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Vertragsautonomie
Am Ende des Tages
Endlich war mein Lernpensum erreicht und ich konnte mir eine Zeitung gönnen. Diese Entscheidung trug ich schon Wochen mit mir herum. Eigentlich lese ich sowieso schon den ganzen Tag. Aber weil ich mich schuldig fühle immer die Informationen der großen Zeitungen im Internet erschnorrt zu haben, war der Moment gekommen, meine immateriellen Schulden abzubauen und dabei auch noch fundiertes, aktuelles Wissen ausführlich im gediegenen Stil meiner Großväter zu lesen.
Auf dem Weg zum Bahnhofskiosk ging ich noch an der Bank vorbei, um mir das Buget der kommende Woche abzuheben, denn ich hatte diese Woche schon alles ausgegeben.
Im Kiosk sah ich mir die Auswahl der Zeitungen in Ruhe und ausgiebig an. Französische, russische, österreichische, eine im sehr nationalen Stil -scheusslich- Wirtschafts-, Technik und andere Zeitungen. Ich hatte die freie Wahl! Totale Vertragsautonomie!!
Schließlich ging ich an die Kasse und um das ausgewählte Exemplar zu kaufen. Der Verkäufer hatte mir bereits einige Zeit bei meiner Suche zugesehen, als meine Wahl auf ‚Die Tageszeitung’ meines Bundeslandes gefallen war und damit auch noch dem Abo meines Vaters entsprach. Ich ging zur Kasse. Neben der Kasse lag aber ein Stapel einer großen Wochenzeitung. Die blätterte ich auch noch durch. Meine Entscheidung soll schließlich gut durchdacht sein. Als ich den Artikel zum Thema über den Bologna-Prozess und das Jurastudium in der Wochenzeitung entdeckte, kippte meine Entscheidung. Ich war interessiert! Ich legte die Tageszeitung zurück. Inzwischen war sogar der Fussboden des Zeitungsladens wieder sauber gefegt, so lange hat meine Entscheidung gedauert. Ich hielt dem zurückkehrenden Verkäufer die Zeitung und meinen frisch abgehobenen Geld-Schein zum bezahlen hin.
Er hatte keine Chance. „Haben sie auch Tabakwaren?“ fragte eine junge männliche Stimme in meinem Rücken, als ich die dicke Wochenzeitung kaufen wollte. Der Verkäufer schaltete einen Gang hoch und beantwortete gleichzeitig die Frage und zählte mir das Wechselgeld in die Hand. – Was für eine Hast! – „Nein, tut mir leid, Tabakwaren hat der Laden links dran oder – wenn der geschlossen hat, dann der ‚nimm´s mit’ dort drüben.“ Ich drehte mich zu der unbekannten Stimme um, die mich beim Abschluss des ‚Geschäfts des Monats’ störte und erblickte den jungen Mann, der da antwortete: „ ‚nimm´s mit’ – was für eine lustiger Name für einen Supermarkt.“ Dabei wippte er mit seinen Chucks.
Meine Entscheidung war gefallen. – Der nicht! –
Raucher, Störenfried und dann so aufdringlich und hyperkommunikativ. So eine unsympatische Type. Ich ging, wunderte mich noch warum das Wechselgeld aus so vielen Zwei-Euro-Stückchen bestand, setzte den Kopfhörer auf und beeilte mich, die Straßenbahn zu erreichen.
Als ich beim ausgedehnten Abendessen die Zeitung genoss, dachte ich über den Kerl von eben nochmal nach. Warum hatte der keine Chance? Meine Entscheidungen sind doch sonst nicht so impulsiv und das Bild, das ich von ihm vor Augen hatte, erinnert mich sogar an einen guten Freund. Der raucht auch gelegentlich, trägt Chucks und ist schlacksig – und vielleicht war der andere auch, nach langem Ringen mit sich, in den Bahnhofskiosk gegangen um wieder einmal Zigaretten zu kaufen. Und ‚nimm´s mit’ ist wirklich ein komischer Name für einen Bahnhofssupermarkt Eigentlich war er gar nicht soo unsympathisch.
Vielleich wollter er aber auch nur jemanden treffen.
Mir ist heute die Decke auch schon zum dritten Mal auf den Kopf gefallen und es war noch vor 6 Uhr Abends als ich aufgebrochen war. Um die Zeit kann man eine Zeitung auch noch um die Ecke kaufen und muss nicht zum Hauptbahnhof laufen. Also muss wohl ich auch auf der Suche nach einem Gesprächspartner gewesen sein?
Meine Freundin ist in Paris und meine Familie ist schwierig. Freunde hier in der Stadt habe ich wenige und die anderen Studenten sind in der Prüfungszeit. Da wird man als scheinfreier Student schnell einsam.
Aber nach einem Kontakt im Bahnhof zu suchen? Diese Ort geniest nicht gerade einen guten Ruf für gute Gesellschaft. Denn alles braucht seine Zeit und seinen Ort. Der Bahnhof ist ein hastiger Ort, obwohl Menschen dort auch warten. Die haben aber trotzdem keine Zeit jemanden Neuen kennenzulernen, schließlich warten sie. Die Frist läuft ab. Bis der Zug endlich kommt, der einen in die Ferne mitnimmt oder einen Anderen aus der Ferne zurückbringt, den man dann abholen kann. Fremde bleiben dort fremd.
Er hatte keine Chance. Die Freiheit zu Entscheiden hat eben doch Grenzen.