Verloren
Er sitzt im Zug.
Trotz seiner sonst so imposanten 1,90 Körpergröße wirkt er schwach und zerbrechlich. Der grau-melierte Anzug ist zerknittert, die Krawatte schlampig gebunden. Das aschfahle Gesicht hat er gegen die kalte Scheibe gedrückt und starrt hinaus. Grün-gelbe Landschaftsflecken rasen draußen vorbei und verschmelzen zu einem grotesken Aquarell in der unpassend freundlich strahlenden Frühlingssonne. „Warum regnet es nicht an so einem dunklen Tag.“ denkt er müde. Die Sonne scheint ihn auszulachen, die frohen Farben spotten über ihn. „Selbst schuld!“ rufen sie in das vorbeifahrende Zugabteil. Ja, er weiß es verdammt noch mal selber, dass er sich alles selbst zuzuschreiben hat. Der alte Zorn kocht wieder in ihm auf. Er war ein Idiot gewesen, hatte sich täuschen lassen. Wahrscheinlich wollte er sich täuschen lassen, am Ende sogar täuschte er sich selbst. Er schließt die Augen um die verwirrenden Gedanken loszuwerden und vor allem um nicht mehr das schöne Wetter sehen zu müssen. „Wie in einem schlechten Roman.“ schießt es ihm immer noch durch den Kopf, „Mann verzweifelt wegen Frau!“ Er unterdrückt eine Träne, ein Glück nur, dass er alleine im Abteil sitzt. Die Hochzeit war wie im Traum gewesen. Alle seine Kollegen aus der Werbeagentur waren gekommen, sogar sein Chef hatte es sich nicht nehmen lassen ihnen persönlich zu gratulieren und ihm bei dieser Gelegenheit die Aussicht auf eine Beförderung zu geben. Eine vierstöckige Hochzeitstorte, die Eltern überströmt mit Glückstränen und Sekt. Alle verstanden sich prächtig, alles war gut. Eine Hochzeit wie im Märchen. Auch die Flitterwochen auf hoher See, an Bord der kleinen Yacht seines besten Freundes waren einfach traumhaft gewesen. Doch Träume konnten platzen...
Er hat es sich selbst zuzuschreiben, er weiß es.
Obwohl... es heißt doch... es gehören immer zwei dazu... Sie hatte zumindest eine Teilschuld. Wenn nicht sogar den größeren Teil. Er fühlt den Hass stärker werden.
Gut, er hatte viel mehr gearbeitet und war infolgedessen logischerweise weniger zu Hause. Er wollte schließlich unbedingt die Beförderung. Sollte seine Frau schwanger werden, musste er eine richtige Familie versorgen, sie hätten das Geld sicherlich gebraucht. Vielleicht war sie sich ein wenig vernachlässigt vorgekommen. Nein, nicht vielleicht, sie hatte es ihm ja gesagt. Und sie hatte ihm die Affäre gestanden. Unter Tränen. Beide hatten sie geweint, geschrien... er hatte sie geschlagen.
Sein Körper verkrampft sich als er daran denkt.
Nach dem Schlag war es, als ob er sie aus einem langen Schlaf aufgeweckt hätte. Ihre Tränen versiegten. Sie schaute ihn kurz in einer Mischung aus Hass, Liebe und Enttäuschung an, drehte sich um und ging. Er stand, unfähig sich zu rühren mitten im Wohnzimmer und starrte entsetzt auf seine Hand. Nur verschwommen nahm er war wie die Tür ins Schloss fiel. Als er nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorkamen aus seiner Trance erwachte und seine Situation realisierte, begann in ihm die Panik hochzusteigen. Niemals hätte er geglaubt, dass es eines Tages so kommen würde. Niemals durfte er zulassen, dass dies das Ende war. Der Traum durfte nicht aufhören. „Niemals!“
Erschrocken bemerkt er, dass er das letzte Wort laut ausgesprochen hatte. Nach einem kurzen, unsicheren Blick durch das leere Abteil versinkt er wieder in seinen Erinnerungen.
Er war zu seinem besten Freund gefahren. Mit dem Zug, denn seine Frau war mit ihrem gemeinsamen Mercedes verschwunden. Als er verzweifelt an der Haustür Sturm klingelte sah er durch das hell erleuchtete Küchenfenster seinen Freund und seine Frau. Sie weinte, er tröstete sie... streichelte sie... küsste sie. Sie erwiderte die plötzliche Zuneigung. Sie küssten sich nicht lange...
Seine rechte Schulter beginnt schmerzhaft zu pochen. Er hatte versucht damit die Haustür aufzubrechen. Aber so etwas funktioniert nur in Filmen. Das Fenster hingegen konnte er leicht zerbrechen. Er sieht noch ihre verdutzten Gesichter. Das ist das Letzte woran er sich erinnern kann. Was ist passiert?
Er weiß es nicht mehr. Er will es nicht wissen. Eisern hält er an seinem Traum fest, lässt ihn nicht los. Alles muss wieder gut werden. Egal was passiert oder passiert ist.
Plötzlich unterbricht eine Stimme seine Gedanken: „Nächster Halt Ostbahnhof!“ Er schrickt zusammen, fährt sich kurz über das stoppelige Kinn und streicht hastig durch seine normalerweise perfekt gestylten Haare. Er bemerkt, dass sein Hals durch das lange, schräge Liegen ziemlich steif geworden ist. Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm die Haltestelle an der er aussteigen müsste. Aber er steht nicht auf. Warum nicht noch ein bisschen weiter fahren? Vielleicht sollte er ganz aus dieser Stadt verschwinden. Pass, Kreditkarte, ein bisschen Bargeld. Alles was er brauchte hatte er bei sich. Träume lassen sich auch woanders neu aufbauen. Man darf sie nur nicht verlieren! „Zurückbleiben bitte!“ dröhnt es vom Bahnsteig. Der Zug rollt weiter...