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Verliebte auf Abwegen
Auf Abwegen
„Na komm schon.“
Meine Freundin Sandy zog mich aus ihrem Hausflur in die klirrende Kälte. Die Tür fiel hinter uns zu.
Nichts Böses ahnend saß ich wenige Minuten zuvor noch in ihrem gemütlichen Domizil und träumte an die mit leuchtenden Sternen übersäte Zimmerdecke starrend von meinem Schwarm. Das Sternbild der „Kleine Wagen“ leuchtete mir entgegen.
Als sie die Tür aufriss, begann das Unheil seinen Lauf zu nehmen. „Ich hab die Idee, was wir heute Abend unternehmen!“ plärrte Sandy in das Zimmer. Das Wort „unternehmen“ bereitete mir Sorgen. Normalerweise „machten wir ein Party“ oder „taten“ andere Dinge. Doch dieses Wort zu interpretieren, hatte sogar ich gelernt. Und das obwohl ich mal "Zufriedenheit" im Deutschunterricht als „glückliches Zueinanderfinden zweier sich liebenden Personen“ deutete. Es musste etwas Großes bedeuten. Also fragte ich vorsichtig nach ihrem Vorhaben. „Du weißt doch, dass Chris hier ganz in der Nähe wohnt.“ Ich schaute meine Freundin verständnislos an. Mir war klar, dass Nähe nicht unbedingt für jeden das gleiche bedeutete, doch bei einer Entfernung von sechs km war mir ihr übliches Maß an Übertreibung zu absurd. Vorsichtig setzte ich mein Verhör fort. „Und was willst du mir damit sagen?“ „Wir machen uns auf den Weg und statten ihm einen Besuch ab.“ Euphorisch zog sie ihren Mantel an und riss meinen von der Garderobe.
Nun stand ich also vor dem größten Abenteuer meiner gesamten Schullaufbahn, welche sich gerade im 7. Jahr befand, von denen ich schon 2 Jahre meinem Schwarm gewidmet hatte. Natürlich mussten wir die 6 km zu Fuß laufen und bereits nach 5 Minuten war mir sehr abenteuerlich zumute als es anfing zu regnen. Ohne Schirm marschierte Sandy unbeirrt weiter. Wir hatten Kapuzen, aber welche Siebtklässlerin setzt jene schon auf, wenn sie auf dem Weg zu ihrem heimlichen Traummann ist.
Nachdem ich schon das dritte Mal über meine coolen Schuhe gestolpert war, fragte ich meine Begleiterin angenervt, was wir Chris denn wohl sagen würden, wenn er die Tür öffnete. „Du sagst ihm die Wahrheit.“ entgegnete sie mir ohne mich nur eines Blickes zu würdigen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und stolperte ein viertes Mal über meine Schuhe. „Wo willst du hin?“ schrie sie mir hinterher. „Spazieren gehen und zwar 10 km um dieses kleine, verregnete Kaff herum. Ruf doch bitte zu mir herüber, wenn du dir eine bessere Story überlegt hast. Bin ja in der Nähe.“ „Schon gut, ich überleg mir was Besseres. Wie wäre es denn, wenn wir uns etwas von ihm ausleihen würden, sagen wir ein Fahrrad.“ Skeptisch schaute ich sie an. „Na klar, wir erzählen ihm, es wäre so ein schöner Tag, um eine Fahrradtour zu machen und da wir gerade zufällig an seinem Haus vorbei gekommen sind…“ Meine ironische Ausdrucksweise schien ihrem vorfreudigen Gemüt nicht zu behagen. „Hey, ich tue alles für dich, damit du Chris näher kommst. Vielleicht geht dir endlich mal ein Licht auf, was ich hier eigentlich mache.“
Mir ging leider kein Licht auf, denn in diesem Moment fielen die Straßenlaternen aus. Ich versuchte das Beste aus der Situation zu machen. Meine triefnasse Kleidung klebte an meinem Körper. Möglicherweise gefiel dies Chris, da ich noch nie so figurbetont angezogen war. Außerdem strahlte mir schon das behagliche Licht der ersten Häuser seines Heimatortes entgegen. Es konnte nicht mehr weit sein.
Nachdem wir fünf Minuten schweigend nebeneinander hergelaufen waren, fragte ich Sandy nach ihrer Idee. „Also hör zu und zicke nicht schon wieder so rum. Wir erzählen deinem ach so tollen Lover, wir wären bei deinem Vater im Büro gewesen, um Recherchen durchzuführen. Als wir gehen wollten, war es schon dunkel und regnete und deshalb wollten wir uns ein Fahrrad ausleihen, weil wir wussten, dass er hier wohnt. Klingt doch plausibel.“ „Und warum sollte mein Vater uns nicht mit zurückgenommen haben?“ Sie sah, wie sich die Skeptik über mein Gesicht ausbreitete. „Na weil er länger arbeiten musste und weil er ja zu euch nach Hause fahren will und nicht zu mir.“ Überzeugt hatte mich diese Idee nicht, aber da ich nicht allein den Weg zurück gefunden hätte, blieb ich bei ihr. Ich stellte mir vor, wie Chris die Tür öffnete, uns freundlich begrüßte, hereinbat und wie Kerzenschein sein Zimmer erleuchtete.
In Sekundenschnelle zerplatzten meine Träume. Wir waren an unserem Ziel angelangt. Die Ähnlichkeit mit meiner Vorstellung war verblüffend. Hätte mich das schimmernde, goldene Brillengestell nicht irritiert, wäre ich Chris’ Großmutter, die uns mit einer Kerze in der Hand die Tür öffnete, in die Arme gefallen. Also behielt ich meinen Enthusiasmus für mich. Sie erzählte uns etwas von „…Stromausfall… durch den Garten…ausgebaute Scheune…“ und schlug die Tür zu.
„Macht das ja nicht noch mal, eine alte Frau so zu erschrecken. Ihr glaubt wohl, der liebe Gott sieht das nicht? Hä, was denkt ihr euch?“ tönte es aus dem Inneren des Hauses. Zugegeben, es war schon gruselig, jemandem die Tür zu öffnen, der bei Stromausfall im Dunkel der Nacht an die Haustür klopft. Trotzdem ließen wir uns nicht verscheuchen.
Wir folgten den uneindeutigen Beschreibungen der netten, alten Dame durch den Garten. Chris Vater schien erst vor kurzem den gesamten Garten umgegraben zu haben, denn wir versanken mit den Füßen im Matsch. Es brauchte fünf Minuten, bis wir die Scheune entdeckt hatten, in die Maria und Josef keinen Fuß gesetzt hätten vor Angst, es könne ein Fussel auf den steril gehaltenen Boden fallen. Wir erklärten der Mutter meines Traummannes, was uns hierher verschlagen hatte, worauf sie uns mitteilte, dass Chris bei seiner Schauspielpartnerin sei.
In diesem Augenblick, als die Welt für mich zusammenbrach, fing es an zu donnern. „Sucht euch eines der Fahrräder aus und passt auf, dass ihr gut nach Hause kommt.“ Sandy ging es sichtlich gut, denn sie wählte das mittlere Fahrrad. Zwei Fahrräder links, zwei rechts festhaltend grummelte ich vor mich hin „Gut, dass wir einen Blitzableiter dabei haben.“
„Beeil dich doch, meine Eltern warten bestimmt schon auf uns.“ Nach zweimaligem Umfallen jedes einzelnen Rades schwang ich mich auf den Gepäckträger und Sandy trat in die Pedale. Wir kamen nicht sehr schnell voran und hielten oft, da die Lenkstange unseres Blitzableiters verbogen war oder andere Defizite auftraten. „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.“ dachte ich mir. Doch ich lag falsch, denn die kleinen Nager am Waldrand waren schneller als wir.
Die Hälfte der Strecke schoben wir das Aluminiumteil neben uns her. Als wir wieder zurück bei Sandy waren, entschwanden wir sofort in ihr Zimmer, um jeglichen Fragen aus dem Weg zu gehen.
Zwei Tage später in der Schule erzählte mir Chris von zwei Mädchen, die sich ein Fahrrad von ihm ausleihen wollten und in strömendem Regen damit nach Hause gefahren sind.
„Komisch, wer so was wohl tut.“ Wunderte sich Chris. Dem fügte ich hinzu „Also ehrlich, wer ist denn so doof und läuft bei Stromausfall durch dunkle Straßen“.