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verpasste Pfade
Gesichter im Nebel des Molochs
Die U-Bahn Nummer 142 läuft quietschend in die unterirdische Station ein. Lautlos öffnen sich die Türen und ein Menschenstrom schwappt über den Bahnsteig. Empfangen wird er von einer wartenden Meute. Sie versucht, gegen den Strom ankämpfend, in die Bahn zu gelangen.
Kurze Zeit später ertönt ein schriller Pfiff und das riesige Gefährt setzt sich schwerfällig wieder in Bewegung. Die roten Rücklichter sehen aus wie hässlich glühende Augen in einem dunklen Schlund. Noch lange starren sie mich an. Aber auch sie verschwinden, irgendwann. Allmählich wird der Lärm, den die Räder auf den Schienen verursachen, leiser. Die Station verwandelt sich innerhalb weniger Augenblicke von einem pulsierenden Lebenszentrum, in dem wir Menschen wie kleine Blutkörperchen umherwuseln, in ein totes Monument menschlicher Vegetation und Technik.
Manch ein Reisender, wie ich, bleibt zurück und wartet im Neonlicht auf eine Anschlussbahn. Ich stelle mich ans Gleis. Obwohl es nicht kalt ist, friere ich und begebe mich, meine Jacke zuziehend, ein paar Meter zurück an ein Geländer. Aber auch dieser Platz ist nicht angenehm und es entsteht ein dumpfes Gefühl von Fremdartigkeit , Ungewissheit und Panik. Es fließt aus mir heraus und erstickt jede Regung des Lebens in den Weiten der Station.
Am Geländer ist mir immer noch kalt, nur das Neonlicht ist um einiges greller geworden. Es erinnert an eine Lampe in einem Verhör. Beinahe höre ich eine gefühlslose Stimme zischen: „Gestehe! Gestehe! Dein Leben ist eine endlose Aneinanderreihung sinnloser, immer zu vermeidender Fehler. Gestehe es! Verdammt!“
Dann ertönt ein schallendes Geräusch - Turnschuhe auf Betonboden. Eigentlich kann es während der ständigen Lärmexplosionen nicht mehr wahrgenommen werden. Hier wird es unerträglich laut.
Ich sehe in die Richtung der Schritte und erkenne eine junge Frau. Ich blicke sie also an, diese Person. Unsere Blicke kreuzen sich. Sie mustert mich ernst, aus dunklen Augen. Dieser Kontakt berührt mich irgendwie auf eine peinliche Art und Weise. Ich lasse den eigenen Blick weiterwandern. Irgendwie habe ich aus Versehen eine Grenze überschritten. Irgendwie bin ich in eine Intimsphäre eingedrungen.
Ihre geheimnisvollen Augen sind wie ein Magnet, so dass ich sie gleich wieder verstohlen ansehen muss. Wie durch Zufall blickt sie zurück. Hilflos wende ich den Blick ab. Aber einen Moment zu spät. Es ist nicht mehr so, als ob ich einfach nur die Umgebung beobachtet hätte, sondern mein Gegenüber hat genau erkannt, dass ich sie gemustert habe. Nur sie! Was denkt diese Person nun? Denkt sie überhaupt? Als ich das nächste Mal in ihre Richtung spähe, erkenne ich, dass auch sie mich heimlich mustert.
Plötzlich jagt ein gellendes Greischen durch die Station. Es sind die Bremsen der nächsten Bahn, die mittlerweile beinahe eingefahren ist. Ich habe es nicht bemerkt, mein Herz rast. Wieder beginnt der Lebensquell der unterirdischen Station zu sprudeln.
Seufzend steige ich in die ankommende Bahn ein und suche mir einen Platz. Die geheimnisvolle Person vom Bahnsteig setzt sich mir schräg gegenüber. Unsere Blicke kreuzen sich wieder flüchtig. Um diesen aus dem Weg zu gehen, hole ich ein Buch aus meinem Rucksack, welches eigentlich viel zu langweilig zum Lesen ist und beginne damit.
Eine Reihe weiter beginnt ein Mobiltelefon einen albernen, polyphonen Klingelton auszuspeien. Der Besitzer nimmt ab und beginnt in einer mir fremden Sprache laut zu diskutieren. Ich muss wieder Willen grinsen und schau in seine Richtung. Allerdings erreichen meine Blicke ihr Ziel nie, sondern werde von der jungen Frau angezogen. Sie bleiben hungrig an ihr hängen. Auch sie lächelt sanftmütig über die komische Situation.
Einige Augenblick bleibe ich an ihren lachenden Augen heften, dann blicke ich schüchtern wieder zur Seite. Einen Herzschlag länger und ich hätte mit irgendwelchen sinnlosen Floskeln ein Gespräch anfangen müssen. Das wäre unangenehm gewesen. Zwei weitere fremde Personen sitzen nämlich neben uns.
Obwohl wir beide nicht der zwischenmenschlichen Verbindung wegen gelächelt haben, sondern auf Grund einer eigentlich überhaupt nicht lustigen Situation, war es irgendwie ein bizarrer, unvergesslicher Moment. Ich wünsche verzweifelt einen weiteren dieser Art herbei. Es ist schön mit ihr über irgendeine Belanglosigkeit zu lachen.
Es ertönt eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher, welche die nächste Haltestelle ankündigt. Die Person packt ihre Sachen und steht auf. Es kreuzen sich ein letztes Mal die Blicke, flüchtig lächelt man sich zu, dann geht sie aus dem Abteil und verschwindet aus der Bahn. Ich hoffe, sie noch einmal am Zug vorbeilaufen zu sehen, aber sie verschwindet in eine andere Richtung und wird von der fremden Stadt verschluckt.
Einsam fahre ich weiter einem ungewissen Ende, das gleichzeitig ein Anfang sein wird, entgegen. Dabei denke ich darüber nach, was sich alles hätte entwickeln können, wenn ich sie angesprochen hätte. Aber die Chance ist verpasst, das Leben nimmt einen anderen Pfad. Vielleicht, überlege ich, habe ich auf diese Person aber auch nur persönliche Bedürfnisse transferiert. In ihr das gesehen, was ich sehen wollte. Ein verzerrtes Bild, welches der Realität nicht gleicht. Vielleicht hätte sie sogar ganz anders ausgesehen, hätte ich sie unter anderen Umständen getroffen. Vielleicht aber auch nicht.
Die quäkende Lautsprecherstimme ertönt ein weiteres Mal. Nun wird es nicht mehr lange dauern, dann werde auch ich aussteigen und mich auf den Weg machen. Hinauf in eine dunkle, nasskalte Stadt, die trotz der späten Stunde im Takt ferner, dumpfer Trommeln pulsiert.