Verliebt, Verlobt, Verlaufen
Kann ein einzelner Gedanke alles verändern?
„Deine Hände sind weich …Wie das Moos unter uns“, sagte Sally und fuhr mit ihren Fingerspitzen über meine Handinnenfläche.
Ich sagte nichts, sondern konzentrierte mich auf die Tatsache, dass sie überhaupt noch bei mir war.
Ich betrachtete die Silhouetten der Blätter über mir, und sie sahen aus, wie schwarze Sterne auf einem weißen Himmel, wie das Negativ einer wolkenlosen Nacht.
Seit drei Tagen waren Sally und ich nun schon in diesem Wald.
Wir waren auf dem Weg quer durch Connecticut zu Sally’s Mutter Doreen.
Sie hatte vorgestern Geburtstag und wir hatten gesagt, dass wir sie auf jeden Fall besuchen kämen.
Flink hatte meine wunderschöne Sally an jenem Morgen einen Koffer gepackt (wenn es ums Packen und planen von Unternehmungen ging, war sie mir Lichtjahre voraus), ich hatte den alten silbernen Kombi betankt, von dem bereits der Lack abblätterte, und schon sahen wir unser kleines Zwei-Familien-Haus im Rückspiegel schrumpfen.
Ich drehte meinen Kopf zu Sally und schaute sie an.
Sie sah krank aus, und hilflos wie ein kleines Mädchen, dass auf der Kirmes seine Eltern verliert.
Und war unsere Situation nicht sogar ähnlich?
„Was schaust Du so, Michael? Hab ich da was?“.
„Nein, nichts“, antwortete ich zögernd und stand auf.
Wir waren etwa vier Stunden gefahren und die mittägliche Sonne verwandelte den Kombi in eine Sauna auf Rädern.
Ich musste ständig abbremsen und wieder anfahren, um nicht von dem schmalen Waldweg abzukommen.
Die Straße verzweigte sich zunehmend und in dem Netz kleiner Kapillaren, die den Wald kreuz und quer durchzogen, hatten wir uns völlig verfahren.
„Hey, Schatz“, hatte ich sie vorsichtig geweckt. „Schlechte Nachrichten: Ich glaube, ich habe mich verfahren.“
„Was!?“, schreckte sie hoch und sah mich mit anschuldigenden Augen an.
Ich schaute noch mal auf der Karte nach, doch es hatte sich niemand erbarmt und die Waldwege nachträglich eingezeichnet.
Wir hatten angenommen, dass der Waldweg eine Abkürzung sei, und die Staumeldung auf der Schnellstraße hatte uns in dem Entschluss bekräftigt, durch den Wald zu fahren.
Zuerst war mir ein wenig schwindelig, als ich mich vollständig aufgerichtet hatte, doch mein Kreislauf fing sich wieder.
Es überraschte mich nicht, dass wir beide langsam schlapp machten; schließlich ernährten wir uns seit knapp drei Tagen nur von Beeren und anderen ekligen Dingen, von denen ich vermutete, dass man sie essen konnte.
Ich schaute mich in alle Richtungen um, und stellte fest, dass es nach wie vor überall gleich aussah.
Bäume, Laub, dann wieder Bäume … So weit das Auge reichte.
Und der Wald schien mit jeder Minute, die wir hier festsaßen, mit rasender Geschwindigkeit zu wachsen, als wollte er uns nicht mehr hergeben.
Wir konnten zwanzig Meter von unserem Auto entfernt sein, aber genauso gut am anderen Ende der Welt.
Wir hatten uns entschlossen, einfach wieder zurück zu fahren. Ganz simpel klang die Idee, dem Weg zurück zu folgen, doch wir hatten beide komplett den Überblick verloren.
Ich verfluchte mich tausendmal selbst, warum zum Teufel, ich nicht einfach umgedreht hatte, als sich die ersten Anzeichen von Unsicherheit eingeschlichen hatten.
Doch jetzt half auch das nicht.
Der Weg vor uns schien sich kontinuierlich weiter zu teilen, anstatt dass er sich (wie erwartet) wieder zusammenfügte.
Bei jeder Abzweigung fragte ich Sally, ob ich abbiegen sollte, aber was sollte sie schon sagen?
- Sie hatte auf dem Hinweg geschlafen wie ein Baby.
Nach etwa fünfzehn Minuten weiterer planloser Fahrt durch den Wald, versagte unser Auto und wir sahen uns ratlos an.
Ich hatte definitiv nicht die geringste Ahnung von Autos, schaute aber trotzdem in die Motorhaube.
Sally lag da, und sie war so unglaublich süß.
Ich glaube, trotz ihrer schwächlichen, zermürbten Erscheinung, hatte ich sie noch nie so aufgeregt betrachtet.
Vielleicht war es aber auch nur mein Gewissen, das mir einen Streich spielte.
Und so begann ich zu graben … Erst beiläufig, dann, als ich merkte, dass sie zwischen Schlaf und Ohnmacht schwebte, schneller und intensiver.
Ich grub, als wenn es um mein Leben ging, einfach an einer willkürlichen Stelle des Waldbodens.
Man würde mir nichts ansehen, denn gestern hatte es einen schweren Regenschauer gegeben, und wir waren beide mit Schlamm bedeckt, der an unseren Kleidern zu trocknen begonnen hatte.
Die Sache war gelaufen.
Mit den Augen eines Laien, konnte ich schlichtweg keinen Fehler entdecken, egal wie oft ich versuchte, den Wagen zu starten.
Selbst unser technisch fortschrittliches Zeitalter, ließ uns beide im Stich, denn eine „Kein Netz“ - Nachricht war alles, was unsere Handys anzeigten.
Gut, dann würden wir eben zu Fuß gehen müssen, dachte ich.
Es könnte etwa zwei Stunden dauern, bis wir die nächste Tankstelle erreichen würden, rechnete ich Sally vor, und wir stimmten überein, dass uns nichts anderes übrig blieb.
Doch die Wege verloren sich, und wir das letzte bisschen Orientierung.
Ehe wir uns versahen, standen wir beide mitten in diesem verfluchten Wald, und wussten nicht wohin.
„Wo stand noch gleich das Auto?“, fragte sie mich, und ich zeigte in irgendeine Richtung.
„Aha, okay. Gut, dass ich dich dabei habe!“, sagte sie und gab mir einen Kuss.
Ich wollte sie nicht beunruhigen, obwohl ich genau wusste, wie beschissen unsere Situation war.
Ich meine, wir hatten uns verfahren, das Auto hatte schlapp gemacht, in einem völligen Funkloch, und alles was unser Überleben sichern sollte, waren die beiden Salamibrötchen, die Sally geschmiert hatte?
Meine Grube war jetzt etwa zwei Meter tief und einen Meter breit.
Es hatte zu dämmern begonnen.
Sally Sweetheart, lag im weichen Moos, wenige Schritte von mir entfernt … und sie hatte sich übergeben.
Ich vermutete, dass das von den Beeren kam, die unsere einzige Nahrung waren.
Hätte ich doch einfach mal ein verfluchtes Survival-Buch gelesen!
Trotzdem schlief Sally weiter und ihre Erschöpfung trieb mich zum Weitermachen an.
Ich sammelte einige lange Äste, und schnitt mir bei jedem zweiten meine Hand ein Stück auf. Der Dreck brannte in den Wunden und dickes, dunkles Blut tropfte auf die Äste, als ich das Loch mit ihnen abdeckte.
Dann tarnte ich das Loch mit Laub, gleichmäßig, aber nicht zu auffällig.
Nach wenigen Stunden, saßen wir im Wald, und die ersten Wogen von Stimmungsschwankungen rüttelten an unserer unbestrittenen Liebe.
Zugegebenermaßen hing alles, was ich wollte, zurzeit am seidenen Faden.
Die Salamibrötchen waren am nächsten Tag im Morgengrauen verzehrt, und ich denke, wir gaben gleichzeitig die Hoffnung auf, allein wieder aus dem Wald zu finden.
Mir war es zuerst nicht bewusst, es war nichts passiert, sondern uns war einfach ein Licht aufgegangen, und ohne es auszusprechen, war uns klar, dass wir verloren waren.
Ein Wildschwein hatte Sally am zweiten Tag den Knöchel verstaucht, und es war ihr nur noch möglich zu hinken. Und wir schleppten uns gemeinsam voran.
„Hey, Schatz!“, versuchte ich Sally zu wecken.
Erst nachdem ich sie grob zu schütteln begann, schlug sie langsam die Augen auf.
Vermutlich würde sie es nicht mehr lange durchhalten, aber das konnte man auch von mir behaupten.
„Komm! Schatz, gleich dort drüben ist ein kleines Dorf! Komm schon, ich habe es…“
„Was ist denn mit deinen Händen?“, fragte sie erschrocken, als sie die blutigen Einschnitte sah.
Ihre Stimme war schwach, nahezu fadenscheinig, und nicht mehr als ein Flüstern.
„Ich war Beeren sammeln, ach, ist doch nicht so wichtig jetzt!“, sagte ich und half ihr auf.
„Da, hinter dem Hügel ist es!“, rief ich theatralisch, und ich zeigte in die Richtung, wo ich gegraben hatte.
Ich ging Seite an Seite mit ihr los, und sie spähte ungläubig nach vorne, während ich sie bei jedem Schritt motivierte, weiter zu gehen.
Und vielleicht auch ein bisschen mich selbst, denn was ich hier gerade tat, war alles andere als einfach.
„Ich kann überhaupt nichts sehen!“, sagte sie und wurde langsamer.
„Nein, noch nicht. Höchsten noch drei Meter, Schatz, und dann kannst du es sehen!“, sagte ich und schloss die Augen.
Und als wir beide auf den Boden unseres von mir erstellten Grabes aufschlugen, verloren wir das Bewusstsein, und wachten nie wieder auf.
Ein Gedanke konnte alles verändern.