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Vergissmeinnicht

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20.05.2007
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Vergissmeinnicht

Mit einem Knall flog die Tür ins Schloss und als sie ins Freie trat spürte sie, wie die letzten Sonnenstrahlen ihre Haut sanft kitzelten. Nachdem sie ihre Jacke wieder aufgeknöpft hatte bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmassen. Es war ein schöner Spätsommertag und offenbar hatte ganz München beschlossen, genau heute DAS Schnäppchen des Sommerschlussverkaufes zu ergattern. Doch sie war nicht unterwegs, um Einkäufe zu tätigen. Als sie durch die Fußgängerzone schlenderte betrachtete sie interessiert die Menschen um sich herum. Da gab es frustrierte Hausfrauen, die von ihrem Leben maßlos enttäuscht waren und mürrisch den Kinderwagen durch Münchens Einkaufspassagen bugsierten - oft noch ein quengelndes Kleinkind im Schlepptau. Außerdem sah man Geschäftsleute, gekleidet in Anzug und Krawatte, die mit wichtigtuerischer Miene voranschritten und alle paar Minuten einen Blick auf ihre Rolex warfen. Das krasse Gegenteil dazu bildeten ein paar Punker mit zerrissenen Jeans, bunten Haaren und gepiercten Ohren, die die Passanten um ein paar Euro anschnorrten. Von irgendwoher erklang Beethovens 9. Symphonie und als die letzten Töne verklungen waren, wurde dem Straßenmusiker für seine Darbietung mit Applaus gedankt. Sie setzte ihren Weg fort und auf dem Stachus erblickte sie eine japanische Reisegruppe, die in bayrischer Tracht vor Mc Donalds posierte, offensichtlich hoch erfreut, ein "typisch deutsches Restaurant" gefunden zu haben.

Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie war in dieser Stadt aufgewachsen und mittlerweile kannte sie sie wie ihre eigene Westentasche. Als sie noch klein war, waren ihre Eltern oft mit ihr aufs Land zu Verwandten gefahren. Dort gab es Schweine, Hühner, Schafe und sogar Pferde. Tiere die man sonst nur im Fernsehen sah oder auf Bildern bewundern konnte. Doch im Gegensatz zu ihrer Schwester konnte sie sich nie wirklich für das Landleben begeistern. Stefanie war mittlerweile sogar aufs Land gezogen, in ein kleines Dorf namens Mauern. Doch sie war ein Stadtmensch geblieben - mit Haut und Haaren. Oft suchte sie nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag voller klingender Telefone und nervender Kollegen eines der zahlreichen, kleinen Straßencafes auf, bestellte einen Kaffe oder ein Stück Kuchen und genoss einfach die Großstadtatmosphäre. Die hell erleuchteten Straßenlaternen und Geschäftsfassaden, die vielen Menschen und der Kellner, der sie immer wieder höflich fragte, ob sie noch etwas bestellen möchte. Sie liebte diese Momente. Es gab eigentlich nur eine Sache, die ihr am Großstadtleben missfiel.

An den Wochenenden, wenn sie mit ihrer besten Freundin durch Münchens Läden spazierte, traf sie immer öfter auf Menschen, die von den Medien als "Neonazis" und "Rechte" bezeichnet wurden. Wenn man den Zeitungen Glauben schenkte, dann versammelten sich immer öfter die "Rechten" aus ganz Bayern, oft sogar aus dem benachbarten Ausland, in der bayrischen Landeshauptstadt. Dort hielten sie dann ihre Kundgebungen ab, sie verteilten beispielsweise Flugblätter oder zogen laut lärmend durch die Münchner Innenstadt. Ganze Stadtteile mussten wegen ihnen stundenlang gesperrt werden und der Einsatz von Polizisten, die angeheuert wurden, um Krawalle zwischen Rechten und Gegendemonstranten zu verhindern, kostete den Staat Millionen, Geld dass ihrer Meinung nach sinnvoller eingesetzt werden könnte. Sie hatte zwar nicht viel Ahnung von Politik und sie war auch noch nie auf einer Gegenkundgebung gewesen, aber sie konnte nicht verstehen, warum man das Geld nicht in etwas anderes, wie z.b. Schulen oder Kindergärten investierte und diese Demos einfach verbot. Und außerdem, was wollten diese Rechten eigentlich erreichen? Hatte nicht vor über 60 Jahren schon einmal jemand versucht, die Welt zu erobern und dabei ganz Deutschland zerstört? Und genau diesen Mensch schienen die heutigen Nazis zu verherrlichen und nachzueifern. Sie hatte schon Bilder von ihren Veranstaltungen in den Nachrichten gesehen. Wenn "der Führer" noch gelebt hätte, wären die Skinheads sicher eine wahre Freude für ihn gewesen. Die meisten hatten kahlgeschorene Köpfe und trugen Bomberjacken und Springerstiefel, auf denen oft noch das Blut der letzten Schlägerei klebte. Sie schienen "Rudeltiere" zu sein, denn auch wenn sie beim Einkaufen zufällig auf einen von ihnen traf, war dieser niemals ohne gleichgesinnte Kameraden unterwegs. Dann gab es noch den Anführer, der dem Bild des deutschen Biedermannes schon sehr nahe kam. Meist trug dieser einen teuren Anzug, saubere Schuhe und die oft schon ergrauten Haare waren fast immer nach Vorbild Hitlers zu einem Scheitel gekämmt. Der alleinige Anblick solcher Menschen ließ sie, selbst bei diesen Temperaturen, leicht frösteln.

Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht: Den städtischen Friedhof. Lucas... Leise, um die anderen Trauernden nicht zu stören, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie wusste genau, wohin sie ging, denn sie war diesen Weg in den letzten Tagen schon mehrmals gegangen. Der kleine Pfad war von alten Bäumen umgeben und dank der hohen, steinernen Friedhofsmauer drang kaum Autolärm an ihr Ohr, nur Vogelgezwitscher und hin und wieder ein verhaltenes, leises Schluchzen. Für einige Momente blieb sie stehen um Kraft zu tanken, für das, was jetzt kommen würde. Da kam ihr eine Zeile aus einem ihrer Lieblingslieder in den Sinn. Es stammte von den "Toten Hosen" und der Text passte wie die Faust aufs Auge: "Ich mag die Ruhe hier zwischen all den Bäumen, als ob es den Frieden auf Erden wirklich gibt. Es ist ein schöner Weg, der unauffällig zu dir führt. Ja, ich habe ihn gern, weil er so hell und freundlich wirkt." Leise summte sie die Melodie während sie vorwärts schritt. Da sah sie sein Grab. Wie schon die Male zuvor überkam sie bei diesem Anblick ein Gefühl der Ohnmacht. Jeden Tag wurden brutalere Waffen erfunden, um noch mehr Menschen in den Tod zu reißen, neue Computer und Autos wurden der Menschheit präsentiert, aber ein Mittel, um Tote wieder lebendig zu machen, hatte noch niemand entdeckt. Sie wusste, dass dieser Gedanke kindisch war, aber trotzdem verbitterte er sie. Traurig zündete sie eine Kerze an, legte einen Blumenstrauß auf sein Grab und während sie nachdenklich in die lodernde, helle Flamme starrte dachte sie an dem Moment, an dem sie Lucas zum ersten Mal begegnet war.

Es war einer dieser heißen Sommertage und ganz Deutschland war im Fußballfieber, denn zurzeit "gastierte" die WM im eigenen Land. Mit Fahnen bestückte Autos fuhren hupend durch die deutschen Straßen und auf den Fanmeilen fielen sich nach Schlusspfiff wildfremde Menschen in die Arme, die sich noch nie zuvor begegnet waren. Sie machte sich zwar nicht viel aus Fußball, doch ihr gefiel, dass die Menschen sich alle vor die Bildschirme verzogen hatten, und sie nun in den beinahe leergefegten Schwimmbädern Schutz vor der Hitze fand, ohne dass ihr ständig jemand auf das Handtuch trat. Doch an diesem Nachmittag hatte sie sich mit ihrer Freundin Jasmin in "Luigis Eisparadies" verabredet. Jasmin war noch nie die Pünktlichste gewesen und auch heute schien sie sich wieder einmal zu verspäten. Gerade fragte sie sich, ob Jasmin wie üblich einfach ihren Schlüsselbund verlegt hatte oder ob ihr vielleicht etwas zugestoßen war, als jemand sie von hinten antippte. Sie wollte schon aufspringen und Jasmin wie immer, mit Küsschen links und rechts begrüßen als sie erschrocken zurückwich. Sie starrte in ein fremdes Gesicht. Es war ein Männergesicht, das ihr aber keinesfalls unsympathisch war. "Ja" fragte sie unsicher, und ein ungesagtes "Kenn ich dich?" schwang deutlich mit. "Hi, ich bin Lucas", antwortete er, "darf ich mich an deinen Tisch setzen?" Sie nickte nur. Schweigend starrten sie sich einige Augenblicke an, dann deutete sie auf seine Tasche, aus der einige Blätter ragten. "Was ist da drin?". Im gleichen Moment hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Musste sie immer so neugierig sein? Doch falls Lucas über ihr Verhalten ärgerlich war, ließ er sich das nicht anmerken. "Flugblätter", meinte er nur "Flugblätter?" Sie konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Lucas nickte und nachdem einige Minuten verstrichen waren, ohne dass einer von ihnen irgendein Wort sagte, nahm sie all ihren Mut zusammen und erkundigte sich bei ihm, warum er sich denn nun an ihren Tisch gesetzt habe, wo es doch noch genügend freie gäbe. Er lächelte schüchtern und erwiderte: "Ich fand dich sympathisch irgendwie... Und mein Kumpel hat sich verspätet und da dachte ich..." "Geht mir genauso", platzte es aus ihr heraus, "meine Freundin Jasmin..." Sie wollte schon anfangen, sich über ihre Freundin zu beklagen, doch er unterbrach sie. "Hey, wahrscheinlich waren die U-Bahnen einfach zu überfüllt. Du weißt ja... Fußball und so... Ich mach mir zwar nichts aus Fußball, aber im Radio haben sie vorhin irgendsoetwas durchgegeben." "Ich kann auch nicht verstehen, was alle so interessant finden an 22 verschwitzen Männern, die einem Ball nachrennen." Sie grinsten sich an und damit war das Eis gebrochen. In dem Moment piepste ihr Handy und teilte ihr mit, dass sie gerade eine SMS erhalten hatte. Sie war von Jasmin, die ihr mitteilte, dass sie leider nicht kommen konnte In ihrer Straße hatten sich nämlich tausende Menschen versammelt, die gerade aus dem Olympiastadium kamen und den Sieg der deutschen Mannschaft über Costa Rica feierten. "Arme Jasmin", dachte sie ein wenig schadenfroh und musste grinsen. Lucas blickte sie fragend an. "Ach, das war nur Jasmin. Du weißt schon, meine Freundin, von der ich dir vorhin erzählt hab." "Ja, was ist mit ihr?" "Kann nicht kommen, vor ihrem Haus hat sich eine Horde verrückter Fußballfans versammelt." Seufzend ließ sie sich auf den Barhocker fallen und löffelte gedankenverloren Schokoeis in ihren Mund. Erst als der Eisbecher beinahe leer war blickte sie wieder auf - direkt in Lucas' Gesicht. Doch der beachtete sie gar nicht - denn er tippte gerade hektisch etwas in sein Handy. "Was machst du da?" Ihre verdammte Neugier! "Teil Robin nur mit, dass das mit unsrem Treffen nichts mehr wird. Wir wollten eigentlich ins Kino... Das Omen. Aber so, wie ich den kenne, ist der gerade schwer am Feiern. Ist nämlich ein Fußballfan." Mittlerweile hatte sie den Eisbecher, mit dem nun geschmolzenen Eis, leer geschlürft und wollte schon einen Kellner zum Bezahlen rufen, als Lucas ihr tief in die Augen blickte. "Nur mal eine rein hypothetische Frage: Was würdest du antworten, wenn ich dich fragen würde, ob du Lust hast, heute Nachmittag was mit mir zu unternehmen?" "Nun ja, da mein besseres Date abgesagt hat, würde ich mich über ein wenig Aufmunterung freuen", antwortete sie keck. Freudig nahm er seine Tasche mit den Flugblättern und die beiden verließen "Luigis Eisparadies": Es wurde ein schöner Nachmittag und hinterher fragte sie sich sogar, ob er mit Jasmin genauso schön geworden wäre. Händchenhaltend schlenderten sie durch die Münchner Innenstadt; sie lachten, wenn sie einen besonders auffällig-kostümierten Fan begegneten und als Lucas in seiner Tasche ein altes, längst vergessenes Brot hervorkramte machten sie einen Abstecher in den Englischen Garten, wo sie die Enten fütterten. Lucas war anders als jeder Mann, dem sie zuvor begegnet war. Er war ein exzellenter Zuhörer und sie unterhielten sich stundenlang über Musik, Familie, Freunde, den neuesten Kinofilm, nur über die ominösen Flugblätter fiel kein Wort mehr. Es hätte ewig so weitergehen können. Nachmittage voller Schwimmbadbesuche, Einkaufstouren, langer, intensiver Gespräche und abends dann gemütliche Videoabende, bevor sie glücklich in seinen Armen einschlief. Nur sie beide. Nur Lucas und sie. Doch dann kam alles ganz anders...


Mittlerweile hatte das Wetter umgeschlagen und Regen durchnässte ihre Jacke. Rasch knöpfte sie sie wieder zu und warf noch einen letzten Blick auf den Grabstein, bevor sie sich auf den Heimweg machte. "Lucas Berger" war in schwarzen Marmor eingemeißelt "geboren am 13.03.1980, gestorben am 5. Juli 2006". Darunter konnte man einen Engel sehen, der eine Schriftrolle in der Hand hielt, auf der stand: Viel zu früh wurdest du aus unserem Leben gerissen. R.I.P. "Machs gut, Lucas", flüsterte sie leise und Tränen kullerten aus ihren Augen und vermischten sich mit den Regentropfen. Doch sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.


Als sie ihr Zuhause erreicht hatte war die Nacht über München hereingebrochen. Sie öffnete die Wohnungstür und als sie hineintrat stolperte sie beinahe über einen Korb mit Altpapier und einen Mülleimer. Sie schlüpfte aus ihrer Jacke aber machte sich nicht die Mühe, ihre Schuhe auszuziehen. Selbst, dass diese kleine Wasserpfützen auf dem Parkettboden hinterließen, schien sie nicht zu stören. Erschöpft ließ sie sich aufs Sofa fallen und blickte sich in dem Zimmer um, dass einmal ihr Wohnzimmer gewesen war. Doch nun stapelte sich Geschirr auf schmutzigen Klamotten und auf dem Fenstersims hatte sich eine dicke Staubschicht gebildet. Sie war in letzter Zeit einfach nicht zum Putzen und Aufräumen gekommen, ihre Gedanken drehten sich um andere Dinge. Auf dem Couchtisch lag ein Zettel. Als sie ihn in die Hand nahm zitterte sie leicht. Es war ein Zeitungsartikel und vom vielen Lesen kannte sie ihn mittlerweile beinahe auswendig. Wie in Trance sprach sie leise mit als ihre Augen über das Papier huschten.


München. Am gestrigen Abend wurde der 26 - jährige Student Lucas Berger in eine Auseinandersetzung mit fünf Skinheads verwickelt und erlitt dabei schwere Verletzungen. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Bei der Suche nach den Tätern tappt die Polizei weiterhin im Dunkeln. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Einundfünfzig Wörter. Nie hatte sie geahnt, wie viel einundfünfzig Wörtern bedeuten können. Einundfünfzig Wörter mit denen ein Leben für immer zerstört werden kann. 51 Wörter und ein Menschenleben war für immer ausgelöscht. Lucas...Ihr Lucas.


In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und Alpträume plagten sie. Vor ihrem inneren Auge spielten sich grausame Szenen ab. Stiefeltritte, ein Schlagring, der Lucas im Gesicht traf, ein gellender Schmerzenschrei, dem hämisches Gelächter folgte und ein Stoßgebet an Gott, dass er ihn von all den Qualen und Schmerzen erlöse. So ungefähr mussten die letzten Augenblicke in seinem Leben verlaufen sein. Sein letzter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Sie selbst wünschte sich, dass ihr Leben eines Tages ein schöneres Ende finden würde. Am besten als alte Frau, die ein glückliches und erfülltes Leben gehabt hatte, und dann friedlich, mit einem Lächeln im Gesicht, in ihrem Schaukelstuhl für immer einschlief Sie konnte einfach nicht glauben, dass Lucas Leben so ein grausames Ende gefunden hatte und deshalb wollte sie wissen, wie seine letzten Minuten wirklich verlaufen waren, wie sein Gesichtsausdruck war, ob er große Angst gehabt hatte oder sogar noch ein paar Worte an seine Angehörigen gerichtet hatte. Und es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.


Am nächsten Tag stand sie früh auf. Sie zwang sich ein Rosinenbrötchen hinunterzuschlingen, obwohl sie eigentlich keinen Hunger verspürte. In den letzten Tagen hatte sie fast nichts gegessen. Bevor sie sich auf dem Weg machte, nahm sie sich fest vor, heute Abend ein wenig Ordnung in ihr Zimmer zu bringen. Doch zuvor musste Ordnung in ihr Leben gebracht werden.. Sie nahm die S-Bahn in Richtung Schwabing, einen Münchner Stadtteil. Ihr Ziel war das Schwabinger Klinikum, eines der besten Krankenhäuser von ganz Bayern. Die Rosenbeete die das Haus umgaben, die großen Fenster und die Sonnenschirme, unter denen sich Menschen versammelt hatten ließen das Haus vielmehr wirken wie ein Museum oder ein kleines Hotel, als ein Platz, wo über Leben oder Tod entschieden wurde. Bevor sie das Spital betrat kramte sie in ihrer Jackentasche und endlich fand sie das, was sie gesucht hatte. Es war ein zerknüllter Zettel auf dem nur zwei Worte standen: Adil Eusebio. Zufrieden öffnete sie die Eingangstür und sofort schlug ihr der typische Krankenhausgeruch in die Nase. Es roch steril und nach allen möglichen Medikamenten. Zögernd trat sie zum Empfangsschalter und reihte sich in die Schlange ein. Die Empfangsdame schien angesichts der vielen Menschen, die sie bedrängten, heillos überfordert, aber sie versuchte trotzdem ruhig und höflich zu bleiben. Während sie zuhörte wie Frau Miller (der Name stand auf einem kleinen Schild) versuchte, einen älteren, aufgebrachten Mann zu besänftigen, sprach sie sich selbst Mut zu. Sie hatte Adil noch nie gesehen, noch niemals seine Stimme gehört aber dennoch war er schon mehrmals ihn ihren Träumen erschienen. Endlich war sie an der Reihe. "Können sie mir sagen in welchem Zimmer er liegt?" erkundigte sie sich und reichte Frau Miller den zerknüllten Zettel. Sie warf einen kurzen Blick darauf, gab etwas in ihrem Computer ein und nickte. "Zimmer 212, dritter Stock". Sie deutete mit ihrer Hand auf den Aufzug. Doch sie entschloss sich gegen den Aufzug und für die Treppe. So hatte sie noch etwas Zeit, sich auf das, was jetzt kommen würde mental vorzubereiten.

Zimmer 212. Als sie den Gang entlang kam sah sie, wie eine Krankenschwester im weißen Kittel aus dem Zimmer trat und ihr zunickte. Leise, nicht wissend, was sie erwarten sollte, klopfte sie an die Zimmertür. Als ein leises "Herein" erklang trat sie ein. Ein ohrenbetäubendes Maschinenpiepen erfüllte den Raum. Dann sah sie ihn. Er lag in einem Krankenhausbett und langsam drehte er den Kopf in ihre Richtung. Sie merkte, wie seine dunklen Augen sie anstarrten und er versuchte ihr Gesicht einzuordnen.. Auch sie betrachtete ihn aufmerksam. Sein Haar war kraus und seine schwarzen Augen passten zu seiner dunklen Haut. Er trug eines dieser Krankenhaushemden und an seiner Brust klebten Elektroden, die seinen Herzschlag überwachten. Doch das Auffälligste waren die tiefen Schnittverletzungen an seiner Brust und die blauen Flecken, die sein Gesicht zierten. Schüchtern lächelte sie an und er lächelte zurück. "Du bist eine Freundin von Lucas, oder?" fragte er mit französischem Akzent. "Ja, woher weißt du das und woher hast du deinen Akzent?" Er grinste sie an: "Lucas Eltern waren vor kurzem auch schon da und da ich dich nicht kenne hab ich einfach eins und eins zusammengezählt. Und meinen Akzent hab ich, weil Französisch eigentlich meine Muttersprache ist. Viele Länder Afrikas waren nämlich früher französische Kolonien. Meine Familie kommt übrigens aus Kongo aber die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Deutschland verbracht." Sie setzte sich auf einen Stuhl, der neben seinem Bett stand. Vor ihr, auf dem kleinen Tisch, standen eine Blumenvase und eine geöffnete Pralinenschachtel. "Entschuldigung, dass ich dir kein Geschenk mitgebracht habe... Aber...". "Ist nicht so schlimm. Mir sind Menschen, die mich besuchen und aufheitern wollen tausendmal lieber als Blumen, die sowieso irgendwann verwelken. Freundschaften hingegen können für immer halten. Ach übrigens, bedien dich." Er deutete auf die Pralinenschachtel und dankbar griff sie zu. Erst jetzt bemerkte sie, was für einen Hunger sie hatte.

"Kanntest du Lucas gut?" wollte Adil wissen. Sie schluckte hastig die Zartbitter Praline hinunter und antwortete dann: "Wir kannten uns eigentlich erst seit einem Monat. Haben uns zufällig in einer Eisdiele getroffen. Aber in diesem Monat haben wir echt viel unternommen. Ich dachte, dass ich ihn richtig kennen würde. Aber einiges habe ich erst nach seinem Tod von einer Polizistin erfahren. Zum Beispiel, dass er sich dafür eingesetzt hat, Ausländer besser zu behandeln. Hat sogar Reden auf Demos gehalten und so..." Die Trauer überwältigte sie und sie musste für einige Sekunden innehalten und tief einatmen. "Am 5ten Juli haben wir uns zum Brunch bei mir verabredet. Ich war gerade dabei den Tisch zu decken. Es sollte ein gemütliches Frühstück werden. Er wollte noch Brezen und Semmeln vom Bäcker mitbringen und ich hatte gerade das Wasser für den Kaffee erhitzt als es an der Tür klingelte. Ich dachte natürlich, dass es Lucas sei und voller Vorfreude öffnete ich die Tür, doch vor mir stand eine Polizistin. Sie wollte wissen, ob ich die Freundin von Lucas Berger sei, was ich bejahte. Da meinte sie, ich sollte mich setzten und erzählte mir, dass Lucas am gestrigen Abend von ein paar Skinheads brutal ermordet wurde und dass sie einen Brief in seiner Tasche gefunden hatten, der an mich adressiert war. An dieser Stelle schrie ich auf und sie legte mir tröstend den Arm um die Schulter. Ich wollte noch mehr Details wissen, aber sie wusste nur noch, dass die Polizei davon ausging, dass die Täter, durch das Fußballspiel zwischen Deutschland und Italien am Abend zuvor, vom Hass entbrannt, Jagd auf Menschen machten, die nicht ihrem Idealbild entsprachen. Es gab zwar Zeugen, aber da die Täter maskiert waren und man sie nur wegen ihrer Bekleidung der Skinhead Szene zuordnete, konnten sie bisher nicht identifiziert werden." "Und dann passierte es", unterbrach sie Adil. "Es war ziemlich spät und ich kam gerade von einer Fanmeile, als diese Idioten auf mich losstürmten und meinen Geldbeutel verlangten. Sie meinten, ich sei reich, weil ich angeblich Steuergeld vom deutschen Volk kassieren würde, dabei bin ich Student und finanziere mir meinen Lebensunterhalt durch Nachhilfe. Als ich ihnen kein Geld geben wollte, wurden sie wütend und schlugen auf mich ein. Ohne Lucas Hilfe wäre ich wahrscheinlich gestorben, doch durch sein mutiges Eingreifen habe ich überlebt." Eine lange Stille erfüllte den Raum. "Darf ich dich was fragen?" Sie nickte nur. "Was stand in dem Brief drin? Ich meine... Und woher weißt du, wie ich heiße und in welchem Krankenhaus ich bin?" "Deinen Namen und alles weitere hab ich von der netten Polizistin. Hat sich wohl gedacht, dass ich vielleicht wissen möchte, für wen mein Freund sein Leben geopfert hat. Und den Brief hab ich bis jetzt nicht geöffnet. Hab mich irgendwie nicht getraut... das ist er übrigens". Sie nahm ihn in die Hand und fuhr über das Papier, auf dem in einer krakeligen Handschrift ihre und Lucas Adresse notiert waren. Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, drückte sie ihn in Adils Hand. "Öffne du ihn!" flehte sie ihn an. "Was?" erwiderte dieser erstaunt. "Ich habe nicht das Recht dazu und außerdem..." "Bitte... Ich schaff es nicht." Sie weinte fast. Also öffnete Adil ihn vorsichtig und achtete darauf, ja kein Stück Papier einzureißen. "Soll... Soll ich ihn auch vorlesen?" "Ja, bitte..."

"Hallo Hase..." Adil errötete leicht doch sie forderte ihn auf, weiterzumachen." Wie geht es dir? Der Abend mit dir gestern war wirklich schön. Ich hoffe, du hast die Rotweinflecken aus deiner Bluse rausbekommen. Entschuldigung nochmal... Warum ich dir eigentlich schreibe ist aber..." Adil las den ganzen Brief vor und sie verinnerlichte jedes einzelne Wort. Als er geendet hatte herrschte Schweigen. Sie dachte über Lucas und dessen letzte Worte nach. Er hatte ihr gestanden, dass er für einige Jahre nach Afrika gehen wollte um beim Aufbau von Schulen und Krankenhäusern zu helfen. Lucas war so ein selbstloser Mensch gewesen. Auch Adil standen Tränen in den Augen und sie konnte sich denken warum. Auch wenn er die meiste Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht hatte, so war Afrika seine wahre Heimat geblieben, er hatte viele Verwandte dort und deshalb wusste er genau wie sie, dass es dort an freiwilligen Helfern fehlte. Auf einmal erhob sich Adil und auf Krücken gestützt kam er zu ihrem Stuhl und umarmte sie. So saßen sie minutenlang und versuchten sich gegenseitig aufzubauen. Irgendwann kam eine Schwester ins Zimmer, stellte lautlos das Mittagessen auf den Nachttisch und erst, als sie aus dem Fenster blickte bemerkte sie, dass der Himmel sich verdunkelte. Leise stand sie auf.

"Ich glaube, ich gehe dann mal. Hab nämlich keinen Regenschirm dabei." Sie versuchte zu lächeln, doch es missglückte. Nachdem sie sich zu Adil hinuntergebeugt hatte und ihn umarmte trat sie auf den Krankenhausflur. Doch plötzlich humpelte Adil auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. "Man sieht sich immer zweimal im Leben." flüsterte er ihr ins Ohr. Fünf Minuten später, als sie gerade aus dem Krankenhaus trat und vom Herbstregen empfangen wurde hatte sie das Gefühl, dass das der Beginn einer wunderbaren und langen Freundschaft werden könnte. "Danke Lucas", flüsterte sie leise.

 
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Das ist meine erste Kurzgeschichte, die ich fertiggestellt habe. Ich bin zwar ein Mensch, der viele Ideen hat und dem Schreiben Spass macht, aber irgendwie verwerfe ich meine Ideen immer so schnell...:hmm: Naja...Ich weiß nicht, ob es für eine Kurzgeschichte nicht zu politisch ist, aber als ich das schrieb haben wir das Thema "Skinheads" gerade in Sozialkunde besprochen und irgendwie hat mich das nachdenklich gemacht und ich wollte was darüber schreiben...:Pfeif:
Und ich würde mich sehr über Vorschläge freuen, was ich an meinem Schreibstil noch verbessern kann. Frei nach dem Motto: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen...;)

 

Hallo Midnight!

Erstmal schicke ich dir ein herzliches Willkommen auf kg.de. (Und lass dich nicht vom Schreiben abhalten, bloß weil sich in dem vergangenen Monat keiner die Mühe gemacht hat, dir einen Kommentar zu schreiben.)

Grundsätzlich zum optischen Eindruck: Absätze hast du schon drin, aber du solltest zusätzlich noch Zeilenumbrüche einbauen, um die Lesbarkeit am Bildschirm zu erhöhen. Besonders bei den Dialogen ist das ratsam (aber nicht nur dort), hier ein Beispiel:

Deine Variante:
Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, drückte sie ihn in Adils Hand. "Öffne du ihn!" flehte sie ihn an. "Was?" erwiderte dieser erstaunt. "Ich habe nicht das Recht dazu und außerdem..." "Bitte... Ich schaff es nicht." Sie weinte fast. Also öffnete Adil ihn vorsichtig und achtete darauf, ja kein Stück Papier einzureißen. "Soll... Soll ich ihn auch vorlesen?" "Ja, bitte..."

Lesbarer ist es so:
Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, drückte sie ihn in Adils Hand. "Öffne du ihn!" flehte sie ihn an.
"Was?" erwiderte dieser erstaunt. "Ich habe nicht das Recht dazu und außerdem..."
"Bitte... Ich schaff es nicht." Sie weinte fast.
Also öffnete Adil ihn vorsichtig und achtete darauf, ja kein Stück Papier einzureißen. "Soll... Soll ich ihn auch vorlesen?"
"Ja, bitte..."
=> Immer eine neue Zeile, wenn der Sprecher wechselt.

So, jetzt zum Text:

Eine Menge Kommafehler sind drin, die werde ich dir nicht alle aufzählen, hier nur zwei Beispiele:
"Nachdem sie ihre Jacke wieder aufgeknöpft hatte bahnte sie sich einen Weg durch die Menschenmassen." => Komma nach hatte.
"Öffne du ihn!" flehte sie ihn an. => Komma nach der wörtlichen Rede (immer, wenn der Satz weitergeht).

"genau heute DAS Schnäppchen" => Betonungen machen sich besser, wenn sie kursiv gesetzt werden und nicht in Großbuchstaben stehen.

"eine japanische Reisegruppe, die in bayrischer Tracht vor Mc Donalds posierte, offensichtlich hoch erfreut, ein "typisch deutsches Restaurant" gefunden zu haben." => Sorry, aber der Gag wurde schon irre oft niedergeschrieben.

Allgemein, der erste Absatz: Du beschreibst. Nur das. Für den Leser ist das langweilig, er möchte wissen, worum es in dem Text geht. Gibt dem Leser irgendetwas, das ihn zum Weiterlesen animiert.

Auch der zweite Absatz strotzt vor Beschreibungen. Allerdings macht der letzte Satz neugierig, das ist gut.
Und: Deine Protagonistin braucht einen Namen. "Sie" ist für den Leser niemals so interessant wie es eine Sarah, Melanie, Claudia oder sonst wer wäre.

Der dritte Absatz: Wieder nur eine Beschreibung, ein Aufzählung, was die Rechten angeblich so tun oder meinen, u.s.w. Interessant wäre es, wenn du eine Szene einer Begegnung deiner Protagonistin mir einem oder mehreren Rechten aufzeigst. Im der Fachliteratur nennt man diesen Ratschlag: Show, don't tell.

Vierter Absatz: Beschreibungen. Der letzte Satz macht Hoffnung auf eine Szene (also eine szenische Darstellung der ersten Begegnung).
Übrigens: Sorry, aber wenn du im dritten Absatz über die Rechten schreibst, und im vierten Absatz über den verstorbenen Freund, ist es ziemlich offensichtlich, dass sich dieser Freund mit den Rechten angelegt hat, und dann von ihnen umgebracht wurde. So eine Voraussehbarkeit der Geschichte langweilt die Leser.

Fünfter Absatz: Hurra, eine Szene. Nun ist allerdings der letzte Satz so etwas wie ein Holzhammer. Sie sind so glücklich, aber: "Doch dann kam alles ganz anders..." => Das muss nicht sein, das hat der Leser durch die ersten Absätze ohnehin schon kapiert.

Sechster Absatz: Hier hatte ich leichte Probleme zu folgen, da du den Text in der Vergangenheit schreibst, beim Zurückerinnern im letzten Absatz aber nicht in die Vorvergangenheit gewechselt bist. Dass du nun wieder in deiner Erzählzeit bist, ist nicht sofort zu erkennen.

Im siebten Absatz passiert eigentlich gar nichts. Ein Zeitungsartikel taucht auf. Aha.

Der achte Absatz ist dieser Zeitungsartikel. Und der Leser konnte sich ja ohnehin schon denken, was passiert war.

Neunter Absatz (ein Alptraum) mit einem Cliffhanger als letztem Satz.

Zehnter Absatz: Nun weiß der Leser absolut nicht, was passiert. Was will sie im Krankenhaus, woher hat sie den Zettel mit dem Namen u.s.w. Ich persönlich kann so eine Erzählweise nicht leiden, die die Spannung nur dadurch erzielt, dass zuvor Informationen weggelassen wurden.

Elfter Absatz: Nur Beschreibungen, aber keine Erklärungen. Im Grunde könnte man den Absatz fast ganz streichen. (Den gesamten Text könntest du mindestens um die Hälfte kürzen, ohne inhaltlich etwas zu verlieren.)

Im zwölfen Absatz wird ziemlich viel erzählt, um nicht zu sagen gelabert. Würden sich zwei Menschen wirklich auf diese Art und Weise unterhalten? Ich denke nicht, sorry.

Dreizehnter Absatz: "Adil las den ganzen Brief vor" => Aber nicht dem Leser.
"Lucas war so ein selbstloser Mensch" => Ja, das erzählst du, aber der Leser hatte niemals Gelegenheit, sich selbst ein Bild von ihm zu machen. Das ist es, was deinem Text ganz entscheidend fehlt. Du erzählst, und der Leser soll dir glauben. Der Leser will sich aber selbst ein Urteil bilden.

Letzter Absatz: Der Erzähler vermutet, dass es ein Happy End geben wird.

Tja, das war's. Ich rate dir, denn Text radikal zu kürzen und dem Leser durch Szenen zu zeigen, wie die Personen sich verhalten, damit der Leser sich selbst ein Urteil bilden kann.

Zu den Anmerkungen: Kurzgeschichten dürfen auch politisch sein, an deiner ist allerdings kaum etwas Politisches.

Grüße
Chris

 

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