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Verspätung
Mit einem Ruck setzte sich die Lokomotive in Bewegung. Weißer Dampf fauchte an verschiedenen Stellen aus dem Gewirr aus stählernen Streben und Rohren, und der auf dem mächtigen Kessel thronende Schornstein spie beißenden, schwarzen Qualm aus, der sich wie eine Gewitterwolke in den Himmel hinauftürmte. Die Menschen auf dem Bahnsteig jauchzten voller Begeisterung im Angesicht des überwältigenden Augenblickes, und ihr Jubelgeschrei vermischte sich mit dem mechanisch präzisen Getöse der Lokomotive zu einem großen Missklang – zu einer lärmenden Hymne an den technischen Fortschritt.
Franz Runge klammerte sich an seine Ledertasche und wankte hinter einer fettleibigen und aufgeregt quasselnden Dame in Richtung des nächsten Wagens. Unter ihm rumpelten und bebten die Dielen und übertrugen jede Erschütterung in seine zitternden Knie.
„Ist das nicht aufregend?“ Die Fette wandte sich im Gehen ihm zu und strahlte über beide Pausbacken. „Ich sage Ihnen, so eine Zugfahrt, also das ist schon, also wenn ich an unsere letzte Schiffstour denke … Ach, man mag gar nicht drüber nachdenken. Finden Sie nicht auch?“
Runge mühte sich ein Lächeln ab. Ihm war elend. „Sicher.“
„Ah! Da sind wir auch schon.“ Sie kramte ein Billet aus dem Mantel und drehte es zwischen ihren rosigen Fingern.
Runge wusste, dass es das Wanken und Schaukeln des Zuges war, das seine Magensäfte zum Brodeln brachte und ihm die Kräfte raubte, aber der Anblick der feisten Wachtel war nicht gerade das beste Gegenmittel. „Entschuldigung, könnte ich …“, murmelte er und deutete an ihrer Leibesfülle vorbei.
„Oh, aber natürlich.“ Sie zwängte sich in ihr Separée und machte den Weg frei.
Runge war mit ein paar unsicheren Schritten am Ende des Wagens angelangt, hatte die Tür aufgerissen und stand auf der kleinen Plattform im Freien, über die man in den nächsten Waggon gelangen konnte. Tief sog er die rauchgeschwängerte Fahrtluft in sich auf. Sein Magen beruhigte sich ein wenig. Seine Knie sicherten ihm wieder einen festeren Stand. „Was finden die Leute nur an diesen Ungetümen?“
„Sie bringen sie immer dahin, wo sie hingehören.“
Runge zuckte zusammen und blickte zur Seite. Ein großer, hagerer Mann mit schlohweißen Haaren stand an das Gitter gelehnt und betrachtete ihn.
„Habe ich Sie erschreckt?“
„Nein. Ich …“, stammelte Runge. „Ich hatte Sie nur nicht bemerkt. Das Zugfahren bekommt mir nicht, wissen Sie.“
Der Hagere nickte, und ein Mona-Lisa-Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. Erst jetzt bemerkte Runge, dass er die Uniform der Reichsbahn trug. Sie schien ihm einige Nummern zu groß zu sein und flatterte im Fahrtwind, als hätte man sie achtlos über einen Kleiderständer geworfen.
„Sind Sie der Schaffner? Wie es scheint, kann ich mein Separée nicht finden.“
Runge wollte gerade mit der freien Hand nach seinem Billet kramen, da winkte der Hagere ab und sagte: „Lassen Sie nur. Wir haben ohnehin alle dasselbe Ziel. Nehmen Sie Platz, wo Sie wollen, und versuchen Sie, die Fahrt zu genießen. Rauchen Sie?“ Er bot ihm eine zerknüllte Packung Zigaretten an.
„Nein, ein zu tödliches Laster“, sagte Runge konsterniert. Er lehnte sich an die Wagenwand und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Er spürte, wie die Blicke des Hageren auf ihm ruhten, dennoch überkam ihn eine Leichtigkeit, die er nicht mehr gespürt hatte, seit …
„Sie hatten einen Unfall.“
„Wie bitte?“ Runge blickte den Schaffner verständnislos an, doch dieser deutete nur mit dem Kinn auf seinen Ellbogen. „Oh, das.“ Er hatte nicht bemerkt, wie er mit der freien Hand begonnen hatte, seinen Ellbogen zu massieren. „Einen Reitunfall, ja. Ich muss verdammtes Glück gehabt haben. Sagen zumindest die Ärzte. Ein Haufen gebrochener Knochen. Hätte aber auch anders ausgehen können. Wahrscheinlich kann ich froh sein, heute überhaupt hier zu sein.“
„Ein Reitunfall“, flüsterte der Hagere. Langsam wanderten seine Mundwinkel auseinander, und seine Lippen trennten sich, als hätte man ihm ein Skalpell über das Gesicht gezogen. Eine Reihe langer, weißer Zähne blitze auf. „Na, dann hoffe ich, dass Sie mit diesem Ross mehr Glück haben.“ Das Skalpell-Grinsen wurde noch breiter, und irgendwo aus der wehenden Uniform heraus drang ein kehliges Kichern. „Stahlross … köstlich …“, krächzte er und verschwand im Inneren des Waggons.
Runge schüttelte den Kopf und versuchte, die Erinnerung an den Tag beiseite zu schieben, an dem sein Leben beinahe ein Ende genommen hätte. Hoffentlich habe ich mit diesem Ross mehr Glück. Idiot. Dann ging er wieder hinein. Im ersten Separée des Wagens waren noch ein paar Plätze frei. Er stellte sich bei seinen Mitreisenden vor, ließ sich in die Polster sinken und fiel in einen tiefen Schlaf.
Runge wurde durch ein heftiges Schütteln aus dem Schlaf gerissen. Mühsam öffnete er die Augen und sah sich um. Die beiden Männer gegenüber waren in ein Gespräch vertieft. Neben ihm saß ein älterer Herr, der ihn anlächelte.
„Na, gut geschlafen?“
Er richtete sich auf, reckte sich und rieb sich die Augen. „Himmel, ich muss völlig weggetreten sein. Ich habe doch nicht geschnarcht?“
Der Alte lachte. „Es gehört schon mehr dazu, diesen rumpelnden, rollenden Sarg zu übertönen.“
Runge blickte ihn fragend an.
„Tut mir leid, ich habe Sie nicht beunruhigen wollen.“
„Schon gut. Ich bin auch nicht gerade begeistert von dieser Art zu reisen. Dampfende, qualmende Monstren.“ Er massierte seinen Ellbogen, der wieder zu schmerzen begonnen hatte.
„Haben Sie von dem Zugunglück in München gehört?“
„Natürlich. Nicht gerade beruhigend, was? Irgendwas mit den Schienen. Eine Menge Tote.“
„Knapp achtzig“, schnaubte der Alte. „Und beinahe wäre es einer mehr geworden.“
Runge beugte und streckte seinen Arm. Noch immer pochte der Schmerz in seinem Gelenk. „Einer mehr?“
„Normalerweise wäre ich an Bord gewesen. Ich hatte Glück. Meine Tochter hatte mir ein Billet geschickt, um sie in München zu besuchen. Sehen Sie mal.“ Er zeigte Runge einen Fahrschein: eine einfache Fahrt – in den sicheren Tod. „Wäre ich an diesem Tag nicht zu spät gekommen … Ach, man mag gar nicht drüber nachdenken.“
Runge erschauderte.
Eisige Kälte umfing ihn, als wäre er in einem gefrorenen See eingebrochen. Ach, man mag gar nicht drüber nachdenken.
„Stimmt etwas nicht?“ Die Worte des Alten drangen dumpf und diffus an sein Ohr.
Ach, man mag gar nicht drüber nachdenken.
Runge erhob sich wankend von seinem Sitz. Er begann zu zittern. Eine Ahnung hatte ihren Schatten über sein Denken gelegt. Wie eine dunkle Wolke lastete sie über seinem Verstand. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.
Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Seine Augen weiteten sich. Ach, man mag gar nicht drüber nachdenken.
Er stürmte aus dem Separée und hastete den Gang hinunter. Er entdeckte die Fettleibige in einer der hinteren Kabinen. „Ihre Schiffstour“, rief er. „Was ist da passiert?“
Sie starrte ihn entgeistert an. „Was meinen Sie?“
„Sie sagten, sie wären auf einer Schiffstour gewesen.“ Ach, man mag gar nicht drüber nachdenken. „Was ist da passiert?“
„Oh“, sagte sie und begann zu strahlen. „Ich wollte den Herrschaften gerade davon erzählen. Warum setzen Sie sich …“
„Was ist passiert?“, schrie er sie an.
„Wir … wir … sind aufgelaufen. Das Schiff ist untergegangen. Es war doch in allen Zeitungen. Ich hatte nur Glück …“
Runge taumelte ein paar Schritte zurück.
Ich hatte nur Glück …
Wäre ich an diesem Tag nicht zu spät gekommen …
Er fühlte den pochenden Schmerz in seinem Arm.
Einen Reitunfall ja. Ich muss verdammtes Glück gehabt haben. Wahrscheinlich kann ich froh sein, heute überhaupt hier zu sein.
Konnte es sein? Er fühlte, wie sich seine Welt aus den Angeln hob. Wie sie rumpelnd und krachend aus den Schienen sprang.
Wir haben ohnehin alle dasselbe Ziel.
„Nein …“, flüsterte er.
Am Ende des Ganges war der Schaffner aufgetaucht. Der Fahrtwind zwängte sich durch die geöffnete Tür vorbei an seiner hageren Gestalt. Langsam schritt er auf Runge zu. Seine Uniform umwehte seine knochige Erscheinung.
„Wie es aussieht, habe ich mit diesem Ross auch kein Glück, was?“
Das Skalpell-Grinsen entstellte die zerfurchten Züge des Schaffners. Er zuckte mit den Schultern.
Wieder überkam Runge diese Leichtigkeit. Die Gleichgültigkeit im Angesicht des … Schaffners. Er lehnte sich an die Wagenwand und blickte in die Separées. „Na ja, zumindest trete ich nicht alleine ab. Zu spät, aber nicht alleine.“
„Zigarette?“
„Nein, ein zu töd…“ Er blickte dem Hageren in die Augen. „Ach, was soll’s.“
„Sie kommen alle zu spät“, sagte er und reichte Runge die Zigaretten. „Sie alle hätten schon viel früher ankommen sollen. Und welches bessere Mittel gibt es, die Verspäteten einzusammeln, als die gute alte Bahn?“