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Vergoldeter Schmerz

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17.08.2016
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Vergoldeter Schmerz

Börsenkurse wechselten in rascher Abfolge, grüne und rote Zahlen, am unteren Rand lief ein Textband mit Kurznachrichten. In einem Kasten sah man einen Traktor über ein staubiges, abgeerntetes Feld fahren. Der Ton war abgestellt. Mit der Espressotasse am Mund schaute er auf den Flat-Screen.
»Schlechte Weizenernte«, murmelte er. »Wie gedacht.« Die Mundwinkel hoben sich zu der Andeutung eines Lächelns. Sein Blick blieb aber unbeteiligt. Das hat mir wieder dreihunderttausend eingebracht, dachte er. Dann wandte er sich vom Bildschirm ab.
Benedict Winter stand barfuß neben dem sechsflammigen, freistehenden Herd, den er nie benutzte, in seiner obszön großen, offenen Küche, die genauso makellos weiß war wie seine Leinenhose und das bis zum dritten Knopf geöffnete Hemd, und schaute in das sich in einem raffiniert angelegten Bogen öffnende Wohnzimmer.
Und jetzt? Biotech? Seltene Erden? Langweilige DAX-Shorts? Er würde sich darum kümmern müssen, die Gewinne rasch wieder zu investieren. Noch heute. Nur so blieb alles im Fluss. Vielleicht mal wieder etwas in Asien probieren?
Er stellte die Tasse ab und schlenderte ins Wohnzimmer. Auch hier herrschte Weiß vor. Weißer Teppich, weiße Ledercouch und dazu passende Sessel, die sich vor dem offenen Kamin gruppierten, weiße Wände. Der große, rechteckige Esstisch wirkte fast wie ein Fremdkörper. Dunkles, gestreiftes Makassar-Ebenholz, elegant zusammengesetzt, so dass sich auf der Tischplatte ein sternförmiges Muster zeigte.
Benedict stellte sich an die Panoramascheibe und blickte in den parkähnlichen Garten hinaus. Von der großzügigen, vollkommen leeren Terrasse führte ein gekiester Weg über die sanft abfallende Rasenfläche bis zum Teich mit den kostbaren Fischen. Alte Obstbäume, perfekt gepflegt von zwei Gärtnern, standen in voller Blüte. Links, nur halb zu sehen, der Tennisplatz. Plötzlich fiel ihm auf, dass die brusthohe Hecke, die einen Teil der Terrasse umgab, an einigen Stellen schon wieder etwas auswuchs. Gar nicht schön. Andererseits, was machte das schon? Er hatte das Haus ohnehin seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Das letzte Mal, dass die Terrasse benutzt wurde, musste zur Einweihungsfeier gewesen sein. Mit drei Kollegen der Investmentbank, die er kurz darauf verlassen musste, weil er mit seinen privaten Anlagen bereits ein Vielfaches von dem machte, was sein Chef in dem Laden verdiente, hatte er vor vier Jahren dort gestanden mit Bier, Whisky und Sushi und die gespielt lockeren Beifallsbekundungen entgegengenommen, mit denen sie ihren Neid auf das Haus, den Garten, das Geld von Benedict nicht überspielen konnten. Er hatte sie danach nie wieder eingeladen. An ein oder zwei Abenden hatte er sich in jenem Sommer noch einen Stuhl nach draußen gestellt und den Sonnenuntergang angeschaut. Aber auch das ging bald nicht mehr. Seitdem blieb die Glastür geschlossen.
Benedict strich sich das dichte braune Haar nach hinten, verfolgte den Flug eines Vogels am Himmel, die Flügel ausgebreitet im leichten Sinkflug, als das Mobiltelefon brummte. Er zog es aus der Hosentasche. Eine Nachricht von Roxana: Wann können wir uns denn jetzt mal sehen?
Roxana war schön, zumindest, wenn man den Fotos trauen konnte, die sie ihm schickte. Er hatte die Chats mit ihr überraschenderweise genossen. Nur, wo sollte das hinführen? Auf diese Art, online, den Schein zu wahren, war kein Problem. Aber dann? Sie würde etwas von ihm erwarten, dass er nicht erfüllen konnte. Natürlich würde sie das. Die normalste Sache der Welt. Sich treffen, reden, lachen, berühren. Wie sollte das gehen? Wie sollte er das schaffen? Und unweigerlich würden dann die Fragen kommen. Und nach den Fragen, die er nicht beantworten wollte, die Enttäuschung. Er nahm sich zum wiederholten Mal vor, sein Profil zu löschen.
Sein Blick ging zurück zu dem Flachbildschirm, der in einer Ecke der Küche angebracht war. Immer noch wechselten Zahlen – Aktienkurse, Währungen, Rohstoffe – in raschem Tempo. Benedict nahm die Informationen in sich auf, ließ sich treiben auf dem Strom der Daten, versuchte, in diesen Zustand des totalen Fokus zu kommen, auf der Suche nach etwas Auffälligem, einem Muster, seinem nächsten Treffer. Fast wie ein Schachspieler, der in der Verteilung der Figuren auf dem Brett die bestmögliche Fortsetzung sucht. In sechzig Prozent der Fälle wurde er fündig. Das war zumindest seine Marke, die er sich nach vielen Jahren und hunderten von Stunden der Analyse von Kursentwicklungen, Indikatoren, Pressemitteilungen, geostrategischen Entwicklungen und purer Mathematik gesetzt hatte. Er hatte ein System entwickelt und es immer weiter verfeinert, geschliffen von Erfolgen, noch mehr von Niederlagen. Kein bloßer Algorithmus, viel zu statisch. Obwohl er sich durchaus verschiedener, selbst geschriebener Programme bediente. Aber das Ganze war komplexer, organischer. Und er war das Zentrum. Sechzig Prozent Erfolgsquote war seine Maßgabe, darauf hatte er seinen Ansatz abgestellt. Konservativ genug, um eine ausreichende Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zu haben. Ambitioniert genug, um auch misslungene Investments abfedern zu können. Alles eine Frage der Verteilung und natürlich der Selbstbeherrschung. Er hatte genug gierige, von zufälligen Erfolgen blinde Anleger erlebt, die sich kopfüber in ein ach so sicheres Investment stürzten und mit einer falschen Entscheidung alles verloren hatten. Einige von ihnen durchaus mit exorbitanten Gehaltsschecks in ihren Bankerjobs. Das würde ihm nicht passieren, denn er wich nie von seinem System ab. Niemals. Und sein commitment war absolut.
Das Telefon klingelte. Die Hausleitung. Er riss sich vom Bildschirm los und ging durch die Eingangshalle in das Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch stand das Telefon, eine geheime Festnetznummer. Altmodisch, aber wirksam. Nur eine Person hatte diese Nummer.
„Hallo Mama.“ Benedict kniff die Augen zusammen, rieb mit Zeigefinger und Daumen über die Lider.
„Hallo Benny. Geht es dir gut?“
Niemand außer seiner Mutter hatte ihn jemals so genannt. Er ließ ihr diesen Namen, gestattete ihr diese letzte Form von Nähe.
„Sicher. Warum sollte es nicht?“
„Du hast dich nicht gemeldet.“
Wie immer: Vorwürfe, nichts als Vorwürfe.
„Ich hatte zu tun", sagte Benedict, bemüht ruhig zu bleiben.
Er atmete tief ein, lehnte sich gegen den Tisch. Die Jalousien waren heruntergelassen, die Lichter an der Zimmerdecke stark gedimmt. An der gegenüberliegenden Wand waren in drei Reihen übereinander, Rahmen an Rahmen, fünfzehn Flat-Screens angebracht. Auch hier: Börsenkurse, Charts, News im stummen Wechsel. Scheinbar sagte jetzt doch der erste Zeuge im Finanzskandal aus. Das konnte interessant werden, er musste da unbedingt dran bleiben.
„Ich mache mir Sorgen, wenn du dich nicht meldest. Wir haben doch eine Vereinbarung.“
„Ich weiß, Mama. Es tut mir leid."
„Schon gut. Jetzt höre ich ja deine Stimme.“
Kurzes Schweigen. „Isst du auch genug?“
Benedict lächelte müde. „Natürlich.“
„Wirklich? Ich könnte ...“
„Glaub mir, Mama. Alles gut.“
„Ich mache mir halt Sorgen.“
„Ich weiß. Es tut mir leid“, sagte er wieder. Automatisch. Es war wie ein Tanz, immer rundherum. Wann würde er sich daraus lösen?
„Wann sehen wir uns denn endlich? Ich ... so lange habe ich dich nicht gesehen.“
Benedict atmete kraftlos aus. „Ich weiß nicht. Es ist immer noch schwierig. Viel zu tun auch.“
„Das sagst du seit fast einem Jahr. Benny ...“ Er hörte sie leise schluchzen, hatte aber nicht die Kraft, tröstende Worte zu finden.
„Also gut“, sagte sie schließlich. „Du rufst Donnerstag an?“
„Ja.“
„Versprich es!“
„Versprochen.“
„Nicht vergessen.“
„Nein, ich denke daran.“ Seine Hand krampfte sich um den Rand der Tischplatte. Er war erstaunt über den ruhigen Ton seiner Stimme.
„Ich hab‘ dich lieb, mein Sohn. Und ich glaube fest daran, dass der Herr ...“
„Mach’s gut Mama.“ Er unterbrach das Gespräch, legte das Telefon langsam auf die Station zurück. Seitdem der Diabetes sie in den Rollstuhl gebracht hatte, steigerte sie sich noch mehr in diesen Jesus-Quatsch rein. Er wunderte sich immer wieder darüber, dass jemand ernsthaft davon überzeugt sein konnte, irgendeine metaphysische Gestalt würde die Kraft oder auch nur das Interesse haben, das Leben eines Menschen zu bestimmen.
Aber so war sie ja immer gewesen, hatte sich von anderen Kraft und Richtung erhofft. Unfähig, ihr Leben selbst zu leben oder gar zu bestimmen. Erst war es Benedicts Vater gewesen, nach dessen Tod dann Benedict selbst, der ihr Stärke geben sollte. Dabei war er doch selbst fast noch ein Kind gewesen. Und immer diese Ängste. Krankhaft. Gefährlich. Zerstörerisch. In ihren seelischen Abgrund hatte sie ihn gerissen. Nie wieder würde er ihr das gestatten, dafür hatte er zu lange gekämpft – und zu viele bleibende Wunden davongetragen. Manchmal hasste er sie. Hasste sie für das, was ihm jetzt im Weg stand. Das, was aus ihm geworden war. Und dann wieder hatte er ihr Bild vor Augen. Eine fette Frau, mit geschmacklosen Klunkern aus Lapislazuli um den Hals und die Handgelenke, die chronisch entzündeten Beine umwickelt mit Lagen von Verbänden, das Gesicht schlaff, schon lange ohne Glanz, die Mundwinkel in mürrischer Abneigung gegen jeden und alles festgefroren. Auch wenn er es nicht wollte, sie tat ihm leid. Und konnte man so jemanden hassen?
Die Türklingel holte ihn aus seinen Gedanken. Benedict griff zur Fernbedienung auf dem Schreibtisch und holte sich mit einem Knopfdruck das Bild der Überwachungskamera über der Toreinfahrt auf den Bildschirm. Der Lieferservice. Er nahm das Telefon in die Hand.
„Hallo.“
„Ihre wöchentliche Lieferung, Herr Winter.“
„Sie wissen ja Bescheid.“
Benedict gab einen Code auf dem Handy ein und beobachtete, wie das mächtige Tor zur Seite rollte und der Lieferwagen über den gekiesten Weg in Richtung Haus fuhr. Er ging mit langsamen Schritten durch die Eingangshalle. Durch die gläserne Flügeltür, die in das Wohnzimmer führte, fiel das rosarote Licht der untergehenden Sonne auf den weißen Marmor. Er betrat die Küche und hörte das Rummsen der Kisten und Flaschen, die vom Lieferservice hinter der Tür des Seiteneingangs abgestellt wurden. Benedict stellte sich vor die Tür und wartete. Als er das Klopfen hörte, nahm er einen Umschlag von der Anrichte und schob ihn unter der Tür hindurch. Zweihundert Euro Trinkgeld. Kurz darauf wurde der Motor angelassen und das Knirschen von Kies war zu hören. Erst als alles wieder ruhig war, öffnete Benedict die Tür und trug die Lebensmittel hinein. Er entnahm einem Karton eine Flasche Rotwein und entkorkte sie. Hundertzwanzig Euro, dachte er, eigentlich sollte ich sie mit jemandem teilen. Gläser, die leise klingend aneinanderstoßen, im Hintergrund leise Musik, ihre Hand haltend.
Er musste lächeln bei diesem verrückten Gedanken. Er konnte ja nicht einmal dem Mann vom Lieferservice die Tür öffnen.
Aus dem Vitrinenschrank nahm er eines der auf Hochglanz polierten, penibel aufgereihten Kristallgläser in die Hand. Zweimal in der Woche kam die Reinigungskraft und hatte zuletzt in Ermangelung von Aufgaben die Gläser gewienert. Benedict goss sich ein, stellte sich an die Glasfront zum Garten. Die Sonne war nur noch ein schwaches rosafarbenes Licht hinter den Bäumen. Langsam trank er den Wein, während es im Zimmer dunkel wurde. Als das Glas leer war, spülte er es in der Küche aus und stellte es zurück in den Schrank.
Dann ging er in sein Arbeitszimmer. Er hatte noch die ganze Nacht.

 

Hallo @MRG,
Ich danke dir für die ehrliche Kritik.
Dass dich der Text emotional nicht abholt, kann ich akzeptieren, aber dass du sagst

Alles an ihm ist vorhersehbar, finde ich.
verstehe ich nicht so ganz. Denn ich denke, dass die einzelnen Szenen (Er verlässt das Haus nicht mehr, er kann den Kontakt zu Roxana nicht weiterführen, das Gespräch mit seiner Mutter, der Lieferdienst, die Einsamkeit am Ende) nicht unbedingt erwartbar, wenn man nach der Eingangsszene einen knallharten, selbstbewussten Börsenheini vorgestellt bekommt.

Er wirkt auf mich unsympathisch, egoistisch und beschuldigt andere Leute. Ich glaube, dass du hier Potential liegen lässt. Ich hätte mir gewünscht, dass es eben einen Bruch gibt, dass er aus dem Stereotyp herausfällt.
Das wiederum kann ich verstehen. Sympathie ist hier sicher schwer, gerade wenn man vielleicht nur diese unsympathische Seite sieht.

Gibt es nicht doch einen kleinen Zugang, der ihn menschlich macht und sein System aufbrechen könnte?
Die Frage ist, was ist menschlich? Ich gehe davon aus, dass du damit so etwas wie Schwäche, Emotionalität usw. meinst. Denn das erleichtert natürlich normalerweise den Zugang zu einem Protagonisten. Ja, ein Bruch, darüber werde ich nach der Challenge noch mal nachdenken. Allerdings denke ich, dass es die Grundausrichtung des Textes stark verändern würde, denn ich wollte ja bewusst nur diese Seite zeigen, aber durch die gesetzten Andeutungen den Leser dazu anregen, sich hinter diese Fassade zu denken.
Stand jetzt wirkt dein Protagonist weiß in einer weißen Umwelt, er hat keine Farbe, nichts Überraschendes,
HIer frage ich mich wieder, ob die oben genannten Andeutungen, die ich gesetzt habe, wirklich nichts Überraschendes hatten?

»Schlechte Weizenernte«, murmelte er. »Wie gedacht.« Die Mundwinkel hoben sich zu der Andeutung eines Lächelns. Sein Blick blieb aber unbeteiligt. Das hat mir wieder dreihunderttausend eingebracht, dachte er.
Hier kam für mich raus, dass er menschlich eine Katastrophe ist. Er interessiert sich nur für sich selbst und er verdient am Leid anderer.
Das stimmt. Einerseits. Andererseits sind das, also die Indikatoren, dass sein System funktioniert, die einzigen Momente, in denen er sich noch in gewisser Weise wertvoll fühlt. Alles andere ist weg, verschwunden aufgrund seiner tiefsitzenden Ängste.

Benedict stellte sich an die Panoramascheibe und blickte in den parkähnlichen Garten hinaus. Von der großzügigen, vollkommen leeren Terrasse führte ein gekiester Weg über die sanft abfallende Rasenfläche bis zum Teich mit den kostbaren Fischen. Alte Obstbäume, perfekt gepflegt von zwei Gärtnern, standen in voller Blüte.
Habe diese Stelle mal rausgenommen, weil ich das sprachlich mochte. Schreiben kannst, habe ich schon bei anderen Geschichten von dir gedacht. Nur bei dieser fehlt mir etwas und wie oben schon geschildert, hängt das für mich mit deinem für mich farblos bleibenden Protagonisten zusammen.
Wie gesagt, ein Stück weit war es ja mein Ziel, ihn bzw. sein Umfeld, sein Leben so darzustellen. Diese Monotonie im goldenen Käfig, die Einsamkeit. Er hat alles, aber das Wichtigste - Freiheit, soziale Kontakte - fehlt.

Mit drei Kollegen der Investmentbank, die er kurz darauf verlassen musste, weil er mit seinen privaten Anlagen bereits ein Vielfaches von dem machte, was sein Chef in dem Laden verdiente, hatte er vor vier Jahren dort gestanden mit Bier, Whisky und Sushi und die gespielt lockeren Beifallsbekundungen entgegengenommen, mit denen sie ihren Neid auf das Haus, den Garten, das Geld von Benedict nicht überspielen konnten. Er hatte sie danach nie wieder eingeladen.
Genau so stelle ich mir solche Leute vor, war für mich nicht überraschend. Ich habe auf den Haken gewartet, der dafür sorgt, dass ich voller Faszination einfach weiterlesen muss wie bei deiner Koffer-Geschichte.
Ich finde, da sind schon zwei Dinge drin, die vielleicht nicht ganz auf Linie sind. Die Tatsache, dass er die Bank verlassen musste, weil er so viel besser war als sein Chef. Und die Aussage, dass er sie danach nie wieder eingeladen hatte. Ich denke, das hebt ihn schon aus dem Einheitsbrei dieser testosteron-beseelten Tradertypen hervor. Zumal ich ja noch andeute, warum er sie nicht mehr eingeladen hat. Seine psychische Entwicklung, die immer mehr gen Süden ging. Aber wenn es dir bei dir kein Interesse geweckt hat, dann war es vielleicht nicht prägnant genug. Oder, und so ist das dann auch manchmal, es war einfach nicht deine Geschichte.

Sie würde etwas von ihm erwarten, dass er nicht erfüllen konnte. Natürlich würde sie das. Die normalste Sache der Welt. Sich treffen, reden, lachen, berühren. Wie sollte das gehen? Wie sollte er das schaffen? Und unweigerlich würden dann die Fragen kommen. Und nach den Fragen, die er nicht beantworten wollte, die Enttäuschung. Er nahm sich zum wiederholten Mal vor, sein Profil zu löschen.
Selbstmitleid, aber ich leide nicht mit ihm, halte ihn für egoistisch und kalt. Denn auch hier bezieht er sich nur auf die eigenen Person, er ist derjenige, der die Erwartungen nicht erfüllen kann, er ist dann nicht perfekt.
Hm, da muss ich mal zurückfragen, auf welche Person sollte er es denn sonst beziehen sollte? Er zweifelt ja an SICH, weil er weiß, dass er es nicht packen würde. Selbstmitleid lese ich persönlich nicht heraus, eher so etwas wie Resignation.

Fast wie ein Schachspieler, der in der Verteilung der Figuren auf dem Brett die bestmögliche Fortsetzung sucht. In sechzig Prozent der Fälle wurde er fündig. Das war zumindest seine Marke, die er sich nach vielen Jahren und hunderten von Stunden der Analyse von Kursentwicklungen, Indikatoren, Pressemitteilungen, geostrategischen Entwicklungen und purer Mathematik gesetzt hatte.
Wieder echt interessant, also das finde ich eine der richtig guten Stellen. Denke, dass du ein ausgesprochen gutes Grundgerüst mitbringst für die Geschichte. Ich mache das an solchen Stellen fest.
Schön, das freut mich.

Er hatte genug gierige, von zufälligen Erfolgen blinde Anleger erlebt, die sich kopfüber in ein ach so sicheres Investment stürzten und mit einer falschen Entscheidung alles verloren hatten. Einige von ihnen durchaus mit exorbitanten Gehaltsschecks in ihren Bankerjobs. Das würde ihm nicht passieren, denn er wich nie von seinem System ab. Niemals. Und sein commitment war absolut.
Ich fände es spannend, wenn dann doch einmal etwas schiefgeht. Ich will wissen, wie er unter Druck reagiert, denn da zeigt sich ja häufig erst ein Charakter. Das werfe ich mal so in den Raum und meinte ich oben mit den Ansatzpunkten. Du beschriebst erst die perfekte Welt und er ist extrem von sich selbst überzeugt, was die eigenen Investments angeht und dann passiert ihm plötzlich ein Fehler und er muss sich seinen Dämonen direkt stellen. So etwas würde ich mir wünsche, damit er mehr Farbe bekommt und für mich greifbarer wird. Jetzt ist er mir noch zu weit entfernt, zu farblos.
Ich verstehe das mit den Dämonen, denen sich der Prot. stellen soll. Hätte sicher auch einen Reiz hier und wurde in nicht wenigen anderen Kommentaren auch so vorgeschlagen. Wie gesagt, es wäre dann für mich eine andere Geschichte, ein anderer Ansatz.

Seitdem der Diabetes sie in den Rollstuhl gebracht hatte, steigerte sie sich noch mehr in diesen Jesus-Quatsch rein. Er wunderte sich immer wieder darüber, dass jemand ernsthaft davon überzeugt sein konnte, irgendeine metaphysische Gestalt würde die Kraft oder auch nur das Interesse haben, das Leben eines Menschen zu bestimmen.
Er hat keine Empathie, das lese ich hier heraus und er wird mir noch unsympathischer.
Sicher, man könnte ihm hier auch mangelnde Empathie unterstellen. Aber, er ist einfach geschädigt durch seine Mutter, die ihn seit seiner Kindheit moralisch vereinnahmt (hat). Da fällt Empathie irgendwann sicherlich schwer. Andererseits hat er ihr ja als einzigem Menschen die Telefonnummer gegeben, er scheint also noch mit sich zu kämpfen, was die Beziehung zu seiner Mutter angeht.

In ihren seelischen Abgrund hatte sie ihn gerissen. Nie wieder würde er ihr das gestatten, dafür hatte er zu lange gekämpft – und zu viele bleibende Wunden davongetragen. Manchmal hasste er sie. Hasste sie für das, was ihm jetzt im Weg stand. Das, was aus ihm geworden war.
Dann beschuldigest er sie, hasst sie manchmal sogar. Ich finde, dass das deinen Protagonisten nur noch mehr stereotypisiert. Er ist der kalten und reiche Investor, der sich super mit Zahlen auskennt und sich nur für sich selbst interessiert.
Ich finde es schade, dass es in deinem Fall nicht gelungen ist, Benedict eben nicht (nur) als reichen Investor darzustellen, sondern als jemanden, der schwerwiegende psychische Probleme hat, die er möglicherweise durch seinen Reichtum, sein Talent an der Börse zu kompensieren versucht, aber immer mehr merkt, dass dies nicht geht. Er eigentlich vollkommen einsam ist.

Eine fette Frau, mit geschmacklosen Klunkern aus Lapislazuli um den Hals und die Handgelenke, die chronisch entzündeten Beine umwickelt mit Lagen von Verbänden, das Gesicht schlaff, schon lange ohne Glanz, die Mundwinkel in mürrischer Abneigung gegen jeden und alles festgefroren. Auch wenn er es nicht wollte, sie tat ihm leid. Und konnte man so jemanden hassen?
Finde ich auch heftig, dass er sie als "fette Frau" bezeichnet, es ist schließlich seine Mutter. Das sagt einiges über ihn aus. Daher habe ich es ihm auch nicht abgekauft, dass sie ihm leid tut. Das kam mir eher wie ein Alibi vor, was er sich selbst einredet.
Ja, okay, das fette werde ich ändern. Ist vielleicht wirklich zu heftig.

Hundertzwanzig Euro, dachte er, eigentlich sollte ich sie mit jemandem teilen. Er musste lächeln bei diesem verrückten Gedanken
Ein verrückter Gedanke, eine Falsch Wein jemandem zu teilen.
Ja, okay, das wurde, glaube ich, in einem anderen Kommentar auch missverstanden. Ich meinte damit nicht, dass der Gedanke verrückt ist, weil die Flasche teuer ist oder so und er sie für sich behalten möchte. Eher das Gegenteil, gerade so einen guten Wein sollte man mit jemandem teilen (klassischerweise mit einer Frau, bei einem Date?), aber dieser Gedanke ist deshalb verrückt, weil er sich ja nicht mal mehr aus dem Haus traut. Das zeigt ja eigentlich seine krasse Situation.
Ich werde versuchen, das umzuschreiben, um es deutlicher zu machen.

Nimm dir raus, was du brauchen kannst. Wünsche dir einen schönen Abend.
Das habe ich, vielen Dank. Es ist natürlich immer etwas, na ja, ernüchternd, wenn der Text nicht so funktioniert, wie man sich das beim Schreiben und Entwickeln der Figur für sich selbst klar vor Augen hat. Aber so ist es eben und ich entnehme deinem Kommentar gute Anregungen und finde es toll, dass du deine Einschätzungen so gut und ausführlich begründet hast.

Beste Grüße,
Fraser

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Hallo @Friedrichard,
Schön, dass du vorbeischaust. Deine Kommentare haben ja immer etwas Besonderes, wie ich finde.

da ist eine distanzierte Sprache angemessen, finde ich.
Danke für diese Einschätzung. Ja, ich wollte den Zugang zu Benedict nicht durch ein Maß an Emotionalität erreichen, sondern eher durch eine gewisse Distanz. In der Hoffnung (Erwartung?), dass sich dadurch die Ödnis seines Lebens darstellt.

Eine wirklich nur klein-bissken Flusenlese

Hier meine ich schlägt die Fälle-Falle zu, denn hier

Obwohl er sich durchaus verschiedenen, selbst geschriebenen Programmen bediente.
solltestu ein „an“ nach“durchaus“ setzen - „… an verschiedenen …“, dass der Dativ erhalten bleibt
Puh, da bin ich gerade am Überlegen. Für mich klang es so korrekt. Aber je mehr ich mir das vorsage, desto mehr denke ich, es müsste in dieser Konstellation der Genitiv sein. Ändere ich.

Die anderen Flusen werde ich auch noch bearbeiten.

Danke dir! (Mit Ausrufezeichen).

Beste Grüße,
Fraser

 

Hallo @Fraser,

vielen Dank für deine ausführliche Antwort, möchte auf einige Sachen noch einmal eingehen.

Denn ich denke, dass die einzelnen Szenen (Er verlässt das Haus nicht mehr, er kann den Kontakt zu Roxana nicht weiterführen, das Gespräch mit seiner Mutter, der Lieferdienst, die Einsamkeit am Ende) nicht unbedingt erwartbar, wenn man nach der Eingangsszene einen knallharten, selbstbewussten Börsenheini vorgestellt bekommt.
Ich habe darüber nachgedacht und für mich besteht die Problematik darin, dass da drin steckt, dass er reich, aber unglücklich ist. Unter diesem Rahmen habe ich deine Geschichte gelesen und daher kam es mir so vorhersehbar vor.

Diese Monotonie im goldenen Käfig, die Einsamkeit. Er hat alles, aber das Wichtigste - Freiheit, soziale Kontakte - fehlt.
Ja, genau und das meinte ich damit, dass er weiß bliebt. Er ist reich, gefangen in seinem Käfig und unglücklich. Dabei denkt er meiner Einschätzung nach ununterbrochen über sich selbst nach. So hatte ich das gelesen.

Ich denke, das hebt ihn schon aus dem Einheitsbrei dieser testosteron-beseelten Tradertypen hervor.
Mein Rahmen war, reicher Investor, der aber trotz all dem Geld nie wirklich glücklich ist. Daher finde ich deine Antwort interessant. Das ergibt Sinn für mich, kann jetzt besser verstehen, was du probiert hast.

Hm, da muss ich mal zurückfragen, auf welche Person sollte er es denn sonst beziehen sollte? Er zweifelt ja an SICH, weil er weiß, dass er es nicht packen würde. Selbstmitleid lese ich persönlich nicht heraus, eher so etwas wie Resignation.
Meiner Einschätzung nach bezieht er alles auf sich, er kommt gar nicht auf die Idee, dass es noch andere Menschen gibt. Er hat so viele Ressourcen, schwimmt im Geld und er stellt sich nicht die Frage, etwas zurückzugeben. Das ist es, was ich sagen wollte. Das einzige was zählt sind seine eigenen Probleme und seine eigene schlimme Mutter.

Aber, er ist einfach geschädigt durch seine Mutter, die ihn seit seiner Kindheit moralisch vereinnahmt (hat).
Denke, dass man eine furchtbar schwierige Kindheit haben kann, allerdings sehr wohl daran arbeiten kann. Finde die Kauai-Studie in der Hinsicht sehr interessant. Über 40 Jahre wurden benachteiligte Kinder, mit einer schwierigen Kindheit untersucht. Ergebnis war, dass 1/3 der Kinder besonders gestärkt daraus hervorgehen können. Ich glaube, dass es diese Schuldzuweisung ist, die mich an deinem Prota gestört hat und weshalb ich ihn als egoistisch wahrgenommen habe.

Es kann natürlich auch einfach so sein, dass die Geschichte nicht für mich war. Das ist ja auch immer eine Geschmacksfrage, lass dich daher von meinem Kommentar nicht zu sehr beeinflussen. Wie gesagt finde ich, dass du sprachlich gut unterwegs bist und für mich hat es diesmal durch den Protagonisten einfach nicht gepasst.

Wünsche dir noch einen schönen Sonntag.

Beste Grüße
MRG

 

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