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Versprechen auf der Brücke
Gwen hätte Tardol niemals ziehen lassen, aber ihr war klar, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie legte eine Hand in seine - wie feingliedrig seine Finger waren. Aristokratenhände. Tardol war Schreiber in der Präfektur. Das verstärkte ihre Sorge um ihn - konnte er sich ausreichend schützen? Würde sie seine blauen Augen jemals wiedersehen? Unter der Brücke rauschte der Wildbach ins Tal, sie zog den grauen Leinenumhang enger. Am Horizont war die Sonne schon seit geraumer Zeit untergegangen und es wurde kühl. Sie fröstelte.
"Ich wünschte, du müsstest nicht gehen, Tardol."
Tardol drückte ihre Hand, seine Augen suchten die Ferne.
"So will es die Tradition, Gwen. Das weißt du."
"Es ist eine dumme Tradition." Tardol blickte sie an und lachte.
"Und so etwas höre ich von einer Priesterin? Gwen, wir haben so oft darüber gesprochen. Du weißt, es muss sein, und uns liegt beiden etwas daran, es richtig zu machen."
Gwen nickte und schmiegte den Kopf an seinen Oberarm. Wie gut er roch. Sie wusste, dass er Recht hatte, auch wenn es ihr widerstrebte. Ihr Orden verlangte, dass der Mann, der eine Priesterin heiraten wollte, Druide sein musste. Das entsprach der Tradition, wie sie seit je her gelebt wurde. Tardol hatte sich bereit erklärt, die Ausbildung zu machen, aber er musste dazu weit in den Norden reisen, in das Land der Steinkreise. Und es würde Jahre dauern - Jahre, in denen Gwen die Bürde einer Priesterin spüren würde, in der sie auf Tardol verzichten müsste, auf sein Lachen, auf seine blonden Haare, die viel zu widerspenstig waren, und auf seine Liebe.
Sie knuffte liebevoll seinen Oberarm, lächelte und umfasste seine Taille, drückte ihn an sich. Gwen wäre am Liebsten mit ihm in den Süden gegangen, an die Küste. Sicher könnten sie dort gut leben, wo die Traditionen einfacher waren und man nicht so sehr darauf achtete, dass alles korrekt lief. Als Priesterin wäre sie dort willkommen, und auch wenn sie bisher nur die erste Weihe hatte, würde sie genug Entgelt in den Tempeln bekommen, um sie beide zu ernähren. Und Tardol könnte eine Anstellung als Schreiber finden, wenn er sich gut anstellte. Das würde besser zu ihm passen, als Druide zu werden, denn insgeheim zweifelte sie an Tardols Fähigkeiten, was das Druidentum anbelangte. Aber Tardol war so überzeugt davon, dass er in den Norden gehen würde. Wenn sie ihn nur umstimmen könnte. Aber bisher waren alle ihre Versuche gescheitert.
"Gwen, es ist Tradition. Wir leben hier und du bist glücklich in deiner Ausbildung. Du sollst sie abschließen können. Ich liebe dich, und ich will nicht, dass du etwas aufgibst. Außerdem haben wir das doch schon besprochen, willst du es jetzt wirklich alles wieder aufrollen? Wir haben beschlossen, dass es der beste Weg ist, wenn ich lerne, ein Druide zu sein. Unsere Familien werden zufrieden sein, der Orden - du und ich, wir werden zufrieden sein. Und glücklich. Es ist doch schon alles in die Wege geleitet. Morgen breche ich auf. Ich will nicht jetzt wieder alles umwerfen."
Gwen krallte sich an der Brüstung fest, sie presste die Lippen aufeinander. Warum musste er nur so stur sein? Es freute sie ja und schmeichelte ihr, dass er sie liebte, und nicht wollte, dass sie ihre Chancen hier verwarf. Trotzdem verstand er sie nicht. Sie würde liebend gerne in den Süden gehen, dort neu beginnen. Aber das verstand er nicht. Sie hatte versucht, es ihm zu erklären, aber er war so überzeugt davon, dass sie erst ihre eigene Ausbildung abschließen sollte. Nun gut, dann würde sie eben zu härteren Methoden greifen müssen. Gestern Abend war ihr ein Einfall gekommen, wie sie ihn dazu bringen konnte. Eigentlich wollte sie ja nicht lügen, aber sie musste. Die Göttin würde ihr schon verzeihen. Schließlich ging es um ihrer beider Leben und Glück. Der Sage nach war die Brücke, auf der sie standen, ein Lügenbrückchen. Das bedeutete: Wer hier log, riskierte, dass sie genau unter ihm einstürzte und ihn in die Tiefe riss. Gwen glaubte nicht an diese Sage. Aber sie wusste, dass Tardol viel auf Überlieferungen gab. Flink drehte sich zu ihm, ihre Augen funkelten.
"Tardol - wenn du mich liebst, dann versprich mir bei der Göttin, dass du wiederkehrst!"
"Gwen, meine Liebe, wenn ich dich ansehe, deine blauen Augen, deine roten Haare, die Sommersprossen; du bist so schön - wie könnte ich da auch nur daran denken, dich vielleicht nie wieder zu sehen? Mein Morgenstern - ich verspreche dir, ich werde auf mich acht geben!"
"Schwöre es! Schwöre es bei dem Lügenbrückchen, auf der wir stehen!" Ihre Stimme war schneidend.
"Gwen, ich schwöre es - ich schwöre den Schwur eines angehenden Druiden: Eher soll die Göttin die Brücke zerstören, auf der wir gerade stehen, als dass mir etwas zustößt!" Er lächelte sie an, doch sein Lächeln gefror, als er ihre Reaktion bemerkte. Sie war wie erstarrt
"Gwen, mein Schatz, was hast du?"
"Was ... was hast du gerade gesagt?"
"Ich sagte, ich schwöre, dass ich auf mich Acht geben werde."
"Nein, den Teil mit der Brücke - du sagtest, die Göttin würde sie einstürzen lassen." Ihre Stimme bebte.
Tardol nickte und sah sie ernst an.
"Ja - das sagte ich. Warum fragst du?"
Sie schluckte.
"Es ist nur ..."
"Was?"
"Tardol - ich habe in den Spiegelteich gesehen, vor drei Tagen. Und ..."
"Gwen, du wirst Ärger bekommen. Ich dachte, das darf man erst ab der dritten Weihe - aber so erzähl doch, was hast du gesehen?"
Tardol drehte sich zu ihr, forschte in ihrem Gesicht nach einer Erklärung. Sie jedoch senkte den Blick und sah über die Brüstung.
"Tardol, du sollst die Göttin nicht fordern. Du darfst nicht. Du weißt nicht, was du damit anrichtest! Du solltest auf die Brücke schwören, nicht auf die Göttin, und schon garnicht darauf, dass die Brücke einstürzen möge. Du kennst doch die Sage, die erklärt, dass das hier ein Lügenbrückchen ist!"
"Was sollte denn geschehen? Gwen, es tut mir Leid - ja, ich habe wohl Blödsinn geredet mit meinem Schwur. Aber mir wird nichts zustoßen, ich kann auf mich acht geben. Wirklich".
Er versuchte sich an einem Lächeln, seine Stimme jedoch zitterte.
"In meiner Vision habe ich ein Gewitter gesehen. Zunächst war es entfernt, nur am Horizont. Dann kam es näher, Blitze zuckten durch die Nacht, Regen setzte ein. Ich sah die kleine Brücke, genau die, auf der wir jetzt stehen! Der Wind wurde zum Sturm. Dann dröhnte ein gewaltiger Donnerschlag, der mich halb taub werden ließ, zugleich blendete mich ein gleißend heller Blitz. Als ich wieder etwas erkennen konnte, war die Brücke verschwunden. Tardol! In meiner Vision wurde die Brücke zerstört! Ich dachte zunächst nicht an etwas Schlimmes, ich habe oft Visionen, die ich mir nicht erklären kann. Aber nach deinem Schwur mache ich mir Sorgen! Was soll das bedeuten? Weshalb hat die Göttin mir diese Vision geschickt?"
Tardol zögerte, Gwen kaute auf ihrer Unterlippe herum und starrte in die Ferne.
"Ich weiß es nicht, Gwen. Beruhige dich doch. Du bist noch nicht fertig ausgebildet, du könntest irgendetwas gesehen haben. Vielleicht war es nicht diese Brücke, vielleicht war es eine andere, oder deine Angst hat dich das sehen lassen. Immerhin sind wir nicht zum ersten Mal hier, und du machst dir schon länger Sorgen."
"Jetzt halt aber mal die Luft an!" Gwen war außer sich. "Die Göttin hat mir eine Vision geschickt, eine Warnung, und du willst nicht darauf hören, als angehender Druide? Ich glaubs ja nicht!"
Tardol wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm mit einer schnellen Handbewegung das Wort ab.
"Ich sag dir was, du wirst auf mich hören, nicht nur, weil ich angehende Priesterin mit immerhin der ersten Weihe bin, sondern weil du mich liebst! Wir werden die Warnung befolgen, du wirst nicht gehen!"
"Aber Gwen, hier können wir nicht heiraten. Das weißt du. Und es ist doch das, was wir beide so gerne wollen."
Sie drehte sich um, verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, begann zu schluchzen.
"Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du mich von hier fort nehmen, an einen Ort, wo die Traditionen nicht so streng sind, und wo uns nicht der Zorn der Göttin trifft."
Er kam näher, zögerte, dann legte er ihr seinen Arm auf die Schulter. Eine Weile sagte keiner etwas, nur ihr Schluchzen war zu hören.
"Gwen. Ich ... vielleicht hat die Göttin Recht. Ich wäre gerne Druide geworden, aber wenn es ihr Wille ist - Gwen, ich weiß, du willst hier nicht weg. Du bist so glücklich hier mit deiner Ausbildung. Aber, willst du mit mir in den Süden gehen? An die Küste? Ich könnte dort Arbeit finden. Und du vielleicht auch, ich weiß nicht, ob Priesterinnen dort gebraucht werden. Aber ich werde für dich sorgen, ich verspreche es!"
Gwen drehte sich um, sie strahlte, all ihre Sorgen schienen wie weggeblasen. Mit einer Hand wischte sie sich eine Träne von der Wange.
"Oh Tardol, das würdest du wirklich für mich tun?"
"Mein Täubchen, für dich würde ich alles tun." Er lächelte.
Sie reckte sich und schlang die Arme um seinen Hals, gab ihm einen Kuss.
"Danke, Tardol, ich liebe dich! Komm, lass uns nach Hause gehen, mir ist kalt, ich glaube, ein Sturm kommt auf."
Hand in Hand kehrten sie heim, so versunken ineinander, dass sie nicht bemerkten, wie sich zunächst ein kleiner, bald darauf ein größerer Stein aus dem Gemäuer des Brückchens löste und ins Tal stürzte.