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Versinken
Er stapft langsamen, schweren Schrittes durch den Schnee. Egal, wie oft er die Richtung ändert, die nassen Flocken fallen ihm immer ins Gesicht. Die Bäume werden schwächer und schwächer, immer öfter müssen sie die große Last von sich abschütteln. Der Boden trägt den Schnee, aber der Schnee trägt seinen Körper nicht.
Es dämmert, und er glaubt, in der Ferne eine Brücke erkennen zu können. „Dort will ich rasten, die Beine sind mir schwer“, denkt er und die Hoffnung beschleunigt seinen Schritt. Plötzlich steigt eine Erinnerung an seinen Enkel in ihm empor, mit dem er vor langer Zeit durch den Schnee gelaufen war, damals keine Spur von Versinken, kein Versinken in der Spur, keine Spur im Schnee.
Der Mann erreicht die Brücke und stützt sich keuchend auf das Geländer. Er schüttelt den Schnee von den Schuhen und streicht die Flocken von seiner Schulter, dabei wird seine Hand nass. Mit ihr wischt er sich um den Mund, es war ihm Speichel herausgelaufen, und er hatte es nicht bemerkt. „Das wäre mir früher nicht passiert, da war ich ansehnlich. Jetzt läuft mir schon der Mund aus“, denkt er und ekelt sich. Der Bach ist noch nicht gefroren. „Eigenartig, es ist doch schon seit Wochen sehr kalt“, denkt er und wundert sich. Das Wasser springt lebendig die Steine hinunter, als wolle es sagen: „Komm, spring mit!“. Beinahe schwarz wirkt es in diesem Dämmerlicht. Da entdeckt er eine Stelle, an der sich das Wasser schaumig bricht und überschlägt. „Es muss ein kleiner Felsen unter dem Wasser sein“, denkt er und lehnt sich über das Geländer. Es ist zu schon zu dunkel, er kann nichts erkennen. Dennoch versucht er, seine Augen an diese Stelle zu heften, doch das Wasser reißt immer wieder seinen Blick mit sich.
In der Ferne sind Kinder zu hören, sie schreien und lachen. Er dreht sich in ihre Richtung und lauscht ihrem Toben. „Vielleicht bauen sie einen Schneemann, wie ich damals mit meinem Enkel“, denkt er und lässt eine Träne frei. Da fällt ihm die Stelle wieder ein, er überquert die Brücke und klettert den Abhang zum Bach hinunter. Er rutscht aus und landet im eiskalten Wasser. „Ich fühle nichts“, denkt er und richtet sich auf. Er eilt auf die Stelle zu, an der sich das Wasser schaumig bricht und überschlägt. Mit den Beinen ertastet er tatsächlich einen kleinen Felsen unter der Wasseroberfläche. „Meinem Enkel würde das gefallen“, denkt er und lächelt.
Er bemerkt nicht, dass ihm Speichel aus dem Mund läuft.
Er bemerkt nicht, wie das Wasser rauscht und schneller wird.
Er bemerkt nicht, dass seine Beine schon ganz kalt sind.
„Ich versinke gar nicht“, denkt er, tief einatmend, und schließt die Augen.