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- 08.01.2002
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Verum
Verum
"Was machst du da?" Inge schaute Lars verdutzt an. "Wieso öffnest du diesen Umschlag? Dein Vater hatte doch inständig gebeten, ihn erst zu öffnen, wenn...."
"So ein Unsinn, den mach ich jetzt auf und nicht erst in 16 Jahren. Ich bitte dich, Papa war nicht mehr beieinander." Lars blickte seine Frau unwirsch an.
"Erinnere dich zum Beispiel an den letzten Spaziergang mit ihm, wie er an diesem Rübenfeld stehenblieb, darauf mit generöser Geste wies und meinte 'mein Sohn, vor dir liegt ein Feld mit geballter Heilkraft' und als ich sagte: 'du meinst dieses Zuckerrübenfeld?' Erinnerst du dich da, wie er seltsam kicherte und verschwörerisch sagte: 'Sohn, wenn du wüsstest' , da war er schon nicht mehr Herr seiner Sinne. Oder siehst du das anders, Inge?"
"Ja, aber er hat dich gebeten, diesen Umschlag erst, wenn du 65 und in Rente bist, zu öffnen und ehrlich, Lars, ich hatte das Gefühl, als hätte er guten Grund dazu gehabt."
"Glaub mir, Papa wusste nicht mehr, was er tat, oder kannst du mir erklären, weshalb er sich nicht mehr medizinisch betreuen ließ? Wie hab ich mich geschämt, als er sämtliche Medikamente verweigerte. Ich, ein ausgebildeter Apotheker, steh tatenlos an seinem Sterbebett und kann nichts für ihn tun. Dieser Sturkopf, er wäre zu retten gewesen, wenigstens für eine Zeit, es gab die passende Medizin, aber nein, er kramte diese Patientenverfügung hervor, nach welcher jedem Arzt verboten war, ihn mit Medikamenten zu behandeln. Ich glaube, Papa war nicht mehr klar bei Verstand."
Inge seufzte: "Und trotzdem solltest du seinen letzten Willen respektieren, Lars."
"Nein! Papa hatte schon früher eigenartige Ausfälle. Damals, als ich ihm sagte, dass ich Pharmazie studieren will, an diese Szene erinnere ich mich noch, als wäre sie gestern gewesen. Erst schwieg er und ich dachte, er ist mal wieder abwesend und berechnet eine chemische Formel im Kopf.
Aber dann brach es aus ihm mit einer Wucht heraus, dass ich dachte, 'das ist nicht mein Vater'.
"Alles könntest du studieren, weshalb ausgerechnet dieses Studium, verflucht nochmal", und er hatte mich dabei angeschaut, als hätte ich ihm gerade gestanden, einen Bankraub begangen zu haben.
Ich verstand nicht, was er wollte. Das Studium war doch nicht verkehrt. Oder?
"Studier etwas anderes", sagte er damals fast bedrohlich, "alles, werde Arzt, Psychologe, Lehrer oder Pastor, wenn du der Menschheit dienen willst, aber nicht Pharmazie!"
Inge schaute betreten. "Ja, das war eigenartig damals. Am Ende hast du es der Intervention deiner Mutter zu verdanken gehabt, dass du doch Pharmazie studieren konntest. Merkwürdig war sein Verhalten schon."
"Ich will wissen, was in dem Umschlag ist, und zwar jetzt. Woher kommt das viele Geld, das er hinterlassen hat? Wieso wusste keiner von uns davon?"
Entschlossen erbrach er das schwarze Siegel des Umschlags.
Innen befanden sich handbeschriebene Blätter mit Büttenrand. 'Vaters Schrift', dachte er, während er die Seiten durchblätterte. Zwölf mit Tinte eng beschriebene Seiten warteten auf ihn. Seine Frau schaute ihn erwartungsvoll an und beide setzten sich auf die Couch als nähmen sie an einer Theateraufführung teil. Er begann vorzulesen:
"Mein geliebter einziger Sohn!
Wenn du diese Zeilen liest, bist du in einem Alter, in dem dich die Erkenntnisse, die gleich über dich hereinbrechen werden, nicht mehr aus der Bahn zu werfen vermögen. Du bist dann beruflich nicht mehr aktiv, denn nach diesem Schreiben könntest du es auch nicht mehr sein."
Lars runzelte die Stirn: "Was sag ich, der Alte hatte nen Hau wech, allein schon, wenn ich seinen altertümlichen Schreibstil betrachte", und er machte Anstalten, weiter vorzulesen, als Inge ihn am Arm ergriff.
"Lars, ich habe kein gutes Gefühl dabei, vielleicht sollten wir doch noch warten."
"Nu ist aber gut, Inge, ich hab den Umschlag jetzt auf und nun will ich auch wissen was Vater zu sagen hatte. Ist wahrscheinlich eh alles wirres Zeugs." Lars fuhr fort:
"Ich habe dich immer geliebt! Manchmal wirst du an mir gezweifelt haben, vieles konnte und durfte ich dir nicht begreiflich machen, aber es geschah zum Wohle der Familie und besonders zu deinem Wohle.
Wo fang ich an, dir von den Geschehnissen zu berichten, die mein ganzes Leben veränderten?
Soll ich damit beginnen, dass es mir das Herz zerriss, als du Apotheker werden wolltest?
Oder soll ich dir von der Überwindung berichten, die es mich gekostet hatte, dich beim Kauf und Einrichtung der Apotheke finanziell zu unterstützen?
Es kam mir vor, als wollte Gott mich prüfen, mir noch mehr Last auf meine Schultern packen, dass ich mich in Demut beuge.
Erinnerst du dich an den Tag, an welchem wir beide uns zufällig, du von der Schule kommend, in der Buchhandlung Mierke trafen. Es war um die Mittagszeit, weißt du noch?
Du warst verblüfft, dass ich da an den Buchregalen stand. Ich weiß noch, wie du mich fragtest, ob ich nicht im Labor hätte sein müssen und ich dir rasch antwortete, dass ich hier sei, weil ich ein spezielles Buch mit chemischen Formeln benötigen würde."
Lars schaute auf: "Siehste was ich meine Inge? Papa hatte keinen Bezug mehr zur Realität, wie soll ich mich noch an irgendeinen Tag aus der Schulzeit erinnern, an dem ich ihn in irgendeiner Buchhandlung getroffen hab? Hoffentlich geht dieser Brief nicht in dieser Art so weiter."
Dann setzte er fort:
"Das war eine Lüge, die ich gerne vermieden hätte, aber wäre das, was ich dir jetzt sage, ans Tageslicht gekommen, hätte es eine weltweite Katastrophe herbeigeführt.
Ich bitte dich inständig, nein, ich beschwöre dich, erst alle meine Zeilen durchzulesen, bevor du entscheidest, was geschehen soll, denn es wird sich auf die gesamte Menschheit auswirken.
Da ich dich im fortgeschrittenen Alter weiß, bin ich mir sicher, dass du keine hitzköpfige Entscheidung treffen wirst.
Tatsache war, dass ich an diesem wie an allen Tagen gar nicht zur Arbeit ging. Ich vertrieb mir tagsüber die Zeit, um gegen Nachmittag so zu tun als käme ich direkt von der Arbeit nach Hause.
Ich ließ dich und Mutter in dem Glauben, dass ich als Chemiker mein Geld verdiente und ein paar sehr gute Patente uns ein sorgenfreies Leben sicherten. Ich gab vor, dass all meine Erfindungen auf höchster Geheimhaltungsstufe waren. So konntet ihr nie erfahren, was genau dahinter steckte. Du wirst dich gewundert haben, wieviel Vermögen ich dir hinterlassen habe. Sei versichert, mein Sohn, ich habe dieses Geld nicht illegal erworben, und doch...urteile am Ende meines Briefes selbst.
Ich hatte so viel Einkommen, dass ich nicht mehr arbeiten musste.
Manchen Menschen hätte dieses sorgenfreie Leben beglückt, aber ich war todunglücklich.
Am unerträglichsten war jedoch, dass ich mein Wissen mit niemandem teilen durfte.
Mein und euer Leben wäre dann nicht mehr sicher gewesen."
Lars stockte und schaute Inge irritiert an.
"Lars, ich habe Angst", flüsterte sie, "lies das nicht weiter." Doch er hatte schon seinen Blick wieder auf die Zeilen gesenkt.
"Diese furchtbare Veränderung in meinem Leben begann als ich eines Tages im Labor eine neue Versuchsreihe aufzubauen hatte. Wir erforschten einen Stoff, ich hab vergessen, welcher es war.
Man hatte uns tags zuvor einen neuen Gaschromatographen geliefert und ich begann alle möglichen Stoffe durchzumessen. Du weißt ja selbst aus deinem Studium, dass ein Gaschromatograph zwar alle möglichen Stoffe bestimmen kann, aber man muss ihn vorher anhand von Vergleichsmaterial prüfen.
Nach jeder Messung also druckte der Apparat in feinen Linien den Kurvenverlauf des eingegebenen Stoffes aus. Unter anderem,
und dies weiß ich noch bis heute genau, hatte ich ein bekanntes Schmerzmittel aufgelöst und zur Messung vorbereitet.
Am nächsten Morgen schaute ich mir das aufgezeichnete Ergebnis an.
Die dortige Kurve kam mir bekannt vor, sie passte aber nicht zu dem Schmerzmittel. Ich hatte so einen Kurvenverlauf schon einmal gesehen. Aber mir fiel den ganzen Tag nicht ein, wo und vor allem was es war.
Ich untersuchte erneut diese Schmerztabletten im Gaschromatographen.
Aber wieder zeichnete der Apparat dieselbe Kurve auf.
Der Apparat ist wahrscheinlich defekt, dachte ich. Ich werde ein anderes Medikament zur Untersuchung geben und wenn das auch so eine Kurve ergibt, geht der Apparat an den Hersteller zurück.
Ich hatte noch eine angebrochene Tube mit einer Hautsalbe in meiner Schreibtischschublade, ich löste die Salbe auf und gab sie in den Apparat. Der Gaschromatograph zeichnete die schon bekannte Kurve auf.
Für mich war der Fall klar, der Apparat war kaputt. Ich ließ ihn abholen und verlangte umgehende Reparatur.
Tage später kam das Gerät zurück, beigefügt war ein längerer Bericht und etliche Untersuchungsergebnisse, man hatte alles Mögliche untersucht und jeweils die dazugehörige Kurvenaufzeichnung dazugepackt, mit der Anmerkung, keinen Defekt an dem Apparat gefunden zu haben.
Nun gut, dachte ich, dann versuch ich es nochmals mit den Schmerztabletten und gab die Lösung in den Apparat. Meine Wut kochte hoch, als wiederum die mir bekannte Kurve aufgezeichnet wurde. Ich wollte mir nicht ein zweites Mal sagen lassen, dass das Gerät nicht defekt ist, deswegen versuchte ich es mit einem der Stoffe, die man beim Hersteller getestet hatte und heraus kam eine Kurve, die mit der beigefügten des Herstellers identisch war.
Ich konnte mir das alles nicht erklären, es ergab keine Logik. Weshalb lieferte mir das Gerät bei den Schmerztabletten und der Salbe dasselbe Ergebnis? Etwas stimmte da nicht.
In mir keimte ein Verdacht, denn mittlerweile war mir wieder eingefallen, welchen Stoff diese Kurve aufzeigte. Ein derartig ungeheuerlicher Verdacht, dass es mir die Sprache verschlug und ich an nichts anderes mehr zu denken vermochte. Wenn das Gerät nicht defekt war, dann hatte es wohl oder übel richtig gemessen, aber dann.... Ich beschloss dem auf den Grund zu gehen und mit Hilfe eines anderen Apparates die Schmerztabletten zu untersuchen und bat einen befreundeten Kollegen in einer anderen Abteilung darum.
Voller Ungeduld wartete ich. Von meinem Verdacht mochte ich niemandem erzählen, zu ungeheuerlich erschien er mir und ich hatte nicht vor, mich, falls er sich als unwahr erwiesen hätte, lächerlich zu machen.
Nach drei endlos langen Tagen, ich schob gerade in der Kantine mein Tablett zur Frau an der Kasse, sah ich den Kollegen an einem Tisch sitzen und mir zuwinken.
"Weißt du", sagte er, "ich fühle mich verschaukelt von dir." Ich blickte ihn fragend an und er sah, dass ich arglos war, denn er fuhr fort: "deine Untersuchungsprobe enthielt Zucker, schlicht nur Zucker und nichts anderes. Wozu hast du das denn gebraucht?"
"Ach, ich wollte nur eines der neuen Geräte überprüfen, ob es das gleiche Ergebnis erbringt", konterte ich schnell, um meine Verblüffung zu verbergen.
Ich verschluckte mich an meinem Getränk und musste husten. Das war gut so, denn ich hätte nichts erwidern können, ohne meine furchtbare Erkenntnis zu offenbaren, die wie eine Kröte aus meinem Mund geschlüpft wäre. Mit hochrotem Kopf hustend und keuchend entfernte ich mich.
Ich überlegte fieberhaft, was jetzt zu tun wäre und beschloss alle erdenklichen Medikamente aus der Apotheke zu holen, um diese unauffällig nach und nach auf ihre Zusammensetzung hin zu untersuchen.
Nach mehreren Tagen hatte ich insgesamt 40 verschiedene Medikamente untersucht. Sie bestanden alle aus Zucker, mal aus Stärke, mal Kochsalz mit geringsten Beimengungen von Aromastoffen und Farbstoffen. Nicht ein einziges Medikament enthielt das, woraus es vorgab zusammen gesetzt zu sein.
Mit jeder weiteren Untersuchung wurde mir elender. Ich war wie im Rausch, süchtig danach noch ein und noch ein Medikament zu untersuchen. Ich aß kaum noch.
Aber ich konnte nicht aufhören, ich hatte bislang nur die freiverkäuflichen Medikamente untersucht. Es fehlten die Rezeptpflichtigen.
Gewiss, so redete ich mir damals ein, gewiss würde es da anders aussehen. So räumte ich alles, was wir in unserer Hausapotheke an rezeptpflichtigen Medikamenten hatten aus und untersuchte es, ich ging sogar zu Ärzten, täuschte Erkrankungen vor, um an die Rezepte zu gelangen und bat Kollegen mir von ihren Packungen einzelne Tabletten mitzubringen.
Ich gab vor, zu eigenen Forschungszwecken, die noch geheim seien, dies alles zu benötigen. Es kamen nochmals an die 60 verschiedenen Medikamente zur Untersuchung.
Das Ergebnis war niederschmetternd. In keinem einzigen Fall enthielten diese Pillen, Salben und Flüssigkeiten etwas anderes außer Zucker, Stärke oder Kochsalz versehen mit Aromastoffen und Farbstoffen. Ich hatte auch auf Rezept nichts als Zuckerpillen bekommen."
Lars, dessen Gesicht sich gerötet hatte sah zu Inge auf, "das hab ich nicht erwartet", sagte er und starrte vor sich hin. Inge, die atemlos zugehört hatte, wusste nichts zu erwidern.
So saß jeder für sich da und versuchte die Kontrolle über seine Gedanken zu erlangen, bis Lars die Stille unterbrach, "das glaub ich nicht", stieß er hervor.
"Lies weiter", bat Inge ihren Mann, aber dieser starrte weiter vor sich hin.
Inge zog Lars die handbeschriebenen Seiten aus den Händen und suchte die Stelle, die er zuletzt vorgelesen hatte.
"Du kannst dir sicher vorstellen, mein Sohn, wie mir zumute war. Was sollte ich tun?
Tagelang wälzte ich alle möglichen Ideen und Vorstellungen und am Ende hatte ich dann einen Plan, der alles zum Guten wenden sollte.
Zu meiner und eurer Sicherheit hinterlegte ich bei einem Notar einen versiegelten Umschlag mit all meinen Erkenntnissen.
Dann nahm ich Kontakt zum größten Pharmakonzern auf und es gelang mir, bis in die höchste Etage vorgelassen zu werden.
Ich kann mich an diesen Tag noch genau erinnern. Die Sonne schien schon am frühen Morgen und über der Stadt lag laue Frühlingsluft. In meinem Magen hatte sich jedoch Salzsäure festgebrannt, so schmerzte er mich auf dem Weg, die Unterlagen in der Mappe und mein Ziel fest vor Augen.
Wenn ich dieses Gebäude wieder verlassen habe, so mein Vorhaben, dann stellt dieser Konzern keine einzige Zuckerpille mehr her.
Man bat mich ins Zimmer der Geschäftsleitung und den beiden vor mir sitzenden Herren war anzumerken, dass sie sich belustigt fühlten, sie sich aber zusammen nahmen , um mich dies nicht deutlich spüren zu lassen.
Ich ahnte, dass sie zunächst alles leugnen würden und war mit meinen Fakten gut darauf vorbereitet.
Ihre Gesichtszüge wurden ernster, je mehr Beweise ich vorbrachte.
Gegen Mittag bat man mich, in Ruhe mit ihnen Essen zu gehen, weil man infolge der Tragweite meiner Erkenntnisse der Ansicht sei, man müsse die Vertreter der anderen Pharmakonzerne hinzu bitten.
Ich wartete bis diese angereist waren.
Am Nachmittag sah ich mich einer großen Runde Herren gegenüber, die mich teils abschätzig ansahen und zu taxieren versuchten.
Ich stellte meine Forderung: sofortige Umstellung der Produktion.
"Das ist unmöglich", lautete die Antwort eines der Herren, der sich zum Wortführer gemacht hatte, "selbst wenn wir wollten, könnten wir es nicht.
Ich will versuchen, es Ihnen zu erläutern", führte er aus und seine Tonlage hatte einen sonoren Klang als würde er geduldig auf einen störrischen Esel einreden.
"Es ist etwa fünfzehn Jahre her, dass wir die Produktion sukzessive umgestellt haben. Wenn wir Ihrer unmöglichen Forderung folgen wollten, müssten wir zunächst die Rohstoffgewinnung wieder in Gang bringen. Die in den Medikamenten enthaltenen Substanzen werden weltweit nicht mehr hergestellt. Das allein gäbe eine Anlaufzeit von..." , er holte tief Luft und sein Brustkorb wölbte sich vor, "mindestens zwei Jahren.
Aber nicht allein das, wir müssten unsere Forschungsabteilungen wieder aufbauen, was erst möglich wäre, wenn die Rohstoffe vorhanden sind.
Dann müssten wir mit den Medikamententests beginnen und den Doppelblindstudien. Dieser Part benötigte nochmals mindestens drei bis vier Jahre Vorlauf, bevor auch nur ein einziges "richtiges" Medikament auf dem Markt wäre."
Er schaute in die schweigende Runde, und die Stille unterstrich mit erdrückender Last die Richtigkeit seiner Argumente.
"Wir können Ihre Entrüstung ja verstehen", fuhr er in beschwichtigendem Ton fort. "Die Tatsache, dass es weltweit keine Medikamente im eigentlichen Sinne mehr gibt, ist keine Katastrophe für die Menschheit, sondern schlichte Notwendigkeit, die auf der Einsicht beruht, dass wir so nicht weitermachen konnten. Die Kostenexplosion im Krankheitswesen war nur noch auf diese Weise aufzuhalten und schauen wir uns doch mal die Nachteile im Vergleich zu den Vorteilen an:
gut, sobald der Patient weiß, dass er ein Placebo erhält, wirkt das Mittel natürlich nicht mehr.
Wir sind also gezwungen unser besonderes Augenmerk auf die Geheimhaltung zu legen. Aber gleichzeitig auf die positive Einstellung zum verabreichten Medikament. Es war ein höchst kompliziertes Unterfangen Ärzte so zu motivieren, dass sie durch ihre positive Einstellung zum Placebo, ohne zu wissen, dass es eins ist, wesentlich zu den Heilungschancen beitrugen.
Statistisch betrachtet, wirken Placebos nur rund 10 % schlechter als Medikamente.
Ihnen dürfte bewusst sein, dass ein Medikament, das knapp über 50% Heilung bewirkt, bereits auf den Markt gelangt, ein Placebo bringt es jedoch immerhin auf 40%. Wir reden also von 10%! 10%, die uns immense Kosten verursachen, an Rohstoffgewinnung, Produktion, Forschung und Tests, Qualitätskontrollen. Wären wir dabei geblieben, wären Medikamente nicht mehr zu bezahlen gewesen."
Ein beipflichtendes Raunen ging durch den Raum.
"Aber das geht doch nicht. Sie können doch nicht den Patienten derartig betrügen und was ist mit den Ärzten? Wissen die es?"
"Guter Mann", holte er herablassend aus, "vielleicht wissen Sie es nicht besser, aber schon früher hatten schätzungsweise 35-45% aller ausgeschriebenen Medikamente für den Patienten keine spezifische Wirkung auf die Erkrankung. Es ist alles eine Frage der Suggestion. Die Begeisterung des Arztes für das verordnete Medikament muss sich auf den Patienten übertragen. Selbstverständlich verfügen wir über eine ganze Anzahl an Ärzten, die durch unsere besondere Motivationsschulungen gegangen sind und somit genau wissen, was sie zu tun haben. Ein Arzt, der keinen Erfolg beim Patienten erzielt, sollte den Beruf wechseln."
Seine Sätze hatten Kopfnicken unter den Anwesenden ausgelöst und er blickte selbstgefällig in die Runde.
"Was ist mit den Krankenkassen?" hakte ich nach, " die können unmöglich diesen ungeheuren Betrug mittragen."
Das Wort "Krankenkasse" hatte ich kaum ausgesprochen als vereinzelndes Lachen an meine Ohren drang und amüsiert antwortete er mir:
"Ich bitte Sie, die Krankenkassen waren die ersten, die unsere Umstellung auf Placebos herbei gewünscht haben. Schon vor ca. 15 Jahren betrugen die Gesundheitskosten stolze 270 Milliarden DM und das ganze System war so ausgelegt, dass es sich explosionsartig weiter entwickelt hätte. Wir haben mit den Krankenkassen einen hervorragenden Konsens gefunden, der es allen ermöglicht etwas vom Kuchen abzubekommen.
Wir produzieren die Placebos, unsere spezialisierten Ärzte bringen neue Erkrankungsformen auf den Markt, die neue Placebos und neue Behandlungsmethoden erforderlich machen und so sichern wir auch den Krankenkassen den Bestand."
Ich traute meinen Ohren nicht.
"Um die Sache abzuschließen", fuhr er in einem geschäftsmäßigem Ton fort, "bieten wir Ihnen für Ihr lebenslanges Schweigen einen Betrag von 10 Millionen Euro. Der Betrag ist bereits das Äußerste, was wir Ihnen aufgrund unserer Finanzsituation andienen können.
Und glauben Sie mir, der Skandal um den Tod eines Chemikers im Zusammenhang mit einem Pharmakonzern schreckt uns weniger als die Zeitungsheadline mit der Wahrheit über unsere Produkte. Denken Sie daran wieviele Menschen davon leben und denken Sie an die Gesundheit ihrer Familie.
Meine Mitarbeiterin Frau Meier wird Sie nach nebenan führen. Dort verbleiben Sie bitte bis zu Ihrer Entscheidung. Meine Herren...", er hatte sich erhoben, "ich werde Sie über die Entscheidung dieses Herren informieren, ich darf Sie bitten, mich nun zu entschuldigen. Ich wünsche guten Tag und Heimreise."
Dann ging er zur Tür hinaus.
Während sich Platz um Platz leerte, saß ich wie gelähmt. In meinem Kopf war Watte. Wenn ich den Mut aufgebracht hätte, wäre ich aus dem Fenster gesprungen, um diesem vernichtenden Gefühl, alles falsch gemacht zu haben, entkommen zu können.
Stattdessen hörte ich mich zu Frau Meier sagen, "ich habe mich entschieden, holen Sie bitte Ihren Chef."
Sie tat wie ihr geheißen und nach einer Weile stand er hoch aufgerichtet wie ein Lehrer, der die Antwort auf eine schwierige Mathematikaufgabe erwartete, vor mir.
"Sagen Sie mir noch eines", ich musste mich räuspern, weil meine Stimme heiser geworden war, "alle, die hier saßen, alle, die es wissen, was machen Sie und diese Herren, wenn Sie krank sind?"
"Wir haben noch einen kleinen Bestand an Medikamenten vorrätig, den wir dann nutzen", sagte er mit eisiger Sachlichkeit und gab er seiner Sekretärin Anweisungen zur Abwicklung unseres Geschäftes.
"Aber", wandte ich ein, "diese Medikamente halten doch nicht ewig, irgendwann verlieren sie ihre Wirkung."
"Sie meinen die Ablaufdaten, die jeweils auf den Packungen stehen?" seine Lippen verzogen sich kurz zu einem ironischen Lächeln, um dann in kühle Starre zurückzukehren, "die Menschheit vermag Lebensmittel für zwanzig und noch mehr Jahre zu konservieren, glauben Sie allen Ernstes das wir das mit unseren Medikamenten nicht konnten? Die Ablaufdaten auf den Verpackungen verfolgten einen rein kommerziellen Zweck."
Die letzten Sätze hatte Inge mit stockender Stimme vorgelesen, die Seiten sanken zu Boden. Schutzsuchend fiel sie Lars in die Arme. Beide hielten sich eine ganze Weile fest umklammert. Lars fixierte finster einen Punkt an der Wand.
Am nächsten Morgen öffnete Lars zur gewohnten Stunde seine Apotheke.
Die Nacht hatte er nicht geschlafen, sich ruhelos hin und her gewälzt und war dem Rat seiner Frau, ausgiebig und heiß zu duschen, gefolgt.
Über Nacht hatte sich ein eigenartiger Druck in ihm ausgebreitet, wie wenn etwas aus dem Körper dringen möchten, aber keinen Weg findet.
Der erste Kunde kam, der sich seine Wange haltend ein Rezept seines Zahnarztes vorlegte.
Lars ergriff das Papier, las den Namen des Medikamentes und schwankte auf die Schrankwand zur rechten Seite zu, um eine Schublade bis zum Anschlag heraus zu ziehen. Er hielt inne. Der Boden unter seinen Füssen gab ihm keinen Halt mehr.
'Was ist bloß mit mir los?' ,dachte Lars, 'ich hab doch noch nie Kreislaufprobleme gehabt', als sein Herz anfing bis zum Hals spürbar zu pochen. Kleine schmerzhafte Stiche in der Brust versetzten ihn in Unruhe. Lars griff sich an die Stelle und presste seine Hände darauf.
Dann schleppte er sich schwankend zum nächsten Stuhl.
In dem Moment als er darauf sinken wollte, durchzog ein erneuter heftiger Schmerz seine Brust und er sackte neben dem Stuhl zusammen.
Seine Angestellte hatte entsetzt diese Szene mitangesehen, sie stürzte auf ihn zu und wollte ihn auf den Stuhl ziehen, dann entschied sie sich anders und rief Notarzt samt Krankenwagen herbei.
Als Lars Arzt und Sanitäter erblickte, weiteten sich seine Augen und er hielt seine Hände abwehrend hoch. "Nein", röchelte er, "nein, rührt mich nicht an!" Er versuchte auf allen Vieren davon zu kriechen. "Beruhigen Sie sich, es wird Ihnen gleich besser gehen. Ich injiziere Ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel", sagte der Arzt und betrachtete wie ein paar Tropfen aus der hochgehaltenen Spritze entwichen.
Lars erblickte ungläubig die Spritze und sein Gesicht verzerrte sich als wollte er lachen. Erst lautlos, sein Körper erbebte. Dann brach es aus ihm heraus.
"Ihr Idioten", presste er hervor und sein Körper wurde von einem Lachkrampf durchgeschüttelt.