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Versteckspiel
„Ich muss hier raus!“
Ich kralle mich an ihren Arm und konzentriere mich auf das Geräusch des Aufzuges. Ich höre wie die dicken Stahlseile zittern und wie sich das Metall der Kabine verformt. Die Wände kommen auf mich zu und rauben mir die Luft zum Atmen. Die Enge wird unerträglich und es kommt mir vor, als presse sie auch noch den letzten Sauerstoff aus mir heraus. Es wird mir schwarz vor Augen und inmitten dieser Dunkelheit explodieren kleine und große Lichtpunkte. Nur am Rande registriere ich, wie sich meine Fingernägel in die Haut meiner Freundin bohren und ihr protestierender Schmerzenschrei hört sich für mich an, als komme er von weit her.
Ein Ruck läuft durch die Kabine, mein Magen bäumt sich auf und dann höre ich das rettende Tonsignal. Die Türen fahren auf und frische Luft schlägt mir entgegen. Ich falle halb hinaus und muss mich konzentrieren das Gleichgewicht zu halten. Mein erster Blick fällt an dem Parkscheinautomaten vorbei, durch die Fensterscheiben hindurch, in den Himmel. Die helle Sonne beruhigt mich und ich stelle mir meine Lunge als einen großen Schwamm vor. Immer wieder atme ich ein und vor mir sehe ich, wie die Luft in jede Pore dringt und den Schwamm aufbläht.
Die Zeit beginnt sich zu normalisieren, ebenso wie meine Sinne. Ich höre das Hupen von Autos, das Lachen von Kinder und die geschäftigen Gespräche eine Pärchens, dass neben uns gerade den Aufzug betritt, um nach oben zu fahren. Ich merke, wie sie mir fragende, verwirrte Blicke zuwerfen, doch das ist mir egal. Sollen sie doch denken was sie wollen.
„Sag mal Schatz“, sie reibt sich die roten Stellen an ihrem Arm, welche meine Fingernägel hinterlassen haben, „meinst du nicht, es wird mal Zeit, dass du mir erklärst, warum du in engen Räumen solche Panik bekommst und warum du doch immer wieder in nen Aufzug oder so was steigst.“
Ich sehe sie betroffen an und weiß, dass sie das Recht hat, davon zu erfahren, doch ich kann nur sehr schwer darüber reden. Ich hatte schon oft versucht, mich jemanden anzuvertrauen, doch mit jedem Jahr, dass seit damals vergeht, wird es schwieriger. Es hatte lange gedauert, bis ich es für mich selber begriffen hatte. Als Kind braucht man bedeutend länger, um etwas derartiges zu realisieren. Und als ich darüber nachdenke, blitzt die Vergangenheit in meinem Kopf auf. Die Erinnerung überfällt mich und ich starre meine Freundin mit offenen Augen an, während sich die Szenen von damals vor meinem geistigen Auge abspielen. So klar und so deutlich, dass ich noch den Wald rieche, indem wir spielten.
„Na komm schon. Lass mich auch mal schießen“, rief er mir zu, wobei seine kindlichen Augen vor ungetrübter Freude strahlten.
„Was krieg ich denn dafür?“ war meine ganze Antwort und ich begann die Wasserpistole aufzupumpen. Wir Beide wollten unbedingt eine dieser neuen Super-Sookers haben, doch nur meine Eltern hatten mir eine geschenkt. Ben war neidisch, das war deutlich zu sehen, auch wenn er versuchte das zu verbergen. Ich erinnere mich noch daran, wie ein Vogel im Hintergrund ohne Pause pfiff und wie der Lauterbach, der direkt neben uns durch sein Bett lief, rauschte. Darin schwamm auch eine Forelle, aber ich weiß nicht, ob ich sie wirklich gesehen hatte, oder sie erst im Nachhinein ein Teil meiner Erinnerungen wurde, als ich begann mir das Erlebte immer und immer wieder ins Gedächtnis zu rufen.
„Wie wär es mit nen paar Bildern von meiner Schwester?“ Er zwinkerte mir wissend zu, denn immer wenn ich bei ihm zu Hause war, starrte ich das heranreifende Mädchen ununterbrochen an. Die Bilder seiner Schwester standen ein paar Minuten der Trennung von meiner Wasserpistole gegenüber. Ich entschied mir für die Pistole, denn das war etwas, das ich anfassen konnte, das ich begriff.
„Nein, lass ma. Deine blöde Schwester kann ich jeden Tag sehen. Da brauch ich kein Bild.“ Er ließ aber nicht locker und redete weiter auf mich ein, während der Vogel immer noch sein Lied sang. Ich höre sein Pfeifen in meiner Erinnerung sehr deutlich, so als sei es eine Melodie, die man nie im Leben vergisst. Und wahrscheinlich sind die Noten dazu auch erst später geschrieben worden, als ich versuchte die Lücken meines Gedächtnisses selber zu füllen. Auf jeden Fall bot er mir an, dass ich mit dem Foto von seiner Schwester alles machen könne, wobei er mir erneut wissend zuzwinkerte. Aber ich verstand nicht, was ich mit dem Foto machen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass Ben mir bei irgendetwas voraus war. Bei etwas, dass man wohl erst im Alter verstehen würde und dieses Gefühl machte mich ärgerlich und bekräftigte meinen Entschluss ihm die Pistole nicht zu geben. Wahrscheinlich als Rache oder ausgleichende Gerechtigkeit. Heute behaupte ich, dass wir beide wie junge Mädchen reagiert haben, denn jeder zickte rum, bis Ben die Beherrschung verlor und mir vor lauter Eifersucht die Pistole aus der Hand schlug. Das Plastikspielzeug fiel zu Boden und schlug auf einem großen Stein auf. Der Abzug brach.
„Das hast du extra gemacht“, zeterte ich ihn an und als Kind hatte man über einen solchen Zustand der Verärgerung noch viel weniger Kontrolle, als ein Erwachsener. Wir schrieen uns an, hatten aber beide zuviel Angst uns körperlich auseinander zusetzen. Vielleicht wegen der Verletzungsgefahr, aber ich glaube eher, es war wegen unserer Eltern. Wenn sie herausfanden, dass wir uns auf eine solche Weise stritten, würden sie uns nicht mehr zusammen spielen lassen und das wäre im Endeffekt für uns beide das Schlimmste gewesen.
Wir saßen eine Weile nebeneinander und schwiegen uns an, bis die Zeit die Situation entspannte. Ben war der erste, der die Stille brach. „Lass uns was anderes spielen“, schlug er vor. Aber ich blieb stumm. „Wir könnten Verstecken spielen?“
Meine Freundin umfasst meine Taille und zieht mich in Richtung Ausgang.
„So geht es aber wirklich nicht mehr, Schatz. Wieso erzählst du mir es nicht einfach?“
Ich nehme sie auch in den Arm und drücke mich an ihre Schulter. Ihre Nähe beruhigt mich weiter, verdrängt aber keine der Erinnerungen.
„Ach Bea, ich hab dir das doch schon so oft erklärt. Ich weiß doch auch nicht woran das liegt.“
„Ich glaub dir aber nicht. Da gibt es irgendeine Geschichte. Das sieht man doch in jedem Film, dass solche Ängste nicht von irgendwoher kommen.“
Wir lassen das Parkhaus hinter uns und schlendern umarmt die Straße herunter in Richtung Innenstadt. Links von uns ist ein McDonalds, der schon dort war, als ich noch ein Kind war. Ich hatte oft mit Ben darin gesessen und er konnte kaum genug von den schwammigen Burgern bekommen. Wenn er satt war, nahm er sich immer noch einen mit und verstaute ihn zu Hause im Kühlschrank, um ihn abends zu essen. Ich denke an den Kühlschrank, der wie neu am Rande des Lauterbaches stand. Sehr wahrscheinlich war er alt und seine Scharniere waren verrostet, aber in meiner Erinnerung stand er dort am Ufer, wie in einem Laden.
„Lass ma Ben, ich habe keine Lust irgendwas zu spielen“, rief ich ihm über die Schulter zu, als ich schon im Begriff war zu gehen.
„Ach komm schon. Eine Runde. Ich hab keine Lust schon nach Haus zu gehn.“
Ich hatte wirklich keine Lust, denn ich war immer noch sauer, dass er meine Wasserpistole kaputt gemacht hatte, aber auf diese Weise wurde ich ihn nicht los. Das wusste ich. Wir hatten uns schon oft gestritten und trotzdem trafen wir uns noch am selben Tag immer wieder, aber an jenem Tag wollte ich das nicht. Das war wohl der Moment, in dem ich den Plan geschmiedet hatte.
„OK, aber nur eine Runde. Du versteckst dich!“ Ich schloss die Augen und ließ ihm genügend Zeit sich zu verstecken. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich vorgehabt ihn zu suchen. Ich wollte einfach verschwinden und ihn wissen lassen, dass ich keine Lust mehr hatte mit ihm zu spielen. Ich glaubte damals, dass er das nur auf diese Weise verstehen würde und außerdem könnte ich mich so an ihm rächen. Vielleicht würde er ja einige Stunden warten und sich freuen, dass ich ihn nicht fand. Vielleicht würde er bis zum Abend in seinem Versteck sitzen und erst herauskommen, wenn ihn der Hunger treibt. Und dann würde er nach Hause laufen und seine Eltern würden ihn anschreien, warum er denn so spät wieder kam und ihn ohne Abendbrot ins Bett schicken. Das sollte meine Rache sein. Ein kindlicher Gedanke, der mich für immer verfolgen sollte.
Nach einer Minute öffnete ich meine Augen und ging heim. Ben hatte sich versteckt und ich erfreute mich an meinem gelungenen Plan. Die Tage darauf meldete er sich nicht und ich konnte das verstehen. Er musste sauer auf mich gewesen sein und ich bereute mein Verhalten, aber gleichzeitig widmete ich mich anderen Dingen. Dinge, die mich das Spiel und den Streit vergessen ließen. Kinder vergessen schnell.
Man fand Ben erst zwei Wochen später. Es gab einen Ort im Lauterbachtal, wo die Leute immer ihren Müll hinwarfen. Ihren großen Müll, wie alte Waschmaschinen. Einmal im Monat kamen dann Mitarbeiter der Stadt zu diesem bekannten Ort und brachten den Schrott weg. Ben hatte sich in einem großen Kühlschrank versteckt. Er hatte die Zwischenböden herausgenommen und war hineingeklettert. Die Tür hatte er hinter sich zugeschlagen, doch innen gab es keine Klinke, kein Schloss und Ben kam nicht mehr heraus. Man war sich nicht sicher, ob er erstickt oder verdurstet sei. Alles was man wusste, war, dass es ein langsamer Tot gewesen sein musste.
Wie hypnotisiert schaue ich auf das rote Licht der Ampel, bis es von einem befreiendem Grün vertrieben wird. Ich überquere mit Bea die Straße und tauche mit ihr in die Fußgängerzone ein. Mit der wachsenden Zahl an Pflastersteinen, die wir hinter uns lassen, wachsen auch die Menschenmassen. Frauen stehen vor Schaufenstern, während die Männer neben ihnen mit leidender Miene warten. Überhaupt tragen alle ein trauriges Antlitz, so als wollen sie sich in der Masse behaupten. „Seht her!“ rufen sie stumm. „Ich habe einen grauenvollen Tag hinter mir.“ Aber die meisten von ihnen werden ihn morgen wieder vergessen haben, denn die Übergänge vom Heute ins Gestern sind für sie fließend. Bei mir ist die Vergangenheit immer ein Teil der Gegenwart. Einen Teil, den ich verarbeite, indem ich Ben in meiner Erinnerung am Leben halte. Dann sehe ich Ben, wie er im Dunkeln gegen die Tür klopft und wie er um Atem ringt, als er nach mir ruft.
Und wenn es dann dunkel wird, oder enge Räume mir dir Luft zum Atmen nehmen – dann bin ich Ben. Ben, der alleine mit der Dunkelheit kämpft. Ben, den die Enge in den Wahnsinn treibt. Ben, der stirbt.
Bea nimmt meine Hand und führt mich zu einem Schaufenster, in dem die neue Sommermode zu sehen ist. Grüne Kleider reihen sich an gelbe Röcke und die Farben explodieren für einen Moment hinter meinen Augen.
Sie sieht mich an und sagt: „Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du mir nichts sagen willst und wenn du sagst, dass es nichts zu erzählen gibt, dann glaube ich dir auch. So oder so, ist es für mich wirklich ok.“ Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und deutet strahlend auf ein Paar Schuhe, das sie entdeckt. Im spiegelnden Glas sehe ich mein Gesicht und es zeigt einen Mann, dessen Mimik ungeheures Leiden ausdrückt. Er scheint zu sagen: „Seht her! Ich habe einen grauenvollen Tag hinter mir.“
Ich gucke zu Boden und denke darüber nach, ob ich es ihr nicht doch erzählen soll, aber kann ich ihr auch erzählen, dass ich wusste wo Ben sich versteckte? Das ich noch eine Weile neben dem neu aussehenden Kühlschrank stand und mich daran erfreut habe, dass er dort eine Ewigkeit warten würde? Kann ich das? Ich hatte einfach vergessen, was passiert war. Und nun will ich das nie mehr tun. Deshalb meide ich keine engen Räume. Deshalb durchlebe ich meine Ängste wieder und wieder und ich bin mir sicher, dass man mir vorwerfen wird, alles sei nur gespielt, aber ich spiele nicht mehr. Nie mehr.