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Versinken

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29.08.2003
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Versinken

Er stapft langsamen, schweren Schrittes durch den Schnee. Egal, wie oft er die Richtung ändert, die nassen Flocken fallen ihm immer ins Gesicht. Die Bäume werden schwächer und schwächer, immer öfter müssen sie die große Last von sich abschütteln. Der Boden trägt den Schnee, aber der Schnee trägt seinen Körper nicht.

Es dämmert, und er glaubt, in der Ferne eine Brücke erkennen zu können. „Dort will ich rasten, die Beine sind mir schwer“, denkt er und die Hoffnung beschleunigt seinen Schritt. Plötzlich steigt eine Erinnerung an seinen Enkel in ihm empor, mit dem er vor langer Zeit durch den Schnee gelaufen war, damals keine Spur von Versinken, kein Versinken in der Spur, keine Spur im Schnee.

Der Mann erreicht die Brücke und stützt sich keuchend auf das Geländer. Er schüttelt den Schnee von den Schuhen und streicht die Flocken von seiner Schulter, dabei wird seine Hand nass. Mit ihr wischt er sich um den Mund, es war ihm Speichel herausgelaufen, und er hatte es nicht bemerkt. „Das wäre mir früher nicht passiert, da war ich ansehnlich. Jetzt läuft mir schon der Mund aus“, denkt er und ekelt sich. Der Bach ist noch nicht gefroren. „Eigenartig, es ist doch schon seit Wochen sehr kalt“, denkt er und wundert sich. Das Wasser springt lebendig die Steine hinunter, als wolle es sagen: „Komm, spring mit!“. Beinahe schwarz wirkt es in diesem Dämmerlicht. Da entdeckt er eine Stelle, an der sich das Wasser schaumig bricht und überschlägt. „Es muss ein kleiner Felsen unter dem Wasser sein“, denkt er und lehnt sich über das Geländer. Es ist zu schon zu dunkel, er kann nichts erkennen. Dennoch versucht er, seine Augen an diese Stelle zu heften, doch das Wasser reißt immer wieder seinen Blick mit sich.

In der Ferne sind Kinder zu hören, sie schreien und lachen. Er dreht sich in ihre Richtung und lauscht ihrem Toben. „Vielleicht bauen sie einen Schneemann, wie ich damals mit meinem Enkel“, denkt er und lässt eine Träne frei. Da fällt ihm die Stelle wieder ein, er überquert die Brücke und klettert den Abhang zum Bach hinunter. Er rutscht aus und landet im eiskalten Wasser. „Ich fühle nichts“, denkt er und richtet sich auf. Er eilt auf die Stelle zu, an der sich das Wasser schaumig bricht und überschlägt. Mit den Beinen ertastet er tatsächlich einen kleinen Felsen unter der Wasseroberfläche. „Meinem Enkel würde das gefallen“, denkt er und lächelt.

Er bemerkt nicht, dass ihm Speichel aus dem Mund läuft.
Er bemerkt nicht, wie das Wasser rauscht und schneller wird.
Er bemerkt nicht, dass seine Beine schon ganz kalt sind.
„Ich versinke gar nicht“, denkt er, tief einatmend, und schließt die Augen.

 

Hi kardia!

Na ja, Stimmungsbilder der Hoffnungslosigkeit gibt es zwar wie Sand am Meer, vor allem solche, an deren Ende der Tod steht, aber die Umsetzung beweist, dass du im Handwerk des Schreibens keine Anfängerin bist. Ich konnte die Einsamkeit des Mannes und das Gefühl, nur noch immer schwächer werdend vor sich hinzuvegetieren, gut nachempfinden, die unterschwellige Todessehnsucht zumindest nachvollziehen.
Ob jetzt der angedeutete Erfrierungstod unbedingt sein muss, weiß ich nicht, aber es passt.

Mir sind folgende Stellen aufgefallen:

Zum Glück, denn stellen Sie sich vor, Sie könnten über Schnee wie über festen Boden gehen!

Dass der Erzähler den Leser direkt anspricht, finde ich unpassend. Du erzählst in einer leisen Tonart eine Stimmungsgeschichte, und da ist es fehl am Platze, dies durch laute "Unterhaltung" mit dem Leser zu durchbrechen. Du kannst diese Sätze gut streichen. Dass das mit dem Versinken symbolische Bedeutung haben soll, wird jeder, der für die Stimmung des Textes empfänglich ist, verstehen.

Es dämmert, und in der Ferne glaubt er, eine Brücke erkennen zu können.

Also als er in der Ferne ist, glaubt er eine Brücke erkennen zu können? Es sollte heißen: "Es dämmert, und er glaubt, in der Ferne eine Brücke erkennen zu können."

Plötzlich muss er sich an seinen Enkel erinnern, mit dem er vor langer langer Zeit durch den Schnee gelaufen war, damals keine Spur von Versinken, kein Versinken in der Spur, keine Spur im Schnee.

Er muss sich erinnern? Der Ärmste. Besser "er erinnert sich". Und ein langer kann weg. Das klingt sonst wie "Es war einmal vor langer, langer Zeit ...", was einen infantilen Unterton erzeugen würde.
Und was bezweckst du mit dem Wortspiel am Schluss des Absatzes? Ich sehe seine Funktion in der Geschichte nicht.

Das Wasser springt lebendig die Steine hinunter, als wolle es sagen „Komm, spring mit!“, beinahe schwarz wirkt es in diesem Dämmerlicht.

Hinter sagen einen Doppelpunkt, hinter der wörtlichen Rede besser einen Punkt. Der Gedanke ist zu bedeutend innerhalb der Geschichte, um als Nebensatz behandelt zu werden.

„Vielleicht bauen sie einen Schneemann, wie ich damals und mein Enkel“

Wenn schon, dann "wie ich damals mit meinem Enkel" oder "wie ich mit meinem Enkel damals".

Er bemerkt nicht, dass ihm Speichel aus dem Mund läuft.
Er bemerkt nicht, wie das Wasser rauscht und schneller wird.
Er bemerkt nicht, dass seine Beine schon ganz kalt sind.

Der anaphorische Satzanfang ist hier irgendwie unpassend. Eine Anapher ist zur Bekräftigung da, verleiht einer Aussage Nachdruck und Schärfe. Hier ist das überflüssig.

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass du versucht hast, so viele von den Stilmitteln, die du in der Schule erlernt hast, wie möglich in diesen Text einzubauen, allerdings ohne auf die harmonische Konsistenz zu achten.
Meist verschwindet diese Schwäche durch ausreichend Übung.
Das Sprachniveau hat mich zuweilen an die Borchert-Geschichten erinnert. Für meinen Geschmack etwas zu einfach, aber dafür ist es ja Geschmackssache. ;)

Ciao, Megabjörnie

 

Hallo Kardia,
hat mir gut gefallen in seiner leisen Art.

wie ich damals und mein Enkel
vielleicht besser:wie ich damals mit meinem Enkel

Der Boden trägt den Schnee, aber der Schnee trägt ihn nicht.
Anders als Lukas hat mir der Satz besonders gut gefallen; da ervorher schon erwähnt war, hab ich ihn nicht auf den Boden bezogen. Und diese Dreiheit Boden - Schnee - Mensch fand ich schön.

„Ich fühle nichts“, denkt er und richtet sich auf.
Aber Erfrieren ist doch eigentlich sehr schmerzhaft.

Gruß, Elisha

 
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Hallo Kardia

damals keine Spur von Versinken, kein Versinken in der Spur, keine Spur im Schnee
Schönes Wortspiel!

Sie hat mir gut gefallen, deine kleine, teils poetische Momentaufnahme.
Du be- und umschreibst sehr liebevoll. Wenn du jetzt noch ein paar unnötige Füllwörter und die vielen 'er denkt' o. 'denkt er' streichst, dann habe ich nichts zu mäkeln. :thumbsup:

Gruß Phoenix

 

Zitat von Elisha:

Aber Erfrieren ist doch eigentlich sehr schmerzhaft.

Hehe. Falsch. Erfrieren ist nach meinem Wissen eine der schmerzlosesten Todesarten. Der Körper verbrennt so viel Energie, dass sich nach einiger Zeit eine wohlige Müdigkeit in ihm ausbreitet. Viele Erfrierungsopfer schlafen tief und fest ein, bevor es sie ereilt. :teach:

 

@Megabjörnie
Wenn Schnee liegt, gehe ich morgens kurz mit bloßen Füßen raus. Das ist eine tolle Erfahrung, aber man muss es gut timen. Zunächst hat man das Gefühl, dass der Schnee einem nichts anhaben kann. Doch bleibt man nur eine Sekunde zu lang, ist es schmerzhaft. Wenn ich mir das dann zeitlich verlängert vorstelle, ...aua!

 

Ja, aber das ist die ungefährliche Phase. Solange du deine Gliedmaßen spürst, sind sie noch dran. Erst wenn sie taub werden, wird es gefährlich. Und der Mann in der Geschichte hat die Phase, in der er die Kälte noch spüren konnte, schon hinter sich. Außerdem ist er ja durch den Stein abgelenkt. Insofern ist die Szene durchaus glaubwürdig.

 

Hallo kardia,
üblicherweise haben Titel, die aus einem Wort bestehen, keine Satzzeichen am Schluss. Ist dieser Punkt ein wichtiges literarisches Stilmittel für dich? Ansonsten würde ich dir anbieten, ihn zu entfernen. ;)

 

Hi Megabjörnie!

Ich hab' deine Ratschläge berücksichtigt, außer die sich wiederholenden Satzanfänge am Textende. Deine Bermerkung zu den Stilmitteln muss ich zurückweisen: Ich kenn mich mit ihnen zwar aus, hab aber beim Schreiben nie daran gedacht. Der Grund für die Wiederholung: Für mich stellt sie eine Steigerung der Dramatik dar, vielleicht aber nur beim laut Lesen. Ich hab' da konkrete Intonationen im Ohr, aufgrund derer, da sie mich berühren, ich die Stelle nicht ändern will.
Danke für die ausführliche Rückmeldung!

Hi Elisha!

Ich find es - natürlich als Autorin - auch plausibel, dass der Mann das kalte Wasser nicht fühlt: Er befindet sich in einem kleinen Wahn, besessen von der Wasserstelle, die seinem Enkel gefallen würde. Anderseits ist er sich schon bewusst (er sieht ja die Welt), vielleicht fordert er sein Ende auch heraus...

Die Sekunde zuviel, barfuß im Schnee, kenn ich auch...

Danke!

Hi Phoenix26!

jaaaa... das ist meine Lieblingsstelle... und das Wasser, dass den Blick mit sich reißt.

alles liebe

Hi Kira!

Der Punkt ist nur so eine Eigenheit von mir, den ich auf der Kurzgeschichtenseite eigentlich nie dazuschreib, hab aber dieses Mal vergessen. Wie kann ich das ändern?

kardia

 

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