie hat gelernt nicht jedem blindlings zu vertrauen, zu viele haben sie schon dadurch aufs Glatteis geführt. Sie denkt kurz an Tinka, dann an Robäh und bei seinem Gedanken wird ihr speiübel. Einerseits dient das Haus als Schutz und als Unterkunft, zudem noch als Versteck. Dankend nimmt sie das Angebot der freundlichen Frau an.
Ihr Haus ist ein einfaches Bauernhaus. Viele Kinder toben darin, spielen Fangen und streiten sich und als Ikairi das warme Heim betritt, wird ihr nicht nur warm ums Herz. Zwar beäugen sie etwas merkwürdig und sehr eindringlich, doch auf den Tadel ihrer Mutter hin, rennen sie wieder wie zuvor durch das Haus.
Eine schmale Treppe führt direkt vor der Tür nach links oben in das nächste Stockwerk, gleich links von ihr befindet sich der Ofen und in einer kleinen Senke dahinter ein kleiner Esstisch. Das Gemäuer wurde als Teil der Bank genutzt und wirklich Türen gibt es nicht. Am Geländer schlängelt sich eine Topfpflanze entlang, die an der Decke angebracht ist und ein noch größerer Ofen steht unter der Treppe. Rote Glut glimmt in ihm und Ikairi stellt sich wärmesuchend vor ihn. Ein alter Wippstuhl steht rechts in einer Art Wohn- und Schlafzimmer und in diesem Stuhl lehnt sich eine alte Frau. Die Haare weiß und ungekämmt, ihre Augen rot unterlaufen und dunkle Ringe darunter. Aus ihrem Mund dringt ein fremdartiges Geflüster, das beinahe schon bedrohlich wirkt. Plötzlich stöhnt die Frau auf und ihre Hände verkrampfen sich an der Armlehne. Ikairi schreit auf und weicht ein paar Schritte zurück. Die Frau kommt angerannt und entgegnet lachend: „Oh, du hast Bekanntschaft mit meiner Mutter gemacht. Einfach nicht beachten, sie ist verwirrt und weiß nicht wo sie ist.“ Sie stöhnt und wendet sich wieder der Küche zu.
Im Laufe der Zeit wird das Haus durch einem wohlduftenden Geruch beglückt und ein wenig später ruft die Mutter laut: „Das Essen ist gar!“
Zweite Chance
Eine fast undurchdringliche Staubwolke hängt um das Schloss, einige kleiner Steinchen kullern über die Trümmerhaufen. Sonst rührt sich dort nichts, keine Stimme erhellen das Schloss. Die Stimmung ist fas wie die Staubwolke – undurchdringlich und getrübt. Keiner der Mägde, Köche oder Kellner hätte sich ausgemalt, was an diesem Tag hier geschah, als die Fremde zum ersten Mal durch das große Portal der Eingangshalle kam. Zwar wusste Gerschisa Ter’Jall von ihr, doch nicht, dass sie gequält werden würde. Plötzlich rührt sich etwas unter dem Haufen Geröll und Holz und nach wenigen Augenblicken bricht eine Hand und kurz darauf ein Kopf – Robähs Kopf – heraus. Keuchend ringt er nach Luft und hustet darauf hin los. Asche hat sich in seinem Haar verfangen und bedeckt sein Gesicht wie eine Maske. Verwundert schauen die Diener ihn an.
„Na los!“, faucht er sie an. „Worauf wartet ihr? Holt mich endlich hier raus!“ Sofort eilen die Männer und Frauen herbei und hieven Robäh aus dem Haufen und klopfen ihm den Staub von den Kleidern.
„Schon gut!“, zischt er und schleudert die Hände von seinem Körper weg. Etwas erstaunt blicken ihn Untergebenen an, dann stolziert er an ihnen vorbei, die Treppe zu einem anderen Stockwerk herauf. An der ersten Treppenstufe bleibt er stehen, dreht sich zu seinen Sklaven um und raunt sie an: „Wenn ich wiederkomme, will ich, dass alles weggeräumt ist. Benachrichtigt einen Zimmermann, er soll die Schäden beheben. Schafft die Leichen fort und verbrennt sie oder werft sie in den See!“
„Jawohl!“, antworten alle im Chor und greifen nach einigen Gesteinsbrocken auf dem Boden. Keiner wagt es zu Einspruch zu erheben, keiner vergießt nur eine Träne um einen Bekannten oder Angehörigen. Seine Auffassung ist, dass sie froh sein können, nicht bestraft zu werden, weil sie den Aufstand nicht verhindert haben.
An einem Fenster bleibt er stehen und späht hindurch. Er sieht wie Ikairi durch das Tor rennt und weiter zur Stadt hinunter.
„Renn nur, solange du noch kannst. Ich kriege dich noch!“, höhnt er und lacht laut auf, dann setzt er seinen Weg fort, als hätte er nie angehalten, doch das Grinsen auf seinem Gesicht verbreitert sich mit jedem Schritt.
„Was lachst du so!“, fragt eine Frauenstimme. Verwirrt wirbelt Robäh herum, das Antlitz ist erstarrt und die Augen verengen sich zu Schlitzen. In einem Wandspiegel sieht man ihr Schemen.
„Meisterin!“, er verbeugt sich so tief, dass seine Nasenspitze den warmen Boden berührt.
„Steh auf du Hund!“, zischt sie. Blitzschnell erhebt er sich und starrt in den Spiegel.
„So so, du hast also wieder versagt?“, die Bitterkeit in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, genauso wenig wie der Spott, der sich mit dem Zorn vermischt hat.
„Verzeiht mir, Meisterin. Ich werde es wieder gut machen!“
„Wieder gut machen?“, faucht sie und lacht, als sie sich den Sinn des Satzes klar vor Augen führt. „Ich glaube da gibt es nichts mehr wieder gut zu machen. Du hast es versaut!“ Robäh spürt wie eine eisige Kälte aus dem Spiegel dringt und sich um ihn zieht, wie ein Tau einer Falle.
„Meisterin, ich bitte Euch!“, winselt er. Er fühlt wie die Starre seine Glieder lähmt und langsam in den Kopf steigt.
„Was?“, zischt sie. „Willst du noch was sagen?“
„Bitte!“, sagt er durch die vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen hindurch.
Die Taubheit hat bereits seinen ganzen Körper befallen und er merkt, wie er nicht mehr klar denken kann. Ein unlichter Schleier vernebelt seine Augen und er stürzt auf die Knie.
„Bitte!“, fleht er.
„Na gut!“, sagt die Frau und lässt die Kälte verschwinden. Robäh fühlt sich wie ausgequetscht und seine Arme und sein Kopf hengen fast leblos in ihren Gelenken.
„Das ist deine zweite Chance. Eine Dritte wird es nicht geben!“, warnt sie ihn.
„Gefi!“, bedankt er sich. „Wie sieht Euer Plan aus?“
„Mach sie ausfindig und versuche sie zu beseitigen, wenn nicht“, sie lacht tückisch auf. „Wenn nicht wird der Plan folgendermaßen aussehen!“
Mit dem breitesten Lachen, das er je aufgesetzt hat verlässt er das Schloss und steigt in seine Kutsche.
„Wo soll es hingehen, Herr?“
„In die Stadt!“, befiehlt er knapp und die Kutsche setzt sich in Bewegung. Rumpelt fährt sie den mit Kopfstein gepflasterten Weg hinab, durch das Tor hindurch in die Stadt.
Mitternächtlicher Besucher
Den ersten Tag ihres Aufenthalts wird Ikairi der gesamten neunköpfigen Familie vorgestellt. Die alte Frau heißt Geritta, die Frau, die Ikairi so freundlich im Tempel empfangen hat ist Kittera, wird aber von allen nur „Kittí“ genannt. Ihr Mann ist seit einiger Zeit verreist und wird in nächster Zeit nicht mehr kommen, wird ihr erklärt, deshalb folgen die zwei Söhne, jeweils sechszehn und acht. Der Ältere von beiden ist kräftig und groß, hat blondes, mittellanges Haar, das er hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Sein Name ist Junn. Der Jüngere ist frech. Er hat ein bleiches Gesicht mit vielen Sommersprossen, auch er hat blondes Haar, das er aber kurz trägt, er heißt Rochuard. Die fünf Töchter sind jeweils zwischen zwei und fünfzehn Jahren. Die Älteste - Hève - ist nicht gerade sehr hübsch. Durch ein Feuer, das vor einigen Jahren in der Scheune wütete, hat sie schwere Brandwunden im Gesicht von sich getragen, die nur narbig verheilt sind. Nicht nur das Gesicht wurden in Mitleidenschaft gezogen, auch die ehemals zarten Hände sind durch eine dichte Narbenhaut überdeckt. Sie fühlt sich als das hässliche Entlein der Familie und ihre Mutter ist vergebens daran gescheitert, sie in gewisser Weise aufzumuntern.
Die zwei Zwillinge sind fast so schlimm wie Rochuard und sind kaum zu unterscheiden. Ihr Gesicht ist beinahe makellos, nur einige Leberflecke verunstalten das Gesicht in geraumen Ausmaße. Sie heißen Elleh und Linnera. Das Neugeborene schläft in einer Wiege im oberen Stock und Ikairi wurde verboten es zu sehen.
„In einem solchen Alter brauchen Kinder ihren Schlaf!“, gab sie als Erklärung.
Das Abendessen ist so köstlich wie es riecht. Es ist eine sämige Suppe, die aus verschiedenen Gemüsearten, Kräutern und Reis gemacht wird. Das Rezept ist schon seit Generationen im Hausbesitz und in der Stadt sehr begehrt. Viele Nachbarn kommen ab und an vorbei, nur um zu kosten. Den Abwasch erledigen an diesem Tag die Zwillinge, da sie heute besonders ungezogen waren. Sonst sorgt ein Plan für geregeltes Decken und Abräumen des Tisches, was zu dieser Zeit durchaus nicht normal ist, denn in den meisten Haushalten macht noch immer die Frau alles. Vom Putzen übers Kochen bis hin zu der Erziehung übernehmen sie alles, stehen meist so früh auf, dass es selbst noch dunkel ist.
Ikairi fühlt sich geborgen, in solch einer Familie wollte sie schon immer mal sein, auch nur für einen Tag, aber es mal erleben und als wäre ihr Wunsch erhört worden befindet sie sich heute dort, wo sie ist, aber durch welche Höllen ist sie dabei gegangen? Wenn sie zurückdenkt, kann sie sich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein und überhaupt wieder nach Hause zu gelangen.
„So, du bist also auf Durchreise? Was hast du denn schon alles gesehen, von diesem schönen Land?, fragt Kittí jäh und reist sie aus ihren Gedanken.
„Was? Ach so ... ich bin nur in Küstennähe gewesen“, murmelt Ikairi.
„Und was führt dich hier herauf? Das Orakel alleine kann es nicht sein.“ Ikairi überlegt, ob sie ihr von Tinka und Robäh erzählen soll, entscheidet sich aber dagegen. Wer weiß, wie viel diese Frau über die Geschehnisse bescheid weiß?
„Nun ... doch“, lügt Ikairi und bedauert es zutiefst.
„Ach so ... du weiß aber, dass das Orakel zum beantworten der Fragen Zellum verlangt? Und zwar ganz schön viel davon. Wir könnten es uns nicht leisten ihn zu fragen und du siehst auch nicht danach aus“, meint Kittí.
„Ja, aber er bietet doch auch diese Aufgaben an?“
„Natürlich, aber die sind so schwer, dass sie kaum jemand gelöst bringt“, sagt sie und fährt etwas leiser, fast flüsternd fort: „Fast niemand kam lebend wieder heraus!“
„Arbeitest du im Tempel?“
„Ja, gelegentlich. Irgendwie müssen wir uns überm Wasser halten, wenn mein Mann wieder das Weite sucht!“, sie lächelt etwas gezwungen. „Das Orakel spricht meistens in Rätseln und dadurch wird es noch schwere ihn zu verstehen.“
„In Rätseln“, spricht Ikairi ihr nach.
„Ja, vielleicht hängt das mit dieser Prophezeiung zusammen!“, sie lacht laut. Ikairis Herz schlägt bis zum Hals, als sie das Blatt Papier aus ihrer Tasche holt, entknüllt und ihr flach auf den Tisch legt: „Das hier?“ Kittís Lachen verstummt augenblicklich, sie runzelt die Stirn und ihre Augen verengen sich etwas. Dann nimmt sie es in die Hand und verblüfft öffnet sie den Mund: „Woher ...?“, will sie anfangen, doch das Staunen hat sie überwältigt.
„Das Spielt jetzt keine Rolle. Weißt du was dazu?“
„J-ja“, stottert sie und deutet Ikairi an, näher zu rutschen. Flüsternd fährt sie fort: „Was ich damals mitgehört habe, ist, dass es in der ersten Zeile um einen Schlüssel gehen muss.“ Ikairi kramt den Schlüssel aus ihrer Tasche und darreicht ihn stolz Kittí. Sie scheint nicht mehr aus dem Staunen herauszukommen, denn sie jappst nach Luft.
„Du wirst mir langsam unheimlich, Ikairi!“ Diesmal lächelt Ikairi sie an.
„Den Rest des ersten Verses und den zweiten Vers kann ich nicht klar deuten, aber der Dritte hier: Ähm“, mit dem kleinen Finger fährt sie über die Zeilen und nach kurzem Überlegen fährt sie fort: „Es gibt einen Ort, wo jeder Tag die Bäume in voller Blüte stehen. Also die Blütezeit ... aber bald wird man erkennen, dass sie nichts sind außer Räume. Womöglich wird damit gemeint, dass ... ähm ... dass die Räume einem Schutz bieten, aber nicht vollkommen sind. Glaub ich mal!“
„Aha!“, mehr kann Ikairi dazu nicht sagen.
„Und hier, es gibt ein Volk, das wird Mensch genannt. Sie haben diesem Land die Ruhe gegeben.“ Schlagartig wird Ikairi klar, dass es Ingmari ist, sagt jedoch nichts.
„Und hier wird dann das Licht wieder zurückgebracht, aber was das “Mit Dunkel vermischt ... und öffnet dir“ bedeuten soll, weiß ich nicht! Mehr weiß ich leider nicht, tut mir leid!“
„Ist schon gut. Vielen Dank!“, bedankt sie sich bei der Frau und nimmt das Papier wieder an sich.
„Was hast du im Tempel eigentlich mit der Schüssel Reis vorgehabt?“
„Ich hab sie als Opfergabe führ die Götter gegeben, damit unsere Ernte dieses Jahr auch gut ausfällt!“, lächelt sie.
„Hier oben kann man anbauen? Ich hab mich schon gewundert, dass man hier leben kann, aber das ...“ Kittí mustert sie etwas verwirrt, aber ohne sie darauf anzusprechen sagt sie, dass es jetzt besser sei, ins Bett zu gehen und dass sie morgen weitererreden werden. Ikairi muss sich damit abfinden und folgt der Frau in das obere Stockwerk. Die Kinder schlafen schon und nur eine Matratze ist noch frei.
„Hier!“, flüstert sie. Ikairi setzt sich auf die harte Matte. Es ist Stroh in etwas Stoff gekleidet.
„Und wo schläfst du?“
„Noch eins oben dran. Gute Nacht!“, sagt sie und löscht die Kerzen.
Ikairi liegt wach da, die Matte unter ihr ist unbequem, aber was hat sie erwartet? Sie lauscht dem gleichmäßigem Atmen der Kinder und dem leisen Knistern des Feuers, das langsam ausbrennt. Hört das Knacken der Eingangstür, das leise ins Schloss fällt und die Turmglocke, die leise zwölf schlägt.
‚Alles ganz normal’, denkt sie und atmet erleichtert aus, dann fährt sie erschrocken auf. Ihr Herz pocht bis zum Hals, die Augen schreckensweit aufgerissen und die Hand vor dem Mund.
‚Das Knacken des Schlosses?’ Entsetzt richtet sie sich gänzlich auf und sucht im Zimmer auf und ab. Langsam hört sie, wie die Treppe gedämpft knarrt, der zweite Schritt noch ruhiger. Ikairis Herz verkrampft sich, bei der Vorstellung, wer gerade in die zweite Etage kommt und rasch kriecht sie unter einen Nachttisch, rechts von dem Treppenaufstieg. Langsam wird ein schwarzer Kopf sichtbar, der forschend in alle Richtungen schaut. Ikairi zieht die Beine dicht an ihren Körper und wünscht sich sinnlich, in der Wand hinter ihr zu versinken. Die Gestalt geht auf die leere Matratze zu, auf der sie zuvor lag und gemächlich bückt er sich und betastet die Strohmatte.
„Hm-h, noch warm!“, murrt er.
„Robäh!“, jappst Ikairi erschrocken und schlägt sich die Hand auf den Mund. In Gedanken flucht sie und könnte sich dafür schlagen. Er schaut in ihre Richtung, eindringlich. Sie hofft im Stillen, dass er sie nicht sieht und nicht gehört hat. Das Licht ist nur dämmrig, nicht stockduster, denn der Mond scheint schwach durch das Dachfenster. Nach vielen Minuten des Bangens wendet er den Kopf von ihr ab – Ikairi atmet erleichtert auf und sieht mit an, wie er die Betten der Kinder betastet. Einige von ihnen drehen sich zu ihm um und fragen verwirrt: „Mama?“, dann schlafen sie seelenruhig weiter. Nachdem er die Betten ergebnislos durchkämmt hat, schaut er unter die Schränke und Tische nach und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sie gefunden hat.
Er verschwindet hinter einem kleinen Wandabschnitt hinter der Treppe. Ihr Blick wandert zum anderen Ende, doch dort taucht er nicht wieder auf. Verdutzt schaut sie zurück.
‚Wo ist er?’ fragt sie in ihren Gedanken. ‚Er kann doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein!’
Vase
Schon einige Zeit ist vergangen, seit Robäh hinter dem Mauerstück verschwunden ist und Ikairi macht sich Gedanken, ob er vielleicht gegen etwas gelaufen ist, das er übersehen hat und nun ohnmächtig auf dem Boden liegt. Schnell verwirft sie den Gedanken wieder, da sie es für schwachsinnig hält. ‚So dumm kann niemand sein. Oder doch?’ Langsam kriecht sie hinter dem Tischchen hervor, ein lautes Rumpeln über ihr erschrickt sie so sehr, dass sie sich den schmerzhaft den Kopf anschlägt. Jammernd schleicht sie heraus und steht auf. Der Übeltäter für das Rumpel ist ein Beutel, der von der Decke heruntergefallen ist. Langsam lässt sie ihren Blick an der Wand entlang hinauf schweifen und schreit spitz auf. An der Decke klebt er, wie eine Spinne hat er alle Beine und Arme leicht angewinkelt. Höhnisch blickt er auf sie herab, doch Ikairi kommt aus dem Schreien nicht heraus. Die Kinder erwachen dadurch nicht, doch im oberen Stock knarrt es einmal laut auf.
Ikairi drängt sich in die Ecke und Robäh flogt ihr. Langsam zieht er den Dolch aus seiner Scheide und lässt ihn einmal durch die Luft sausen.
„Ikairi, Ikairi, ich hätte nicht gedacht, dass du auf meine Tricks reinfällst!“, er lacht schaurig auf. Schnittwunden ziehen sich über sein Gesicht.
„Ich dachte du seiest tot!“, fährt er fort und lehnt sich an der Wand an, während er etwas Müde die Klinge betrachtet.
„Falsch gedacht“, haucht Ikairi und tritt ihn unsanft in den Bauch. Er krümmt sich kurz und heuchelt nach Luft, doch nach wenigen Augenblicken hat er sich wieder gefangen und blickt sie wutentbrannt an.
„Oh, nicht doch!“, seine Stimme ist angeschlagen.
„Was hast du mit den Kindern angestellt?“
„Ein kurzer Schlafzauber und das war’s!“ Ikairi erinnert sich, wie Tinka es auch bei den Wachen getan hat und schüttelt sich angewidert.
„Du bist schrecklich!“
„Gefi!“, bedankt er sich und lacht. Ihr Groll gegen ihn steigt mit jeder Minute.
„Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“
„Kann ich schon, aber sie will es nicht!“ Er betont das „sie“ über.
„Mir ist egal, was ‚sie’ sagt!“, schreit Ikairi und schaut ihm in seine kalten, blauen Augen, die sich irr nach oben drehen. Ein Röcheln seinerseits, dann sinkt er in die Knie, Scherben liegen überall auf dem Boden zerstreut und hinter ihm Steht Kittí, die ihre Hände noch immer verkrampft, als ob sie etwas in den Händen hält.
„Die schöne Vase, sie war ein Familienerbstück!“, jammert sie und sammelt die Scherben behutsam auf. Robäh, der das Bewusstsein noch nicht verloren hat, funkelt beide böse an und verschwindet, als könne er sich in Luft auflösen. Auch Ikairi bückt sich nach den Scherben.
„Nein!“, faucht Kittí sie an. „Ich kann das schon alleine.“
„Kittí ich wollte ...“, fängt Ikairi an zu erklären.
„Was wolltest du? Mir erklären, dass meine Familie in Gefahr ist? Da kommst du aber früh. Du hättest mir erzählen sollen, dass er hinter dir her ist! Das Gerücht stimmt also!“ sagt sie und wendet sich von ihr ab.
„Bitte glaub mir, ich wollte nicht, dass es so weit kommt!“
„Das hätte dir schon davor klar sein sollen. Warum hast du mir nicht davon erzählt?“, fragt sie vorwurfsvoll.
„Du hättest mich bestimmt wieder aus deinem Haus geworfen.“
„Na jetzt hätte ich wenigstens einen Grund!“, sie legt die Scherben auf den Tisch und kümmert sich um ihre Kinder.
„Na dann geh ich wohl!“, sagt Ikairi mit müder Stimme.
„Nein bleib“, murmelt Kittí plötzlich. „Ich habe mich zu streng aufgeführt!“ Plötzlich umarmt sie Ikairi so fest, dass sie kaum noch Luft bekommt.
„Ich hatte Angst um meine Familie!“, flüstert sie und löst sich daraufhin von Ikairi. „Aber du musst mich jetzt aufklären, was du mit diesem Großteré am Hut hast und warum du wirklich hier heraufgekommen bist.“ Ikairi seufzt vernehmlich, dann, ohne etwas zu sagen, setzt sie sich zurück auf die Matratze und reibt sich die müden Augen.
„Es ist so“, beginnt sie. „Ich komme nicht von hier. Ich wurde auf der Erde, einem fernen Planten geboren und kam durch einen Spiegel hierher.“
„Moment!“, unterbricht Kittí sie. „Das heißt, dass du noch nie auf dieser Welt warst?“
„Genau! Es war alles nur ein dummer Zufall, eigentlich sollte ich nach Ingmari gebracht werden!“
„Und Ingmari ist ...?“
„Ist eine andere Welt!“
„Oh Veru!“, jammert und stöhnt sie. „Das ist mir alles zu hoch! Hier ne Welt und dort ne Welt. Was kommt jetzt?“, fragt sie in einem genervten Ton.
„Jetzt kommt, dass ich zum Orakel muss, um aus dieser Welt nach Ingmari zu gelangen. Dabei hat mir dieser Robäh einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er mit seinen dummen Monstern!“
„Warum?“
„Na dieses Kamataska hat mich verflucht.“
„Es hat dich was?“, schreit Kittí und fängt an, hektisch im Zimmer auf und ab zu laufen. „Was hab ich mir da nur ins Haus geholt!“
„Leider weiß ich nichts über diese Welt und ohne dass ich’s geahnt hätte, mutiert dieses Kamataska.“
„Lass mich raten: Der Großteré ist hinter dir her, weil du, was weiß ich, irgendetwas Besonderes hast?“
„Genau, aber was das Besondere ist, weiß ich nicht.“
„Dann könnte es sein, dass das Gedicht, was du mir gezeigt hast, auf dich bezogen sein könnte?“
„Jetzt wo ich den Inhalt etwas genauer kenne – ja!“ Ikairi und Kittí seufzen gleichzeitig.
„Na gut!“, sagt Kittí, mehr um die Ruhe zu bewahren, als ein neues Thema anzusprechen. „Noch mal ganz langsam ... du willst jetzt sicher zum Orakel, aber weil es erst in zwei Tagen kommt, musst du hier bleiben, um nicht kaltblütig erstochen zu werden? Und wenn ich es richtig verstanden habe, brauchst du Geld, damit das Orakel dir auch die Fragen beantwortet?“ Ikairi nickt. Ihr Gesicht ist bleich und sie zittert am ganzen Leib, obwohl es sehr warm im Zimmer ist.
„Na gut ... mir gefällt es zwar nicht, dass ich mit so viel Welten gegenübergestellt wird, aber ich kann dir wenigstens ein Heim gewähren, solange du es benötigst.“
Der nächste Tag bricht mit Hahngeschrei und das laute Läuten der Tempelglocken an. Ikairi schläft, sie hört zwar, die Geräusche und Stimmen rund um sie herum anschwellen, wie Kittí zum Frühstück ruft, das Kleppern des Geschirrs danach. Sie spürt zwar, wie einige Hände sie zart aus dem Schlaf zu reißen versuchen, doch sie schlägt ihre Augen nicht auf. Das Haus wird von Gerüchen erfüllt, die das Mittagessen ankündigen, doch selbst als zum Essen gerufen wird, wacht sie nicht auf. Zu sehr wurde sie vom Abend mitgenommen, zu weit hat sie die tiefen, längst verheilten Wunden aufgerissen, die ihre Zeit benötigen, um zu vernarben. Nie hat sie gewollt, dass andere Frauen, Männer oder Kinder in ihre Angelegenheiten eingebunden werden, sie wollte nicht, dass auf dem Schloss die vielen Untergebenen sterben und doch ist es geschehen.
Die Zeit ist im Moment ihr tückischster Feind, um ihn zu überwinden, braucht es mehr als nur Raffinesse.
Erst als die Sonne hinter den zerklüfteten Felsen versinkt, die das Plateau in Schatten hüllt, erwacht Ikairi. Langsam treten die ersten Sterne schwach ans Firmament und der Untergang taucht den Himmel in blasses rot und orange.
Verschlafen steigt sie die Treppe hinab, ihr Kopf schmerzt, als hätte ihn jemand in der Nacht mit einem Hammer bearbeitet.
„Oh, guten Morgen, Ikairi. Gut geschlafen?“, empfängt sie Kittí in der Küche. Ikairi brummt etwas unverständliches und schlappt zum Tisch, der zum Abendessen gedeckt wurde.
„Du bist gerade recht aufgestanden. Gleich ist das Essen gar“, sie lächelt ihr zu. Plötzlich erschienen die Zwillinge neben ihr, die sie grinsend beäugen. Ikairi blickt sie mehrmals kurz an, dann fragt sie: „Was ist?“
„Dürfen wir ein Rätsel mit dir machen?“ Ikairi seufzt, dann sagt sie: „Na gut, macht aber schnell!“
„Du musst uns ganz genau zusehen!“, erklärt die Linke, vermutlich Ellah, dann nimmt sie drei Löffel in die Hand und legt sie in einem besten Muster hin.
„Das ist eine Drei!“, erklärt sie weiter.
„Und wie viele Zahlen gibt’s?“
„Zehn!“, mischt sich die Rechte, also Linnera. „Von Null bis Zehn!“
Ellah legt eine weitere Figur, sie sieht aus wie ein Dreieck.
„Das ist ne Fünf.“
So geht das Spiel unermüdlich weiter und nachdem Ikairi bis nach dem Essen nicht draufkommt, erklären sie es ihr.
Ellah legt wieder ein Symbol und mit ihrer Hand, die bei jeder Form auf dem Tisch liegt, was Ikairi aber nicht aufgefallen ist, bildet sie eine beliebige Zahl. In diesem Fall die Vier.
„Es hat eigentlich nichts mit den Löffeln zu tun, nur mit meiner Hand!“, lacht sie.
„Kommt, ab ins Bett jetzt!“, Kittí steht am Türrahmen und schaut ihnen belustigt zu.
Aufgabe I
Die Tage bei der Familie waren für Ikairi wie Balsam, nicht nur für ihre Seele. Nur endeten sie zu schnell, doch dem dritten Tag sehnt sie und verabscheut sie zugleich. Ersehnt deshalb, weil sie endlich mit dem Orakel sprachen kann und verabscheut deshalb, weil ihr die Familie sicherlich mehr fehlen wird, als alles andere. In ihrem Herzen, das weiß sie, ist immer ein Fleckchen für sie frei.
Der Abschied von ihnen verlief sehr gefühlsvoll. Ikairi hat Tränen in den Augen, als alle Mitglieder in Reih und Glied vor ihr standen.
Der Tag ist jung, die Luft kalt und der Himmel wolkenbehangen, doch vor dem Haus strahlt ihre eigene Sonne.
„Es war eine schöne Zeit“, sagt Ikairi und verabschiedet sich bei jedem einzelnen durch eine Umarmung. Viele wünschen ihr viel Glück andere, wie Kittí halten ihr eine Predigt, wie gefährlich es doch sei, die Aufgaben zu bewältigen, die ihr das Orakel aufgeben wird.
Es ist Mittag, als sie die Familie dann endlich verlässt, der Weg vor ihr schlängelt sich unermüdlich den Hang hinauf, bis vor das Tor des Tempels. Sie atmet tief ein und betritt das Gotteshaus. Es ist sehr dunkel und Rauchschwaden schweben ihr entgegen, doch matt erkennt sie einen alten Greisen, der auf einer der Teppiche sitzt. Als sie näher herankommt, hört sie einen summenden Gesang, seine Augen sind verschlossen. Ein langer, weißer Bart fürht vom Kinn bis zum Boden, seine Haut ist faltig und sein Oberkörper nackt. Außer dem Lendenschurz trägt er nur noch einen aufwendig gewickelten Turban auf dem Kopf. Eine rote Brosche befindet sich in Mitten dieser Kopfbedecken und um Höflichkeit Willen, verbeugt sich Ikairi bis zum Boden.
„Steh auf!“, befiehlt eine schwach, gebrechliche, rauchige, doch sehr durchdringende Stimme. Ikairi erhebt sich rasch.
„Was liegt dir auf dem Herzen Kind? Sag es schnell, sag es geschwind.“ Kittí hatte Recht, er spricht wirklich in Rätseln. Nervös beißt sie sich auf die Unterlippe und sagt: „Ich bin hier, um eine Frage zu klären!“
„Du darfst dich erst meld’, wenn du hast Geld!“, reimt er.
„Nun, ich habe nichts, womit ich Euch bezahlen könnte!“, antwortet sie höflich.
„Nun denn, eine Aufgabe ist zu machen, das ist wahr, nicht zum Lachen, aber sag mir deine Frage mehr, damit ich entscheiden kann - leicht oder schwer“
„Ich möchte den Weg aus dieser Welt rausfinden!“ Der alte Mann hebt seine faltige Stirn und kräuselt seinen Mund.
„Nun, hier ist der Start, und komme wieder, dann bekommst du Rat.“ Die Wand hinter ihm schiebt sich knarrend zur Seite und dahinter kommt ein Gang zum Vorschein. Er ist unbeleuchtet und so schnappt sich Ikairi eine der Kerzen, verbeugt sich kurz vor dem Orakel und rennt in den Tunnel.
Die Wachskerze erhellt den Korridor nur sehr spärlich und Ikairi hört schon nach wenigen Schritten auf zu rennen. Hinter ihr schließt sich die Öffnung knarrend – sie ist eingeschlossen. Das meinte Tinka mit „manche kehren nie wieder“! Wenn sie den Ausgang nicht findet, wird sie sich hier ein Grab suchen dürfen, dass sich kalt und feucht zwischen Spinnennetzen, Mäusen und Kot befindet. Bei diesem Gedanken läuft ihr ein eisiger Schauer über den Rücken und sie friert. Sie ist gespannt, welche die erste Aufgabe sein wird. ‚Vielleicht kämpfen und außerdem, wo ist Crépu schon wieder hin? Vorhin war er noch bei mir!’ Sie runzelt die Stirn und seufzt daraufhin. ‚Vermutlich macht er sich mit dem Orakel einen schönen Tag und essen Kekse und trinken Kaffee oder Tee. Ja das passt zu ihm, Hauptsache den Problemen aus dem Weg gegangen oder gar vermieden’. Sie überlegt weiter. Wo war er, als sie von Robäh so urplötzlich überrascht wurde?
Nichts desto trotz geht sie weiter in die Finsternis hinein, bis der Eingang nicht mehr zu sehen ist. Heißer Wachs tropft auf ihre Finger und verursacht Brandblasen und jedes Mal flucht sie leise, wenn wieder ein Tropfen ihre Haut berührt.
Der Tunnelgang windet sich leicht nach links und senkt sich steil bergab. Ikairi muss aufpassen, dass sie auf dem rutschigen Untergrund nicht stürzt. Unter ihren Füßen lösen sich kleine und größere Kieselsteine, die ihr polternd vorausrollen. Ein paar Fledermäuse werden dadurch aufgeschreckt, die laut flatternd ihr entgegen fliegen. Vor lauter Schreck verliert sie ihr Gleichgewicht und das unvermeidliche passiert. Sie fällt hin, schlägt sich das Knie an einem Stein an und rutscht den Tunnel bis ans untere Ende. Sie stöhnt leise, ihre Kerze ist erloschen, ihre Kleidung riecht streng nach Kot und ihre Gliedmaßen schmerzen und brennen, als sei sie hinter einem Zug hergezogen worden.
Langsam rappelt sie sich auf.
„Mist!“, flucht sie. Es dauert einige Zeit bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Der Gang knickt nach rechts ab und Ikairi sieht Licht, das über den Boden zuckt. Fackeln erhellen eine große Halle vor ihr. Dicke Säulen tragen die Decke, die so hoch ist, dass sie mit bloßem Auge nicht sichtbar wird. Ikairi staunt über die gewaltige Macht dieser Halle. Große Holz- und Eisentore sind in die Wände eingelassen worden. Dahinter kann Ikairi ein knurren vernehmen. Hieroglyphen zieren die Wände, zum Teil sehr zerbröckelt. Ikairi tritt näher in den Raum, als eine Stimme durch den Raum schallt.
>>>Das ist deine erste Aufgabe, zeige deine Macht, indem du diesen Kreaturen tötest!<<<
Die Tore öffnen und schwarze Hunde schießen heraus, aus ihren Mundwinkeln dringt Sabber, in ihren Augen ist das pure Böse geschrieben und die Nase und Stirn sind in Falten gelegt. Rasch zieht Ikairi ihr Katana und richtet es auf. Alleine hat sie unmöglich eine Chance gegen etwa ein Duzend dieser Hunde und viel Zeit sich etwas zu überlegen hat sie nicht. ‚Ich soll meine Macht zeigen, indem ich diese Kreaturen töte, aber wie?’ Sie umrundet eine Säule, die ihr die Sicht nimmt und stellt sich den Bestien geradezu schutzlos.
Die Köter preschen an ihr vorbei, ein wütendes Knirschen und ein Biss, der im Nichts landet. Ikairi weicht aus und schlägt ihm etwas ungeschickt die Klinge an seiner Pfote vorbei. Das Wesen winselt und knickt leicht ab und humpelt zurück, doch als der Nächste angreift, ist sie besser vorbereitet und schlägt ihm das Schwert gezielt zwischen die Rippen. Dort wo es zuvor auf den Hinterbeinen steht, wankt es etwas und bricht dann auf den kalten Boden. Ikairi kann es nicht fassen, was sie getan hat. Tiere, die dazu gebracht worden sind zu töten. Kraftlos lässt sie ihr Schwert fallen, die Hunde beäugen sie wütend, doch auf den anderen Moment hin, winseln sie, als könnten sie nichts anderes.
>>>Sehr gut! Du hast sehr schnell begriffen, dass mit töten nicht das körperliche gemeint war. Du hast das Böse aus ihren Seelen vertrieben und dadurch die erste Aufgabe bestanden. Es führt nicht immer Gewalt zum Ziel, am Ende siegt doch die Vernunft<<<
Ikairi begreift und bestätigt mit einem einfachen Kopfnicken. Sie hebt ihr Katana wieder auf, steckt es in die Scheide zurück und wendet sich zum Gehen.
Die Stimme hat Recht, indem was sie sagt. Man darf nicht alles mit Gewalt bekämpfen.
Ein Tor gleitet rasselnd hinauf und lässt sie in einen beschienen Gang ein. Die Wände sind glatt und grau und führt weit hinein, soweit, dass das Ende schon nicht mehr sichtbar ist.
Ikairi ist froh, dass sie die erste Aufgabe überstanden hat und das mit einer Lehre, die sie bis weit in ihre Reise mitnimmt.
Zögernd betritt sie den Korridor und denkt noch lange über die Lehre nach. Den tieferen Begriff hat sie zwar verstanden, aber nicht wahrgenommen. Erst die Zeit, wird ihr das geben, was sie begreift, aber nicht wahrnimmt. Erst die Erlebnisse lehren sie das, was tausend Bücher in zehn Jahren nicht können und erst die Vernunft lässt sie dorthin gehen, wohin sie will.
Aufgabe II
Ein zarter Windhauch fährt durch ihr verkrustetes Harr, spielt sanft mit ihrer Kleidung, als seien sie Puppen. Der Gang läuft schon seit geraumer Ewigkeit stur geradeaus, die Fackeln, links und rechts an der Wand flackern und lassen das Licht tänzeln. Sie kräuselt den Mund ein wenig, etwas ist merkwürdig an diesem Ort. Ist es die Stille, die sie schon seit dem Verlassen der Halle begleitet? Ist es die Ungewissheit, dass sie nicht weiß, was sie als nächstes erwarten wird? Sind es immer noch die Gedanken, die ihr wie ein Orkan durch den Kopf sausen, nach Antworten suchen, diese aber nicht finden? Ist es die Lehre, die sie im Inneren nicht zur Ruhe kommen lässt oder ist es einfach nur eine Eingebung? Seit meint mal kurz das Scharren über Kies hinter sich gehört zu haben, doch als sie sich umdrehte, war dort nichts. Ein beunruhigendes Nichts, wie die Stille.
Sie bleibt kurz stehen, ihr Magen knurrt, sie weiß nicht ob Mittag oder bereits Abend ist. Wieder ein Scharren, diesmal etwas leiser. Ikairi blickt in den Gang, doch als hätte sie es anders erwartet, ist dort wieder nichts. Sie legt ihre Stirn in Falten und läuft los. Ihr Herz pocht, als würde sie schon rennen, schließlich rennt sie auch. Hastet mitten in das Dunkel, dass sie jäh umgibt. Die Fackeln sind verloschen, nur ein beißender Qualm steigt ihr in die Nase. Hastig dreht und wendet sie sich, versucht jedes Geräusch zu hören.
>>>Was machst du dir so Sorgen, Ikairi? Die zweite Aufgabe besteht darin, auf dein Herz zu hören. Finde aus dem Irrgarten heraus, bevor es dich erwischt<<<
„Es? Was ist es?“, ruft sie laut. Wie soll sie auf ihr Herz hören, wenn es sie schon so oft betrogen hat? Verunsichert tastet sie sich an der Wand entlang. Ein Gang führt nach rechts, denn von dort kommt ein kalter Windhauch, der um ihr Ohr säuselt, als versuche er ihr etwas zu flüstern. Will er sagen, hier nicht entlang oder will er sie anlocken? Was wird sie dort erwarten wenn sie hineingeht?
Ikairi seufzt und beschließt weiter voraus zu gehen.
>>>Du willst wissen was es ist? Es ist alles. Es ist nicht es. Es ist eine Frau<<<
Hoffnung ergreift von Ikairi besitz. Die Stimme redet zum ersten Mal mit ihr.
„Warum wird sie dann „es“ genannt?“
>>>Weil sie alles ist<<<
„Und was heißt „alles“?“
>>>Alles, die Wärme und die Kälte, der Tag und die Nacht, das Licht und die Dunkelheit, sie ist das, was Veru und Asul verbindet<<<
„Das Ying und Yang?“, fragt Ikairi.
>>>So in etwa, ja. Doch noch viel mehr. Sie lebt hier, weil sie die Kälte liebt<<<
„Und warum hier unten?“
>>>Sie kommt nur zu bestimmten Tagen hier her. Sie, wird auf Schneebraut genannt<<<
Ein eiskalter Schauer jagt ihr über den Rücken, dann verstummt die Stimme.