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Verrückte Quantenwelt
"Oh, klasse! Ein Baukasten für eine Ritterburg. Vielen Dank Oma!" Elek und Tron hüpften vor Aufregung noch schneller auf und ab und rannten ins Kinderzimmer. Man konnte nur noch verschwommen ihre Konturen erkennen. Renate strahlte und folgte ihnen, um zu zusehen, wie sie ein Stück Pappe voller bunter Linien auf dem Boden ausbreiteten.
"So, jetzt können wir die Steine werfen", sagte eins der Zwillinge. Die Kinder nahmen gleich beide Hände voll von den hellbraunen Bausteinen aus der Packung und warfen sie auf den Plan. Im ersten Moment sah es so aus, als wenn sie zufällig irgendwo landen würden, doch nach und nach konnte man Mauern und bald darauf den ersten Turm erkennen. Einem der Zwillinge schien dies zu langweilig zu sein, er hob einen blauen Klotz vom Boden auf und warf ihn gezielt auf den Turm. Aber er landete über einer Fensteröffnung.
"Mein Stein soll oben auf dem Turm sein!", krähte das Kind.
"Beim Werfen fallen die Steine nach den Wahrscheinlichkeiten, die auf dem Plan gespeichert sind", erklärte das andere.
"Das Spiel ist doof!", rief das erste Kind und stieß das Bauwerk mit dem Fuß um.
"Und du bist ein doofer Spielverderber!", schrie das Zweite und warf den blauen Baustein seinem Geschwister an den Kopf.
"Schluss jetzt Kinder, sonst geht ihr gleich ins –" Noch bevor Jeannette die Drohung ausgesprochen hatte, waren die beiden Frechdachse durch die Wand nach draußen getunnelt.
"Gehen deine Zwillinge denn nicht zur Kopenhagener Schule?", fragte Renate ihre Tochter.
"Doch sicher", antwortete diese und verdrehte die Augen. "Aber selbst Professor Bohr verzweifelt fast an den beiden. Sie fragen immer, wofür sie denn lernen sollen, die Plancksche Wirkungskonstante innerhalb ihres Körpers zu verkleinern. Ich weiß nicht mehr, was ich mit ihnen machen soll!"
"Aber dein Großer ist doch vernünftiger, nicht wahr?" Renate sah ihre Tochter voller Hoffnung an.
Jeannette warf einen Blick auf die Uhr und eilte dann zur Terrassentür. "Ach du je, ich habe ja ganz vergessen, dass Fermi um fünf nach Hause kommen wollte! Er nimmt wieder die beiden Trampelpfade hier hinten. Wenn ich ihn nicht beobachte, kann er doch nicht kommen!" Kaum hatte sie über den Gartenzaun geschaut, tauchte auch ein schlaksiger Achtzehnjähriger auf und schaute seine Mutter vorwurfsvoll an. Während er seine Großmutter begrüßte, kramte Jeannette einen Brief aus einer Schublade hervor. Sie hielt ihn ihrem Sohn unter die Nase und rief: "Unser Auto ist mit 180 Stundenkilometer geblitzt worden!"
Der junge Mann warf einen Blick darauf und fragte unschuldig: "Wo denn?"
"Du weißt genau, dass die Polizei nicht gleichzeitig die Geschwindigkeit und den Ort messen kann!", rief seine Mutter. "Aber dein Vater und ich sind bestimmt nicht so schnell gefahren!"
"Du kannst es mir nicht beweisen!" Fermi grinste triumphierend, ließ sich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher an.
"Also nach der langen Reise möchte ich mich erst einmal frisch machen", erklärte Renate und verschwand im Badezimmer.
Jeannette schaltete die Kaffeemaschine ein, sank auf einen der Küchenstühle und griff nach dem Telefon.
"Mir reicht's endgültig!", seufzte sie und drückte eine der Kurzwahltasten. Sofort meldete sich eine alte, müde Stimme.
"Bedenke die Konsequenzen!"
Jeannette verdrehte ungeduldig ihre Augen. "Ich weiß, dass du meine Gedanken kennst! Lass mich bitte trotzdem ausreden, damit ich mir selber darüber klar werde!"
Sie hörte einen tiefen Seufzer.
"Das kann nicht so weiter gehen, so können wir nicht leben! Wir brauchen Sicherheiten in unserem Leben..."
"Es gibt keine!"
"Ja, ich weiß! Aber wir lebende Wesen brauchen feste Regeln, nach denen unsere Welt funktioniert."
"In eurer Quantenwelt..."
"Verdammt noch mal, ich hatte auch Physik bei Professor Bohr!" Jeannette schlug mit der Hand auf den Küchentisch.
"Ich habe schon unzählige Ausnahmen für euch gemacht, so dass ihr die Plancksche Wirkungskonstante für euch selber zu verkleinern könnt. Eine Konstante individuell anpassungsfähig zu machen, war schwierig genug!"
"Eben, es sind alles Ausnahmen! Das ist doch Flickschusterei!" Jeannette holte tief Luft. "Kannst du uns nicht wenigstens die Illusion von festen Naturgesetzen lassen, dass Materie immer undurchdringlich ist, dass man sagen kann, wo ein Auto geblitzt worden ist usw.? Und es dann ein für alle Mal dabei belassen?"
"Die Welt würde viel mühseliger werden für euch! Einiges wäre immer noch statistisch bestimmt, nur auf einer anderen Ebene. Ihr würdet alles für ungerecht und grausam halten!"
"Das ist es jetzt auch schon! Außerdem hättest du dann nicht mehr so viel Arbeit!"
Vom anderen Ende der Leitung kam wieder ein tiefer Seufzer.
"Da sagst du was! Ich bin es auch Leid, mich ständig mit euren Wunschlisten rumzuplagen und dauernd Änderungen am System vorzunehmen! Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur sechs Tage zu arbeiten!"
"Na also! Warum genießt du dann nicht endlich deine wohl verdiente Ruhe?"
War das ein Schniefen, was Jeannette da hörte?
"Hallo! Bist du noch da?", fragte sie.
"Ich bin immer da!"
"Klar doch! Also, was ist das Problem?"
"Ihr würdet euch nur noch an diese festen Naturgesetze klammern."
"Na und?"
"Niemand würde mehr an mich glauben!"
"Das kann ich mir nicht vorstellen!"
"Sollen wir wetten?"
"He, gerne! Was ist dein Einsatz?"
Jetzt hörte Jeannette ein trockenes Lachen.
"Du würdest deinen Gewinn zwar bekommen, aber nicht mehr wissen, wofür! Ihr werdet nicht mehr mit mir reden können, die Erinnerung an unsere Gespräche wäre gelöscht."
"Ach so!"
"Ich würde sehr einsam werden!"
"Oh, das tut mir Leid! Könntest du nicht eine Ausnahme machen?"
"Du hast doch gerade eben vorgeschlagen, dass es keine Ausnahmen mehr geben soll!"
"Na ja, nur für mich, du weißt doch, ich bin deine bester Freundin!"
"Tja, das sagt jeder. Wenn ich erst einmal anfange, Ausnahmen zu machen, dann hört es nicht wieder auf, das kennen wir doch alle. Aber keine Sorge, ich werde schon klar kommen. Also gut, ich könnte die Plancksche Wirkungskonstante erheblich verkleinern. Die Effekte, die dich so beunruhigen, werden nur noch auf Quantenebene wirken. In eurem Alltag werdet ihr sie nicht mehr bemerken. "
"Wirklich, habe ich dich doch überzeugt?"
"Du und die 10 hoch 27 anderen, die in den letzen Äonen angerufen haben. Aber einige merkwürdige Phänomene werden in eurer Welt bleiben. Die verschiedenen Erklärungen dafür werden euch eine Menge Anlass zum Streiten bieten."
"Damit werden wir schon klar kommen. Jedenfalls danke für Alles!"
"Dann mach's mal gut!"
"Auf wiederhören!"
"Nein, Tschüß! Auch in deinen nächsten Leben wirst du mich nicht mehr anrufen können!"
Es knackte in der Leitung und Jeannette saß noch einen Augenblick mit dem Hörer in der Hand da. Auf einmal hatte sie Bedenken. Wie würde die Welt sich verändern?
Ihre Mutter kam aus dem Bad, setzte sich neben sie, räusperte sich und fragte: "Hör mal Jeannette, ich habe dir doch mal von dieser Nachbarin erzählt, die durch Handauflegen heilen kann, nicht wahr?"
"Für so etwas haben wir kein Geld!", antwortete Jeannette. "Es dauert einfach ein bisschen, bis das Medikament gegen das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom bei Elke und Thorsten anschlägt!"
"Willst du dann nicht wenigstens zum Mütter-Gesprächskreis in unsere Kirchengemeinde kommen?"
"Nein! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nichts von diesem altmodischen Religionsquatsch halte?"
"He Mama!", rief Frederik in diesem Moment aus dem Wohnzimmer. "Du hast doch am 23.5. Geburtstag, nicht wahr?"
"Ja, was soll das jetzt?", antwortete Jeannette.
"Und Papa ist am 6.6.49 geboren, stimmt's?"
"Ich rede jetzt gerade mit Oma!"
"Tippst du die Zahlen nicht immer beim Lotto?"
Einen Moment lang glaubte Jeannette, ihr Herz würde stehen bleiben. Dann raste sie ins Wohnzimmer, gerade rechtzeitig, um am Fernseher mitzuerleben, wie eine kleine Kugel mit der Zahl dreizehn aus dem gläsernen Behälter rollte.
"He, das ist ja mein Geburtstag! Jetzt fehlt noch die drei für den März!", rief Frederik.
"Wo ist mein Lottoschein?" Jeannette wühlte hektisch in der Kommode.
"Du kreuzt doch immer diese Zahlen an!"
"Ja, genau in der Reihenfolge", flüsterte Jeannette und sank mit dem Lottozettel in ihren feuchten Händen aufs Sofa. Die Kugel mit der Zahl drei rollte in den letzten freien Platz.
"Wahnsinn, wir haben sechs Richtig!", Frederik sprang auf. "Kriege ich jetzt endlich mein eigenes Auto?"
"In genau der Reihenfolge?", fragte Renate und fingerte an dem Kreuz vor ihrer Brust herum. "Das ist unmöglich, das muss eine tiefere Bedeutung haben!"
"Ach Quatsch", widersprach Frederik. "Die statistische Wahrscheinlichkeit ist äußerst gering, aber es ist durchaus möglich, das sieht man doch."
"Mein Gott, womit habe ich das verdient?", flüsterte Jeannette.
Zu einigen Ideen im ersten Teil meiner KG hat mich Robert Gilmores Buch "Alice im Quantenland" angeregt. Darin wird Alice, die in den Elektronenstrom ihres Fernsehers gerät, die Quantenphysik sehr anschaulich erklärt. Wer Näheres wissen möchte, dem empfehle ich dieses geniale Buch. Mir klar, dass solche Allegorien und Modelle der Wirklichkeit immer hinterher hinken. Sie sollen in erster Linie dazu dienen, einem Laien komplizierte Sachverhalte verständlich zu machen.