Verklungenes Kinderlachen
Eijeijei die Schaukeln quietschten. Ana konnte nicht aufhören zuzuhören. Bis die Pflegemutter neben ihr sie wieder in die Unterhaltung zwang: „Sie ist krank.“
„Sie ist erst sieben Jahre alt.“
„Vermutlich ist sie schon von Geburt an krank.“
„Gibt es seelische Erkrankungen gleich nach der Geburt?“ Ana blieb an der Frage hängen, aber es war zwecklos ihr nachzugehen. Die Pflegemutter war nicht die Richtige für eine psychologisch, philosophische Debatte, auf die es bei dieser Frage unweigerlich hinauslaufen würde. Die Frau verlangte mehr Geld, für dieses scheinbar stark gestörte Kind, wie sie es nannte. Ihr stand die Rolle einer Mutter genauso wenig wie Ana, die einer Sozialarbeiterin. Wie gerne wollte sie jetzt eine Zigarette rauchen.
Ana beobachtete die Kinder ohne leibliche Eltern, die sich erst später ihren Traumata bewusst werden würden. Als ihr Blick das sieben Jährige Mädchen auf der Schaukel traf, erkannte sie, dass ihr Job keine Berufung war. Ana litt mit und Mitleid hatte noch keinem Menschen geholfen. Das Mädchen auf der Schaukel tat ihr Leid. Plötzlich stürzte es aus der Luft auf den Boden. Das Mädchen prallte auf, aber verzog dabei keine Miene - Kein Anzeichen von Schmerz, genauso, wie es wenige Momente zuvor keine der Freude gab. „Komm, ich helfe dir auf.“ Das Mädchen starrte Ana an, oder war sie es, die das Kind anstarrte? Sie wusste nicht ob es Trost bedurfte. Denn das Mädchen richtete sich gerade auf. Sie war noch so klein, aber irgendwie kam sie Ana groß vor, jedenfalls größer, als sie selbst sich im Augenblick fühlte. Sie wollte dieser kleinen Seele helfen, aber war sich gleichzeitig ihrer Ohnmacht bewusst. Ana blieb bloß eine Vermittlerin, deren Arbeit erledigt war, wenn sie wieder einmal ein Kind bei einem Ehepaar untergebracht hatte, deren Wohnverhältnisse und Einkünfte stimmten. Das Mädchen verzog immer noch keine Miene. Die Sonne musste sie stören, aber der Ansatz ihres bemüht höflichen Blickes war nicht weg zu blenden.
„Du verletzt dich selber, richtig?“ Ana kannte die Probleme ihrer Schützlinge, denen sie selbst keinen Schutz bieten konnte.
„Es fühlt sich gut an.“
„Wieso machst du das?“
„ Das machen Erwachsene doch auch.“ Ana fiel dazu nichts ein. Wenn Kinder ein schlimmes Trauma erleiden, dann erkrankt ihre Psyche. Ana kaute an ihren Fingernägeln. Das Mädchen erklärte, dass sie ihre Eltern vermisse, aber daran nichts ändern könne. Auf die Frage von Ana ob sie bei ihren Pflegeeltern bleiben wolle, nickte diese. „Ich brauche ja einen Ort an dem ich sein kann.“
„Also bist du glücklich dort?“ wollte Ana ungläubig wissen.
„Ob es Glück wirklich gibt...?“ Aus dem Mund des Mädchens klang das nach keiner Frage. Jetzt erkannte Ana die Krankheit dieses Kindes. Sie war erwachsen und nicht mehr unschuldig. Sie war dem Versagen der Menschen begegnet und war für Erwachsene deswegen schwer zu ertragen. Vermutlich kaum tragbar. „Wie alt bist du?“ fragte es. „ Dreiunddreißig.“ „Du könntest also auch eine Mutter sein?“ Ana nahm ihre Hand und ging mit ihr zu den Schaukeln. Sie setzte sich auf eine der beiden und das Mädchen begann sie anzutauchen. Es war laut auf dem Spielplatz. Das Mädchen war ganz ruhig und tauchte weiter an. Ana fühlte den sanften Wind, der sich plötzlich zu einem brennend heißen Föhn wandelte. In ihr begann sich eine alte Wunde zu entzünden. Ana bat das Mädchen aufzuhören. Diese folgte sofort und löste damit die Zündschnur. Anas Füße berührten wieder den Boden, aber ihr Verstand musste noch irgendwo da oben schweben. „Warum tust du immer sofort was man dir sagt?“ brüllte sie die Kleine an.“ Das Mädchen blickte ihr besorgt in die Augen und Ana konnte nicht standhalten. Sie zündete sich eine Zigarette an und ließ sich wieder auf die Schaukel sinken. Ihre Finger zitterten dabei. Sie wollte mit ihrer Arbeit helfen, aber der Anblick dieser verletzlichen Wesen, die keine Miene verzogen, nachdem ihnen Schlimmes widerfahren war und die dann auf Erwachsene angewiesen waren, machte sie wütend. Gerade wollte sie weiter auf das Kind einwirken, sich nicht alles gefallen zu lassen, wie ein längst gefallener Soldat, da wurde es gerufen. Das Mädchen gab ihr zum Abschied die Hand. Ana ignorierte die Blicke der Erwachsenen und schnippte ihre Zigarette in die Sandkiste. Dann schwang sie sich immer wilder in rettende Höhen. Die Bodenlosigkeit erinnerte sie an ihre Ankunft in Deutschland, nachdem sie sich mit anderen, aber ohne ihre Eltern durch die Wälder aus dem Kosovo gekämpft hatte. Der Gedanke daran tat weh. Ana mochte die Erwachsenen nicht, weil sie Kindern die Kindheit nahmen. Und dann aus egoistischen Gründen halfen. Waren die Motive von Hilfe egal, solange geholfen wurde? Die Schaukel gab jetzt noch andere Geräusche von sich. Sie hörte sich gequält an. Ihre Ketten rissen aus den Ankern und Ana fiel. Sie war schon zu groß. Die Landung auf dem Boden war schmerzhaft. „Jao kako boli!“ Und dann rollten Tränen über ihre Wangen. Gefolgt von einem Lächeln. In Ana wohnte doch irgendwo ein Kind.