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Verlust
Panisch rannte ich die Schrebergärten entlang. Es konnte, nein, es durfte einfach nicht wahr sein! Es war gefährlich, das wusste ich, aber ich musste mir Gewissheit verschaffen, ein für alle Mal.
Keuchend kam ich im Türrahmen einer alten, vertrauten Hütte zum Stehen. Er war da.
„Du warst es!“, meine Stimme überschlug sich fast, obwohl ich eigentlich versuchte, ruhig zu klingen.
Abrupt, mit einem irren Blick drehte er sich um. Dann erhellten sich seine Gesichtszüge. Er lächelte spöttisch. „Hannah, was für eine Ehre!“
„Du bist es gewesen! Ich weiß Bescheid! Du kannst es nicht länger verheimlichen!“ Mein Blick wanderte zur Sporttasche. Dann sah ich die Luke am Boden. „Was hast du vor?“
„Du bist doch sonst so klug. Finde es heraus.“
Unsere Blicke trafen sich. Für einen kurzen Moment war ich nicht sicher, ob er auf mich losgehen würde. „Willst du abhauen?“
„Jetzt hör mir mal zu!“ er packte mich hart an den Armgelenken. Unsere Gesichter waren nur Millimeter voneinander entfernt „Ich habe keine Lust, mir von dir wieder alles kaputt machen zu lassen, verstehst du? Diesmal bin ich der Sieger, dieses Mal habe ich die Nase vorn! Immer hat sich alles nur um dich gedreht, immer warst du die erfolgreiche, die Vorzeigetochter. Ich habe immer alles falsch gemacht! Das schwarze Schaf der Familie! Damit ist jetzt Schluss! Ich habe keine Lust mehr!“ sein Körper bebte. Der Griff um meine Gelenke verstärkte sich.
Ich zitterte. „Aber deswegen bringt man doch niemanden um…“
Er ließ mich los und begann, Geldbündel aus der Bodenluke in die Sporttasche zu packen.
„Was hätte ich denn machen sollen! Manche „Geschäftspartner“ fackeln nicht lange!“ er lachte hysterisch. Die hätten mich umgebracht!“
„Also hast du lieber die Meinkes ermordet.“ Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
„Besser die als ich! Die waren doch sowieso schon steinalt. Und reich. Die ideale Kombination.“
„Man Mike, du bist Polizist!“
Wieder lachte er hysterisch auf. „Ach Hannah, wen interessiert denn das noch! Nur weil du eine so dienst beflissene Polizistin geworden bist, heißt das nicht, das wir alle so sind.“ Er war fertig und klappte die Luke zu.
„Mike, ich muss das den Kollegen melden. Das weißt du.“ Ich zog mein Handy aus der Hosentasche.
Als ich aufblickte sah ich in den Lauf einer Pistole. „Gib mir das Handy.“ Seine Stimme war mit einem Mal ganz ruhig und klar.
Wellen der Panik überkamen mich. Ich kannte meinen Bruder. Wenn er wütend wurde, konnte er laut und brutal sein. Wenn ihn aber urplötzlich der Jähzorn packte, wurde er unberechenbar. Wortlos reichte ich ihm mein Handy.
„Hast du deine Dienstwaffe bei dir?“
Ich schüttelte den Kopf. In der Eile und dem Entsetzen darüber, was ich herausgefunden hatte, hatte ich vergessen sie mitzunehmen.
„Stellt dich an die Wand mit dem Rücken zum mir. Ich will deine Hände sehen. Du kennst doch das Spiel!“ er grinste.
Meine Knie drohten nachzugeben, doch ich gehorchte. Ich stemmte die Hände gegen die Wand mit den Fingerspitzen zueinander und trat ein paar Schritte zurück. Ganz so, wie wir es im Training immer machten.
Ich hörte, wie er die Tür der Gartenhütte schloss. Mir wurde schlecht.
Er trat an mich heran und stellte seinen Fuß zwischen meine Beine. Ich spürte den Lauf seiner Pistole in meinem Rücken. Mit der anderen Hand begann er, meine Hüfte abzutasten. Als er nichts fand, hielt er kurz inne. Dann, plötzlich zog er mit seinem Fuß meine Beine weg, so dass ich mich im Bruchteil einer Sekunde auf dem Boden wiederfand. Es ging so schnell, dass ich keine Gelegenheit mehr hatte, mich abzustützen. Hart schlug ich am Boden auf. Schon spürte ich sein Knie zwischen meinen Schulterblättern. Sein Gewicht nahm mir fast den Atem.
„Du rührst dich keinen Millimeter, hast du verstanden?“ presste er zwischen den Zähnen hervor.
Ich nickte.
Er nahm mein Handy und tippte eine Nummer ein. „Hallo. Ich bin soweit. Ich habe ein kleines Problem, aber das ist bald gelöst. Bis gleich.“ Er erhob sich. „Aufstehen!“ befahl er.
Ich gehorchte, langsam und schwer fällig.
Mit der Waffe deutete er auf die alte Eckbank. „Hinsetzen!“
Wieder gehorchte ich. „Was hast du vor?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Er ignorierte meine Frage. „Wie hast du es herausgefunden?“, wollte er wissen.
Ich schluckte. „Kannst du wenigstens den Finger aus dem Abzug nehmen, bitte?“, flehte ich.
„Beantworte meine Frage!“ Sein Blick war eiskalt. War das wirklich mein Bruder?
„Du warst so verändert, in letzter Zeit.“ begann ich. „Seit Monaten habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Wenn wir uns bei Mama und Papa getroffen haben, warst du seltsam abwesend und auf der Dienststelle bist du mir aus dem Weg gegangen.“ Mein Blick wanderte fieberhaft umher. Ich versuchte Zeit zu gewinnen. Irgendetwas musste mir einfallen, damit ich aus dieser Sache heil herauskam. Er würde mir schon nichts tun, dachte ich. Er war schließlich mein Bruder. Oder täuschte ich mich?
„Komm zum Punkt!“ grollte er wütend.
„Okay,“ begann ich hastig. „Letzten Sonntag habe ich mich mit Mama über den Mord an den Meinkes unterhalten. Sie wusste es aus der Zeitung. Dabei hast du eine Bemerkung fallen lassen, die mir zunächst nicht weiter auffiel. Du hast gesagt, dass ihnen ihr vieles Geld nun auch nichts mehr nutzen würde. Ich habe mich nicht weiter darum gekümmert, aber am Montag sollte ich Klaus im Ermittlungsteam vertreten, weil er plötzlich krank geworden war. Dort habe ich dann weitere Einzelheiten erfahren. Mike, niemand wusste, dass die Meinkes vermögend waren! Sie haben ärmlich gelebt und beim Bäcker die Brötchen vom Vortag gekauft, um Geld zu sparen. Sie waren diese typischen alten Menschen, die alles für „schlechte Zeiten“ aufheben und sich nach dem Krieg nie an den Wohlstand gewöhnt haben. Sie haben nicht mal den Banken getraut und ihr Geld im Haus gut versteckt. Die Spurensicherung hätte um ein Haar das geplünderte Geldversteck gar nicht gefunden! Es war Zufall, dass sie darauf gestoßen sind. Und dann ist mir deine Bemerkung wieder eingefallen. Das hat mich schon stutzig gemacht, aber ich dachte mir, vielleicht ist im Kollegenkreis etwas durchgesickert. Erst heute Morgen wurde mir alles klar! Ich war auf der Beerdigung und wurde von unserer Nachbarin Frau Hallenberg angesprochen. Sie war mit den Meinkes sehr gut befreundet gewesen und wusste wohl um deren Reichtum. Sie sagte, sie verstehe nicht, wie das passieren konnte. Sie hatte dich, da sie dich bereits aus deinen Kindertagen kannte den Meinkes empfohlen. Du solltest in Augenschein nehmen, ob ihr Geld auch wirklich sicher verwahrt war. Sie vertraute dir, schließlich bist du Polizist! Ich konnte es erst nicht fassen und bin sofort zu dir nach Hause gefahren, um mit dir zu reden. Aber du warst nicht da. Ich war in deiner Wohnung und habe das Chaos gesehen und letztlich auch den Drohbrief deiner „Geschäftspartner“, wie du sie nennst. Dann war mir alles klar. Es passte alles wunderbar zusammen. Deine ständige Eifersucht gegen mich, dein permanentes Gefühl, immer im Nachteil zu sein, deine nie enden wollende Geldnot... Mike, bitte sag mir, dass es nicht wahr ist!“, ich blickte ihn an.
Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich fasse es nicht! Selbst jetzt spionierst du mir hinterher! Du willst wohl immer die Bessere sein, stimmst? Du kannst nicht akzeptieren, dass ich ein einziges Mal mehr habe als du! Ein einziges Mal! Einmal wollte ich dir voraus sein! Mit diesem Geld hätte ich meine „Geschäftspartner“ befriedigt und ein Gewinn hätte es noch obendrein für mich gegeben. Aber Du hast wieder alles kaputt gemacht! Alles! Damit ist jetzt Schluss! Ein für alle Mal!“ Mit der Waffe, die er im Laufe meiner Erzählung gesenkt hatte, zielte er jetzt erneut auf mich.
„Was hast du vor?“, fragte ich leise. Meine Stimme zitterte. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. „Mich erschießen?“
„Ja.“, antwortete er knapp.
„Aber Mike,“ versuchte ich, „du bist doch mein Bruder. Ich habe dich immer bewundert. Du bist der Grund, warum ich zur Polizei gegangen bin!“
„Das glaubt dir kein Mensch! Versuch es erst gar nicht. Es ist zu spät. Selbst wenn ich es wollte, ich kann es jetzt nicht mehr aufhalten. Ich muss es tun. Zu viele Leute hängen da mit drin. Ich kann nicht anders. Einmal in meinem beschissenen Leben muss ich etwas tun, bei dem ich gewinne und nicht du. Diesmal hat dich dein Spürsinn und dein Erfolg auf ein totes Gleis geführt.“ Er zielte auf meinen Kopf.
„Mike!“ schrie ich, doch in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. „Paul!“ ich war erleichtert. Mein Kollege von der Mordkommission.
Er blickte erst zu mir, dann zu Mike, der noch immer auf mich zielte. „Ich dachte, du hättest das Problem inzwischen gelöst.“
„Das dachte ich auch.“, zischte Mike.
„Dann bring es endlich hinter dich, damit wir verschwinden können.“
„Paul... ich verstehe nicht...“
„Halt´s Maul!“ schrie er. „Herrgott noch mal! Jetzt bist du wohl sehr überrascht was? Bist wohl doch nicht so schlau, was? Mike, pack´ den Kram und wir verschwinden. Wir nehmen ihren Wagen als Fluchtwagen. Gib mir die Schlüssel Kleine, na, wird´s bald?“
Ich griff in meine Jackentasche und kramte nach dem Schlüssel. Fieberhaft suchte ich nach einer Möglichkeit, den beiden zu entkommen. Ich tastete in meinen Taschen und fand nichts als ein Feuerzeug und die Wagenschlüssel. Es war hoffnungslos. Ich reichte Paul die Schlüssel.
„Sehr gut. Ich lade meine Sachen in ihr Auto und warte auf dich. Beeil dich und mach es gründlich. Bis sie sie finden, sind wir schon im Ausland." Er drehte sich um und verließ die Hütte.
Ich konnte nicht glauben, dass mein Bruder mich töten würde, mein eigener Bruder! Doch meine Berufserfahrung lehrte mich etwas besseres. Söhne brachten Mütter um, Väter vergewaltigten ihre Töchter, es gab nichts, wovor der Mensch nicht halt machte. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Er würde mich töten. Das war´s also.
„Steh auf.“, sagte er. Seine Stimme war plötzlich ruhig und sanft. „Ich will dir keine Qualen bereiten. Wir machen es schnell, versprochen.“
Wie in Trance stand ich auf. Alles kam mir plötzlich langsamer vor, wie in Zeitlupe. „Man wird es hören, wenn du mich erschießt.“, stieß ich gequält hervor. „Nachbarn könnten dich sehen. Noch weiß niemand, was passiert ist. Ich habe es keinem gesagt.“
Er lächelte sanft. „Es ist unfassbar. Sogar das weißt du besser... Aber ich habe daran gedacht. Dein Bruder ist nicht so dumm, wie du vielleicht glaubst.“ Er trat auf mich zu und zog langsam den Gürtel aus seiner Hose.
Noch bevor ich reagieren konnte, riss er mich zu Boden und warf sich auf mich. Mein Hinterkopf schlug hart auf dem Boden auf und für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Er hatte den Moment genutzt und mir den Gürtel um den Hals gelegt. Skrupellos, mit einem Ruck zog er ihn zu. Du hast zwei Sekunden, schoss es mir durch den Kopf. Das hatten sie uns in der Ausbildung immer eingebläut. Zwei Sekunden und die Bewusstlosigkeit konnte bereits eintreten. Ich riss die Arme hoch und schlug ihm ins Gesicht. Immer und immer wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde minimierte sich der Zug um meinen Hals. Ich schnappte nach Luft und zerrte den Gürtel von meinem Hals. Er gab mir eine schallende Ohrfeige, doch ich gab nicht auf. Jetzt würgte er mich mit den Händen. Wieder schlug ich ihm ins Gesicht, doch nun war er darauf gefasst und drückte noch fester zu. Er kniete über mir. Um noch mehr Druck auf meinen Hals auszuüben rutschte er weiter in Richtung Kopf. Das war meine Chance! Langsam begann die Umwelt vor meinen Augen zu verschwimmen, doch ich nahm alle Kraft zusammen und schlug ihm so fest ich konnte zwischen die Beine. Volltreffer! Er schrie wie ein Tier, zu keiner Handlung mehr fähig. Ich bäumte mich auf und warf ihn von mir ab. Er lag am Boden und krümmte sich. Schnell, dachte ich. Wo hatte er die Waffe hingelegt? Er hatte sie doch hoffentlich nicht eingesteckt? Da sah ich sie, auf dem Küchentisch. In dem Moment, als er sich schmerzverzerrt aufrichten und nach mir greifen wollte, nahm ich die Waffe und zielte auf ihn.
Schwer atmend blickte er mich an. Er lächelte. „Das bringst du nicht über dich. Du kannst deinen Bruder nicht töten.“
„Vielleicht.“, sagte ich. „Ich kann nicht kaltblütig Morden, so wie du.“ Auch ich war außer Atem. „Mir hat man beigebracht, Leben zu schützen. Aber ich werde mein Leben verteidigen und wenn es dein Leben kostet!“ Ich versuchte allen meinen Hass und Zorn in meine Stimme zu legen.
Zynisch lächelnd stand er auf.
„Bleib wo du bist!“, rief ich, doch er ignorierte mich. Er kam auf mich zu. „Bleib stehen!“, schrie ich doch es war ihm egal. Noch immer lächelnd stand er vor mir und sah mir in die Augen mit all dem Hass und der Ironie, die er aufbringen konnte. Mit beiden Händen griff er nach der Waffe.
Und plötzlich, ohne Vorwarnung, änderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. Überrascht, ja ungläubig blicke er mich an. Für einen Moment schien die Welt still zustehen. Dann, an die Anrichte gelehnt, sank er ganz langsam zu Boden. Er blickte auf seinen Bauch. Blut sickerte langsam aus einer Wunde. Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum ich den Schuss nicht gehört hatte. Langsam nahm ich die Welt um mich wieder wahr. Was hatte ich getan?
„Mike, wo ist mein Handy? Ich muss den Notarzt rufen!“
Noch immer starrte er mich ungläubig an.
Ich kniete mich zu ihm nieder. „Mike! Hörst du mich! Wo ist mein Handy?“ Ich war verzweifelt!
„Nun , “ flüsterte er kraftlos, „hast du gewonnen. Endgültig. Ich hoffe, du hast jetzt, was du wolltest...“ Traurig wandte er sich von mir ab.
Darauf konnte ich nichts entgegensetzen. Ich war zu fassungslos, zu erschüttert.
Ich fand letztlich das Handy, aber der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun.
Ich hatte noch nie so viel verloren, wie an diesem Tag.