Verheiratet, ein Kind
Verheiratet, ein Kind
Draußen schien warm die Morgensonne.
Das Zimmer hatte großzügige Fenster, die zum Garten hinausgingen, und eine besonders breite Terrassentür. Aber alle Rollläden waren noch heruntergelassen. Freundliches Lampenlicht beschien den Raum mit seinen hellen Möbeln, untermalte die warmen Töne der zugezogenen Vorhänge und ließ den weichen Teppichboden seidig schimmern.
Das ganze Zimmer atmete sterile Sauberkeit. Die Gardinen und Vorhänge dufteten wie frisch gewaschen, auf dem fleckenlosen Teppich lag nirgendwo ein Krümelchen, kein Stäubchen war in der Schrankwand zu finden, und die Glasvitrinen blitzten und blinkten.
Eine alles übergreifende Ordnung drängte sich auf. Die farblich abgestimmten Gegenstände in den Regalen waren millimetergenau aufeinander ausgerichtet. Nichts störte die symmetrische Perfektion.
Eine großkarierte rotweiße Tischdecke war über den einladenden Esstisch gebreitet. In der Mitte prangte eine paradiesisch gefüllte Obstschale. Unzählige Schüsseln, Schälchen, Platten und Kannen verwirrten das Auge, und die Brötchen waren knusprig, der Kaffee duftete - alles war so, wie es sein musste.
Die beiden Erwachsenen am Tisch blickten nur kurz auf, als der Junge hereingebracht wurde. Sein Vater nickte ihm zu, bevor er seine Tasse zum Mund führte. Seine Mutter schluckte gerade einen Bissen hinunter und konnte deshalb nicht lächeln.
"Guten Morgen, Mama! Morgen, Papa!" rief der Junge. "Warum macht zieht ihr die Rollläden nicht hoch? Es ist doch schon hell draußen!"
"Später", antwortete die Mutter, bevor sie den nächsten Bissen nahm. Der Vater setzte seine Tasse ab und räusperte sich.
Die Augen des Jungen irrten über den Tisch. "Gibt es heute kein Rührei?" fragte er.
"Es ist keins da.", antwortete seine Mutter müde. "Aber ich kann dir Rührei bringen lassen, wenn du willst."
"Nein, lass nur!", sagte der Junge hastig. "Ich nehme Cornflakes."
"Aber Rührei wäre gut für ihn", wandte der Vater ein.
"Warum?" fragte seine Frau.
"Eier sind gesund", erklärte ihr Mann. "Und außerdem braucht er eine gute Unterlage, wie du weißt."
"Zu viele Eier sind auch für ihn nicht gesund", widersprach die Frau.
Der Mann wollte etwas erwidern, aber dann überlegte er es sich anders, zuckte mit den Schultern und griff nach der Morgenzeitung. Die Frau seufzte.
Ihr Sohn löffelte seine Cornflakes und beobachtete seine Eltern. Die Mutter blickte vor sich hin ins Leere, während sie mechanisch kaute. Der Vater war fast ganz hinter seiner Zeitung verschwunden. Man sah nur noch seine Stirn, die sich immer wieder runzelte, während er las.
Es war so bedrückend ruhig im Zimmer. Der Junge wollte unbedingt etwas sagen. Angestrengt dachte er nach. Zum Beispiel wüsste er gern, ob sein Vater heute Abend nach Hause kommen oder über Nacht wegbleiben würde. Aber er hatte schon oft gemerkt, dass es ein Fehler war, diese Frage zu stellen. Oft gab es danach Streit zwischen den Eltern.
Seine Mutter hätte er am liebsten gebeten, mit ihm heute Nachmittag in den Park zu fahren, aber er sah jetzt schon, dass es nicht möglich sein würde. Sie hatte heute morgen schon das übellaunige Gesicht, so wie an den schlimmen Tagen, wenn sie die ganze Zeit auf dem Bett lag und kaum Antwort gab, wenn man sie ansprach. Also ließ er sie besser in Ruhe.
Es war so still im Raum, dass das Klirren von Geschirr und Besteck unnatürlich laut erschein. Der Junge versuchte, die Vögel im Garten singen zu hören. Er wusste, dass sie dort in Scharen herumflatterten, dass sie zwitscherten und lachten, aber nichts drang durch die dicken Glasscheiben der schalldichten Fenster zu ihm durch.
In diese dumpfe Stille hinein schlürfte seine Mutter leise. Sofort ließ der Vater die Zeitung sinken und warf ihr einen bösen Blick zu. Er hasste es, wenn sie beim Essen Geräusche machte.
Der Junge sah, wie sich ihr Kinn vorschob.
"Du weißt doch, dass ich Kaffee nicht trinken kann, wenn er noch heiß ist!" zischte sie.
"Dann warte ab, bevor du ihn trinkst!" gab er hitzig zurück.
Es war wieder soweit. Die Gedanken des Jungen überschlugen sich. Er musste jetzt schnell handeln. "Wir ... Ich ..." rief er dazwischen.
Seine Eltern hielten inne und wandten sich ihm zu.
"Was?" fragte der Vater ungeduldig, als sein Sohn nicht weitersprach.
"Wir werden heute zur Schwimmhalle gebracht!" sagte das Kind, weil ihm gerade nichts Besseres einfiel.
"Soso", brummte der Vater und widmete sich wieder seiner Zeitung.
"Schön!" antwortete die Mutter, aber man merkte genau, dass sie an etwas ganz anderes dachte. "Vergiss nicht, deine Medikamente einzunehmen!" sagte sie noch.
Ihn Sohn griff erleichtert nach seinen Medikamentenschachteln. Jetzt war es wieder totenstill im Zimmer. Das war nicht so schlimm wie ihr Streiten. Oder doch?
Die Augenblicke dehnten sich unerträglich. Der Junge spürte, wie sich etwas in ihm aufbaute. Er wusste nicht, was es war, aber es fühlte sich so an, als würde es losbrechen, und zwar bald. Er nahm sich ein Glas Orangensaft. Vielleicht könnte er dieses Gefühl hinunterspülen, es ganz einfach ertränken.
Doch plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Die Kaffeetasse seiner Mutter klirrte wieder, und diesmal ganz besonders laut. Im selben Augenblick oder vielleicht deshalb verschluckte sich sein Vater heftig. Der Junge fuhr zusammen. Mit der Hand machte er eine unwillkürliche Bewegung und stieß dabei sein Glas um. Hilflos sah er zu, wie sich der Saft schnell auf dem makellos reinen Tischtuch ausbreitete. Sie machte einen hässlichen gelben Fleck.
"Entschuldigung", stammelte er, "es tut mir wirklich leid."
Aber die beiden Erwachsenen achteten gar nicht auf ihn.
"Du bist Schuld!", schimpfte die Frau. "Nie passt du beim Essen auf! Dauernd verschluckst du dich!"
"Unsinn!", widersprach der Mann heftig. "Du hast wie immer zu laute Geräusche gemacht! Es hört sich hier an wie in einem Schweinestall, wenn du isst und trinkst."
"Das ist doch eine Unverschämtheit!", rief die Frau erregt. "Und außerdem habe ich gar nicht getrunken! Ich habe nur meine Tasse abgesetzt."
"Aber vorher hast du getrunken!", warf der Mann noch lauter dazwischen. "Und geschlürft! Und immer machst du einen Krach wie in einem Bahnhofsrestaurant. Noch nicht einmal in Ruhe frühstücken kann man hier!"
"Du übertreibst mal wieder maßlos!" schrie die Frau. "Lass mich doch endlich in Ruhe!" Ihre Stimme überschlug sich.
"Gleich wird sie weinen", dachte das Kind hilflos.
Sein Vater sprang auf.
Der Junge war starr vor Entsetzen. Würde er sie jetzt anfassen? Es war schon einmal geschehen. Er hatte es selbst gesehen.
"Halt!" schrie das Kind. "Wartet! Ich war es doch! Ich habe doch das Glas umgestoßen!"
Seine Eltern stockten, als sie seine schrille Stimme hörten. Beide sahen ihn an.
"Gib demnächst gefälligst mehr Acht!" sagte sein Vater streng und setzte sich wieder hin.
"Pass nur ja auf, dass du deine Ärmel nicht schmutzig machst!", warnte die Mutter.
Und dann herrschte wieder das Schweigen im Zimmer. Es war, als hätte jemand einfach einen Schalter umgelegt, als wäre eine Maschinerie ganz plötzlich zum Stillstand gekommen.
Eine Minute nach der anderen verstrich. Unerträglich langsam. Da war es wieder, dieses Gefühl in seiner Brust. Der Junge spürte es ganz deutlich. Da war etwas in ihm, was sich aufbäumte und was stärker und immer stärker wurde.
Als seine Mutter kurz darauf wieder geräuschvoll schluckte, konnte er nicht mehr dagegen ankämpfen. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Und was er tat, war unfassbar, unbegreiflich, unerklärlich.
Jäh schlug er mit seinen beiden kleinen Fäusten auf den Tisch, so hart, dass sein Teller hochsprang. Und dann riss er mit einer heftigen Bewegung das Tischtuch einfach vom Tisch. "Verdammt!" schrie er. "Verdammt! Verdammt! Verdammt!"
Das Durcheinander, das er angerichtet hatte, war unbeschreiblich. Auf dem Teppich, den Stühlen und auf dem Tisch mischten sich Aufschnitt, Zucker, Milch, Brot, Scherben, Marmelade, Käse, Besteck und Joghurt, Kaffee, und Früchte. Die paradiesische Obstschale war bis zur Terrassentür gerollt, aber zum Glück heil geblieben. Das verschmutzte Tischtuch hing zur Hälfte über den Knien des Jungen.
Zuerst sagte niemand etwas.
"Ja, bist du denn wahnsinnig geworden?" schrie der Vater plötzlich in die atemlose Stille hinein.
"Warum hast du das getan?", stammelte die Mutter. Sie rang nach Atem.
Ihrem Sohn liefen Tränen über sein Gesicht. "Ich weiß nicht,", sagte er tonlos, "ich weiß es wirklich nicht. Es tut mir leid."
"Es tut dir leid! Es tut dir leid!", tobte der Vater. "Das hilft jetzt auch nichts mehr! Wenn es ginge, ich würde dich das alles ganz allein aufräumen lassen. Jeden noch so kleinen Krümel würdest du auflesen, einzeln, mit der Hand! Jeden Fleck würdest du aus dem Teppich reiben!"
Hilflos sah das Kind auf die Verwüstung, die es angerichtet hatte.
"Du wartest in deinem Zimmer, bis dich der Bus abholt!" befahl der Vater. "Verschwinde, und tritt mir heute nur ja nicht mehr unter die Augen!"
"Geh!" sagte auch seine Mutter, ohne zu merken, wie schlecht sie dieses Wort gewählt hatte.
Hastig wendete der Junge seinen Rollstuhl. Er war blind von Tränen und stieß mit einem Rad gegen den Türrahmen . Während er aus dem Zimmer fuhr, hörte er, wie sein Vater sagte: "Und dabei bin ich nur noch wegen des Kindes hier. Nur wegen ihm halte ich noch aus."
"Ach, wäre ich doch gestorben, damals, bei dem Unfall!", dachte das Kind. "Ach, wäre ich doch tot!"