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Verloren (und wiedergefunden)

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02.11.2005
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Verloren (und wiedergefunden)

Es wird langsam Frühling, denkt Sara, als sie heißes Wasser aus dem pfeifenden Teekessel in ihre Tasse gießt. Sie setzt sich an den mit Einkaufstüten vollgestellten Küchentisch und starrt gedankenverloren aus dem Fenster. Sie sollte die frischen Einkäufe ausräumen und zu kochen anfangen, denkt sie. Bald wird ihr Mann und ihre kleine Tochter nach Hause kommen. Wie sich das anhört, denkt sie. Sara rührt in ihrem Tee und sieht den Tauben zu, die vor ihrem Fenster in der Sonne fliegen. Sie verbrennt sich die Zuge als sie den Tee probiert. Durch das gekippte Fenster dringen die Geräusche von spielenden Kindern und langsam vorbeifahrenden Autos.
Nach einer Weile steht Sara seufzend auf und beginnt, die Zutaten für das Abendessen zusammenzusuchen. Sie holt zwei Zwiebeln aus dem Küchenschrank. Beim Schälen muss sie daran denken, was unweigerlich passieren würde, würde man alle aufeinanderfolgenden Schichten der Zwiebel als Schale betrachten und sie entfernen. Kein geheimer Kern würde zum Vorschein kommen, die ganze Zwiebel würde sich als eine Illusion entpuppen, als gekonnte Vortäuschung eines nicht vorhandenen Inhalts. Beim Würfeln der Zwiebeln steigen ihr Tränen in die Augen.
Sie mag das Zischen, das beim Anbraten von Zwiebeln in heißem Öl entsteht. Spaghetti Bolognese wird es geben. Mit einer Hand rühret sie mit einem Holzlöffel weiter in der großen Pfanne, während sie mit der andren das Hackfleisch auspackt. Bei ihnen zu hause wird eigentlich nie Fleisch gegessen.
Früher mochte Sara mal gern Fleisch, doch nun ist es beinahe drei Jahre her, dass sie es das letzte Mal gegessen hat. Ihr Mann ist der Meinung, dass es nicht gut sei, Fleisch, also tote Tiere, zu essen. Aber Fisch, der ist in Ordnung, denkt sie trotzig.
Doch heute ist ein besonderer Tag, heute wird sie Spaghetti Bolognese kochen. Sie will einfach. Schon lange hat sie nicht mehr einen solchen Hunger nach Gehacktem gehabt wie heute. Ristu wird das nicht gefallen, das weiß sie. Besonders nicht, dass das Kind Fleisch essen wird. Aber etwas anderes wird ja nicht da sein. Der Gedanke erheitert sie auf eine seltsame Art.
Sie gibt die Hälfte des Hackfleisches in die Pfanne und rührt bis es krümelig grau wird. Ein guter Geruch nach gebratenem Fleisch steigt ihr in die Nase. Sie rührt Tomaten unter.
Sara ist jung, 24 Jahre alt. Nach ihrem Abitur fing sie eine Lehre als Köchin an. Sie hatte schon immer gern gekocht und die Vorstellung es beruflich zu machen, gefiel ihr. Dieser angefangenen Lehre verdankt sie, dass sie die Möhren für die Soße nun in kurzer Zeit geschält und in feine Würfel gehackt hat. Ihr fällt ein, dass sie vergessen hat Sellerie zu kaufen. Sie beißt sich auf die Lippe. Sellerie ist wichtig für Spaghetti Bolognese, er wird allgemein unterschätzt. Sie gibt die Möhren in die Soße.
Mitten in ihrer Kochlehre hat sie dann ihren jetzigen Mann Ristu kennen gelernt. Damals hatte sie in einem kleinen Restaurant gearbeitet, das einer Freundin von ihr gehörte. Das Restaurant hatte nah bei Ristus Arbeit gelegen, deswegen hatte er immer dort zu Mittag gegessen. Sie erinnerte sich gut an die Mittage die sie zusammen in dem kleinen, dunklen und um diese Zeit fast immer leeren, Restaurant verbracht hatten. Sein Lieblingsessen war damals überbackener Fisch gewesen, den hatte sie auch gern gemocht. Sie hatte ihn von Anfang an attraktiv gefunden, wie er allein an einem großen Tisch saß, mit seinen dunklen Locken und den stahlblauen Augen. Er hatte so rein ausgesehen.
Sara trinkt ihren Tee. Sie hat ihn vergessen und nun ist er kalt. Sie mag keinen kalten Tee und um den Geschmack herunterzuspülen, beißt sie in einen der Pfirsiche, die sie gerade gekauft hat. Sie liebt Pfirsiche.
An ihrem ersten Jahrestag hatte Ristu ihr eine Badewanne voll Pfirsichsaft geschenkt. Er hatte gerade eine Stelle als Ingenieur bekommen und meinte wohl, dass sie sich etwas gönnen könnten. Der Saft hatte in ihren Haaren geklebt und war lange nicht herausgegangen, es war eine einzige Sauerei. Doch Sara hatte es gefallen.
Aber an sich ist Pfirsichsaft nicht mit Pfirsich zu vergleichen, denkt sie. Der Saft ist dick und süß und Pfirsiche sind frisch und fruchtig, wenn auch ein wenig pelzig, denkt sie während sie über die haarige Haut der Frucht streicht.
Klebriger Pfirsichsaft läuft über ihr Kinn, als sie aufsteht und die Küche verlässt. Sie betritt das Zimmer ihrer Tochter Minel. Minel ist drei Jahre alt. Sara setzt sich auf Minels kleines Bett und streicht über die Bettdecke. Da Ristu, gemessen an Saras Erwartungen, überraschend gut verdient, hat Minel ein schönes Kinderzimmer. Alles ist in ihren Lieblingsfarben gelb und rot gehalten und jede Menge Spielzeug steht herum.
Als Kind hätte es Sara hier gefallen. Sie hatte als Kind bei ihrem Onkel gewohnt, der letztes Jahr gestorben ist. Es hat Sara tiefer getroffen als sie erwartet hatte. Sara gefällt der Gedanke, dass Minel in der Welt lebt, von der sie als Kind geträumt hat. Dass jemand für Essen macht, wenn sie nach Hause kommt und dass jemand für sie da ist, immer.
Viele von Saras Freunden haben ihr gesagt, dass dieses klassische Familienmodell veraltet ist und dass sie nicht wegen ihrer Tochter aus dem Beruf auszusteigen brauche, aber sie hatte es so gewollt und Ristu hat es auch gefallen.
Sara geht weiter, durch die Diele, deren Wände auf der rechten Seite mit Minels Bildern geschmückt sind, und auf deren linker Seite eine große Weltkarte hängt, die Sara schon seit sie klein ist, hat. Früher war sie immer versessen darauf, wegzufahren. Sie hatte alle Orte, an denen sie schon war, was nicht sehr viele waren, in blau und alle wo sie noch hin wollte, was viele waren, in rot umkreist. An viele davon gekommen ist sie bis jetzt noch nicht. Ristu will nicht weg. Er fährt nie woanders hin als an die Nordsee, weil er sich sonst fremd fühlt, wie er sagt. Sara fühlt einen Stich im Herz als sie an all die Abenteuer denkt, die sie sich früher ausgemalt hat. Die Nordsee hat weder einen blauen noch einen roten Kringel.
Das erste, was sie sieht, als sie ihr Schlafzimmer betritt, ist sie selbst in dem übergroßen, antiken Wandspiegel, den Ristu von seiner Großmutter geerbt hat.
Sara bleibt stehen und betrachtet sich. Ihre braunen Haare sind gelockt und gehen ihr weit bis über die Schultern. Ihre Augen sind groß und haben die gleiche Farbe wie Haare und Augenbrauen, die einen feinen Bogen über ihren Augen bildeten.
Sie hatte sich immer hübsch gefunden, war immer ganz stolz auf ihr Aussehen gewesen, wenn auch nicht auf eine kokette Weise wie viele andere Mädchen. Doch jetzt sieht sie nur noch Mittelmäßiges, Gewöhnliches, wenn sie in den Spiegel schaut. Sara weiß nicht, warum sie sich so unwohl fühlt, wenn sie sich sieht.
Nein, eigentlich fühlt sie sich nicht unwohl, sie fühlt gar nichts. Höchsten ein wenig Mitleid mit der Person im Spiegel. Diese Person ist nicht sie. Sie hätte sich nie auf ein Leben wie dieses eingelassen. Sie würde nie so farblos aussehen, so glanzlos. Es muss jemand anderes sein. Ein Gefühl der Panik steigt in ihr hoch, nervös fängt sie an, ihre Nägel abzukibbeln. Minel findet meine Nägel hässlich wenn sie so sind, denkt sie fahrig und lässt die Nagelreste auf den Teppich fallen.
Sie riecht, dass die Soße anbrennt und rennt in die Küche. Dort liegt der große Brocken rohes Fleisch, den sie einfrieren wollte. Der Anblick macht sie wütend und erfüllt sie zugleich mit einer unglaublichen Gier, Gier nach Leben.
Sie stürzt zum Tisch und greift mit beiden Händen nach dem rohen Fleisch. Sie presst es sich in den Mund und schlingt es herunter. Immer wieder, immer wieder. Tränen laufen ihr über das Gesicht, als sie nichts mehr als ihre nassen, blutigen Finger spürt.
Langsam kommt sie zur Ruhe, nimmt noch einen Schluck kalten Tee und greift nach einem Pfirsich. Einige Minuten später fühlt sie Speichel im Mund.
Sie rennt in das weiße Badezimmer und erbricht sich stoßweise in die Badewanne, ihre Finger haben sich in den Pfirsich, den sie immer noch in der Hand hält, gekrallt und der Saft tropft auf den Badezimmerboden.
Auf den Fliesen kniend und mit den Ellenbogen auf den Badeannenrand gestützt hält sie inne. Sie betrachtet das Erbrochene in der Badewanne. Das Hackfleisch ist deutlich zu erkennen, obenauf liegt der Pfirsich. Angeekelt wendet sie sich ab und wäscht ihr Gesicht im Badezimmer. Sie greift nach dem rosa Seifenstück und reibt sich damit die Augen, bis sie brennen.
Sara streicht sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und betrachtet sich im Spiegel über dem Waschbecken durch ihre roten Augen. Ja, denkt sie, das bin ich, Sara. Immerhin.
Dann geht sie in die Küche und gießt die fertige Hackfleischsoße in den Ausguss.

 

Hallo yumeka,

und herzlich Willkommen auf kurzgeschichten.de :)

Krasse, im besten Sinne krasse Geschiche hast Du hier hinterlegt. Kompliment, nicht nur für einen Erstling eine gute Leistung.
Die Athmosphäre finde ich sehr dicht, das langsame Aufbauen von Sara, ihrer Fam und ihren relevanten Innenwelten, sauber gestrickt und dicht dargeboten.

Allerdings finde ich die detaillierte Beschreibung der Bolognese-Zubereitung um einige Details zu üppig, das könnte gekürzt werden, um die Geschichte voranzutreiben. Die Athmosphäre, die ja auch auf dem Einsatz der sinnlichen Nahrungserfahrungen von Sara aufsetzt würde dadurch nicht geschmälert, die Geschichte aber vorangetrieben.
Doch wirkliche Längen hat sie nicht, ich hab sie gerne gelesen und fand das Finale furios, die Steigerung kriegst Du klasse hin und hast dadurch sehr intensive Bilder beim lesen in mir entstehen lassen.
Und ein paar mehr Absätze würden den Text einfacher lesbar machen, und das hat er verdient, weil er inhaltlich schon wuchtig bis sperrig ist, da sollte die Form zum lesen einladen. Verdient hat sie es.

Darum nochmal : herzlich Willkommen :)

Details :

Sie holt 2 Zwiebeln aus dem Küchenschrank
Ziffern und Zahlen mindestens bis 12 immer ausschreiben, da hast Du einige von drin.
Dass Minel jemand Essen macht, wenn sie nach Hause kommt
Den Satz musst Du umstellen, "dass jemand für Minel Essen macht", sonst ist Minel in der vorherrschenden Lesweise der Koch für Jemanden :)
Tränen laufen ihr über das Gesicht, als ihre Hände nichts mehr als nasses, blutiges Plastik spüren.
Da hab ich gestutzt, Du meinst vermutlich, daß sie das Fleisch mit der Verpackung greift, doch als Du diesen Griff beschreibst, fehlt die Information auf die Verpackung. Reicht es nicht, wenn sie ihre nackten, ggf. auch blutigen Finger spürt und einfach keine Verpackung genommen hat ?

Wuchtige Geschichte, sehr eindringlich.

Grüße,
C. Seltsem

 

Hallo C. Seltsam!
Danke für deine Kriktik und freut mich dass dir meine Geschichte gefallen hat! Ich habe sie jetzt nochmal überarbeitet, grade die zu ausführlichen Kochbeschreibungen sind mir dann auch selbst aufgefallen. Ich hoffe das ist jetzt besser.
Mit Absätzen habe ich immer so meine Probleme. Ich habe jetzt eine Menge reingemacht, ich hoffe auch an den richtigen Stellen;)

liebe grüße

yumie

 

Hallo yumeka,

die ganze Zeit über war ich am abwarten, ob sich herausstellt, dass sie ihren Mann geschlachtet hat ... oder das Kind. Diese Pointe ersparst du uns und so bleibt einfach das nachdenkliche Gefühl, wieviel eigentlich Fleisch bedeuten kann. Ganz nebenbei hast du eine Lebenskrise beschrieben, ohne jeglichen erhobenen Zeigefinger.

Bin gespannt auf weitere Stücke aus deiner Feder,

AE


Textkram:

Ihr Mann ist der Meinung, dass es nicht gut sei Fleisch, also tote Tiere, zu essen.

MMn fehlt nach sei ein Komma, auch wenns komisch aussieht.

Fleisch steigt ihr in die Nase. Sie rührt Tomaten unter das Fleisch.

Etwas viel "Fleisch".

Damals hatte sie in einem kleinen Restaurant gearbeitet, dass einer Freundin von ihr gehörte

"das" statt "dass"

auf deren linker Seite eine große Weltkarte hängt, die Sara schon seit sie klein ist hat.

klein ist KOMMA hat

was viele wahren, in

waren

Die Nordsee hat weder einen blauen noch einen roten Kringel.

:thumbsup:

 

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