- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Verwählt!
Ich trat in die Telefonzelle und in meinem Rücken schloss sich langsam die Tür. Stille. Draußen zogen die Menschen in kollektiver Eile vorüber, doch kaum ein Laut drang hier hinein. Es war zwar stickig, aber dennoch genoss ich das für einen kurzen Augenblick, atmete einmal tief durch. Dann griff meine Hand zum Hörer und hob ihn ans Ohr. Das ewige Tuten des Freizeichens erfüllte meinen Körper. Ich kramte einen Zettel hervor, auf dem eine eilig hingekritzelte Telefonnummer stand. Nachdem ich sie in den Tastenblock getippt hatte erklang ein kurzer Piepton und schließlich erneut das Freizeichen. Ich wartete und während meine Augen vergeblich versuchten, die Menschen draußen zu taxieren, kam es mir vor, als würde mein Herz im selben Takt wie der Freizeichenton schlagen.
»Hallo«, meldete sich eine männliche Stimme. Verwählt! schoss es mir durch den Kopf und ich blickte rasch auf die kritzelige Nummer auf dem Zettel.
»Entschuldigen Sie«, stammelte ich hastig. »Ich muss mich wohl verwählt haben«
»Warten Sie«, rief der Mann eilig. »Legen Sie nicht auf.« Ich hatte den Hörer bereits aufhängen wollen. Jetzt hob ich ihn zögernd wieder ans Ohr. »Wen wollten sie anrufen?«, fragte er. Er hatte eine wohlklingende Stimme.
»Wie bitte?«, fragte ich und wusste nicht, warum ich das Gespräch nicht beendete.
»Wen wollten Sie eigentlich erreichen?«, wiederholte der Mann seine Frage.
»Nun … ich denke – Warum fragen Sie das?«, brachte ich schließlich hervor. Ich steckte den Zettel mit der Telefonnummer, den ich noch immer in der Hand hielt, zurück in meine Hosentasche.
»Neugierde«, entgegnete der Mann geradeheraus. »Es ist eine schreckliche Eigenschaft, ich weiß … Aber ich bin von ihr besessen.« Er lachte kurz. »Kennen Sie das nicht?«
»Doch«, gab ich zu, »aber -«
»Da sehen Sie es«, unterbrach mich der Mann. »Es ist eine jener modernen Sünden. Jeder ist ihr hörig, der Eine mehr, der Andere weniger.« Er schwieg kurz und ich wechselte den Hörer von der einen in die andere Hand. »Also sagen Sie mir,« fuhr er fort, »wen wollten Sie erreichen?«
»Ich … meine Schwägerin. Ich wollte meine Schwägerin anrufen.«
»Na sehen Sie«, sagte er. »So schwer ist es doch gar nicht.« Ich verdrängte den Gedanken, dass er sich über mich lustig machte. »Warum wollten Sie ihre Schwägerin anrufen?«, fragte er nach einer kurzen Pause. Mir entging mitnichten der fordernde Unterton, der in seiner tiefen Stimme mitschwang.
»Sie hat vor kurzem ein kleines Café eröffnet. Hier, mitten in New York. Ich wollte -«
»Sie wollten sich mit ihr treffen, sie besuchen, richtig?«, unterbrach er mich erneut.
»Genau«, sagte ich. Ich mochte es normalerweise nicht, wenn man mich unterbrach. Doch dieses Mal ließ ich es kommentarlos geschehen.
»Was ist das für ein Café?«, fragte der Mann. Bevor ich antwortete, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Glasscheibe der Telefonzelle.
»Ich weiß nicht viel darüber«, gestand ich. »Wir stehen nicht in regem Kontakt, aber ich wollte es mir einmal ansehen.«
»Selbstverständlich«, entgegnete er und seine Stimme triefte regelrecht vor Süffisanz. »Und vielleicht ein, zwei Cafés umsonst abstauben, wie?« Er lachte laut auf. Ich fand seine Bemerkung nicht sonderlich witzig und schwieg. Draußen auf der Straße ertönte ein energisches Hupen. Ich hob den Kopf. Eines jener für New York so typischen Taxis versuchte verzweifelt, in den Verkehr auf der Straße einzuscheren. »Ist es nicht schrecklich?«, fragte der Mann.
»Was?«, wollte ich wissen und senkte wieder den Kopf.
»Hektik!«
»Eine weitere moderne Sünde?«, fragte ich und musste unwillkürlich lächeln.
»Sie sagen es«, erwiderte der Mann. »Sie prägt unser Alltagsbild wie kaum eine Andere. Die Menschen lassen sich von ihr leiten und tun Dinge, die sie sonst nie tun würden.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich.
»Hupen«, entgegnete er energisch. »Würden Sie hupen, wenn Sie es nicht eilig hätten?«
»Nein«, gab ich zu und war erstaunt über die Logik, die dahinter steckte.
»Da haben Sie es«, sagte er, scheinbar zufrieden mit sich. »Man muss lediglich Geduld haben«, fuhr er fort.
»Geduld?«, hakte ich nach und wechselte den Hörer erneut in der Hand.
»Ja Geduld. Sie ist das Gegengewicht, welche verhindert, dass unsere Welt eben jener Sünde endgültig verfällt.« Ich zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. Das Gespräch wurde mir langsam zu philosophisch.
»Aber eines müssen Sie mir dann erklären«, bat ich. »Warum leben Sie in New York, wenn Ihnen doch die Hektik dermaßen missfällt?«
»Ich lebe nicht in New York«, entgegnete er schnell und fügte nach einer kurzen Pause noch hinzu: »Nicht mehr.«
»Aber ich habe eine New Yorker Nummer gewählt«, erwiderte ich.
»Das liegt daran, dass ich momentan zwei Anschlüsse habe«, erklärte er. »Ich bin gerade erst umgezogen und meine alte Nummer ist noch nicht gelöscht worden.«
»Wo sind Sie hingezogen?«, wollte ich wissen.
»Auf’s Land«, antwortete er nur. »Weitab jeglicher Hektik.« Ich musste erneut lächeln.
»Und war das der einzige Grund? Die Hektik, meine ich?«
»Nein.« Mehr sagte er nicht.
»Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte ich hastig als mir bewusst wurde, dass er nicht mehr sagen würde. »Ich wollte nicht -«
»Nein, nein,« beschwichtigte er. »Es ist schon in Ordnung. Ich habe mich von meiner Frau getrennt … vor zwei Monaten.«
»Das tut mir leid«, sagte ich, doch er redete weiter, als hätte er mich überhaupt nicht gehört.
»Unser Sohn, Jonathan, ging zu ihr und ich hielt das Leben hier nicht mehr aus.« Seine Stimme war mit einem Mal seltsam belegt, jeglicher Elan verschwunden. »Kennen sie Rodins Denker?«, fragte er mich.
»Die Statue? Ja, die kenne ich. Wieso?«
»Ich fühlte mich wie er. Verstehen Sie, ich begann, an allem zu zweifeln … und über alles nachzudenken. Ich habe Descartes Meditationen fast auswendig gekonnt …« Er lachte in einer Art, als würde er sich im Nachhinein über sich selbst amüsieren.
»Mögen Sie Kunst?«, fragte ich nach einer kurzen Pause um das Thema zu wechseln, welches für ihn – und für mich - sichtbar unangenehm war.
»Ja«, antwortete er. »Früher habe ich manchmal Tage im Guggenheim Museum verbracht. Und Sie?«
»Ich liebe die Malerei. Ich meine, ich male nicht selber«, fügte ich eilig hinzu, »doch ich finde es wunderbar, die Bilder begabter Künstler zu betrachten.« Mein Blick fiel auf das Display des Telefons.
»Dann haben Sie sicherlich einen Lieblingsmaler?«, sagte er, während ich schnell meine schwarze Lederbrieftasche hervorholte und ein paar Münzen einwarf. Es waren meine letzten. Die Buchstaben verschwanden augenblicklich von dem Display.
»Ja, den habe ich.«
»Verraten Sie ihn mir«, bat er.
»Otto Dix,« sagte ich und war zugleich gespannt auf seine Antwort.
»Dann sind Sie wohl kein Freund des Expressionismus, richtig?«
»Nein, keinesfalls«, erwiderte ich lächelnd. »Die Expressionisten lagen falsch. Emotionen trüben unsere Wahrnehmung der Realität. Doch eben die gilt es zu dokumentieren. Die Welt in ihrer ganzen Hässlichkeit.«
»Ein Experte, wie?« An seiner Stimme meinte ich zu hören, dass er lächelte.
»Nein, nur intensiver Betrachter«, entgegnete ich und wechselte wieder den Hörer in der Hand.
»Und warum hat es Ihnen Dix besonders angetan?«
»Nun … kennen Sie sein Bild Der Schützengraben?«, fragte ich, allerdings nicht in der Erwartung eines Ja
»Nein, leider nicht«, antwortete der Mann.
»Er malte es 1920«, erläuterte ich. »Es dokumentiert am besten seinen Stil. Er malte meist mit einem das Abstoßende hervorhebenden Realismus, der besonders in seinen Kriegsbildern auch Aufsehen erregte. Wie ich bereits sagte: die Welt in ihrer ganzen Hässlichkeit.«
»Ich werde mich mit ihm einmal genauer befassen, denn was Sie sagen, klingt äußerst interessant.«
»Oh ja, das ist es durchaus«, pflichtete ich ihm bei. Jemand klopfte an die Scheibe der Telefonzelle. Ich wandte den Kopf und sah eine junge Frau. Aus ihrem schmalen Gesicht funkelten mich zwei Augen böse an und um ihre Lippen lag ein äußerst energischer Zug. Erneut pochte sie an die Scheibe. »Warten Sie einen Moment, bitte. Ich bin sofort wieder dran.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte ich den Hörer auf die Oberseite des Telefons und öffnete die Tür einen Spalt breit. Die Geräusche der Stadt schlugen über mir zusammen und ich brauchte einen Moment, bis ich mich auf die Stimme der Frau konzentrieren konnte.
»… zum Teufel treiben Sie so lange da drinnen?«, keifte sie gerade und wollte sich an mir vorbeidrängen. Ich hielt die Tür von innen fest.
»Hören Sie«, begann ich und versuchte dabei, meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Ich führe hier gerade ein wichtiges Gespräch. Wenn Sie also so nett -«
»Einen Scheiß werde ich tun«, schrie sie. »Sie haben das Ding schließlich nicht gemietet.«
»Haben Sie kein Handy?«, fragte ich, wobei meine Stimme vor Beherrschung zu zittern begann.
»Nein, habe ich nicht«, sagte sie und griff erneut nach der Tür um sie aufzuziehen. Doch auch dieses Mal hielt ich dagegen.
»Dann machen Sie was Sie wollen, aber lassen Sie mich in Ruhe«, entgegnete ich scharf und zog die Tür schnell zu, als sie vor Überraschung die Finger löste. Ich griff mit der einen Hand nach dem Hörer während ich mit der anderen die Tür von innen zudrückte. »Wo waren wir?«, fragte ich und warf der Frau durch die Scheibe einen vernichtenden Blick zu.
»Bei der Kunst«, antwortete der Mann ohne auf die Unterbrechung einzugehen. »Wie steht es mit Büchern? Ich meine, lesen Sie?«
»Ich habe nur selten Zeit zum Lesen«, begann ich und registrierte erleichtert, dass die noch immer zeternde Frau mir endlich den Rücken kehrte und in der Menge verschwand. »Aber es bereitet mir stets großes Vergnügen, Ernest Hemingways Werke zu lesen.«
»Ja, er war ein großer Mann seiner Zeit, ohne Frage«, sagte der Mann. »Aber mit seinen Büchern kann ich beim besten Willen nichts anfangen.«
»Wussten Sie, dass er während seiner Zeit in Afrika zwei Mal mit dem Flugzeug abgestürzt ist? Und dass er zwei Mal überlebt hat?«
»Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht einmal weiß, dass Hemingway in Afrika war.« Ich rückte den Kragen meines Hemdes zurecht. Eine Schweißperle lief meine Stirn hinab. Es war wirklich unangenehm hier drin. Unten in den Häuserschluchten staut sich die Hitze des Sommers, aufgemischt von all den schwitzenden Leibern.
»Doch doch, das war er«, versicherte ich. »Wie würden Sie es nennen? Wenn jemand zwei Mal mit dem Flugzeug abstürzt und das in kürzester Zeit? Und noch dazu zwei Mal überlebt.« Es interessierte mich wirklich. Ich stieß mich von der Wand der Zelle ab und stützte mich mit dem freien Arm auf dem Telefon ab. Das Aluminium war angenehm kalt.
»Warum fragen Sie?«, wollte der Mann wissen. Ich glaubte, er lächelte erneut.
»Sie haben für vieles so passende Ausdrücke.«
»Sie meinen die modernen Sünden?«
»Unter anderem«, bestätigte ich. »Also?«
»Ich würde es Schicksal nennen«, sagte der Mann ohne zu zögern. Er schien überzeugt von seinen Worten.
»Nicht Glück?«, hakte ich nach.
»Nicht Glück. So etwas gibt es nicht.« Erneut schwang diese Sicherheit in den Worten mit, die keinen Widerspruch zuzulassen schien.
»Ach nein?«, entgegnete ich dennoch.
»Nein. Glück ist etwas relatives. Für jeden bedeutet es etwas anderes, verstehen Sie?« Ich nickte. Erst als er schon weiterredete fiel mir auf, dass es sinnlos war, zu nicken, wenn man am Telefon mit jemandem spricht. »Wenn jemand Glück mit einer Sache hat, dann hat jemand anderes sicherlich Pech mit ein und derselben Sache. Mit dem Schicksal ist es gänzlich anders. Es ist fest definiert, wie ein guter Plan in einem von diesem Hollywood-Filmen, wo es um Gangster geht, die irgendwas ausrauben und alle an der Nase herumführen, wissen Sie?« Ich war kurz davor erneut zu nicken. »Das Schicksal ist bis ins kleinste Detail durchgeplant. Und das ist gut so, denn solch relative Sachen wie Glück laufen schnell aus dem Ruder. Das Schicksal bleibt seiner Fahrbahn treu.«
»Und daran glauben sie?« Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und schaute auf das Display. Ich hatte noch ein Guthaben von 20 Pence. Plötzlich krachte etwas gegen die Rückwand der Telefonzelle. Ich wirbelte herum und hörte, wie der Mann mit der angenehmen Stimme irgend etwas sagte. Verstehen konnte ich es allerdings nicht. Draußen auf dem Bürgersteig hatte sich ein Kreis aus Menschen gebildet, die alle gebannt auf die zwei Typen in ihrer Mitte starrten. Einer von ihnen rappelte sich auf der anderen Seite des Glases gerade auf und blickte verwirrt hinter sich auf das Hindernis, auf das er geprallt war. Aus seiner Nase troff Blut und seine Lippe war aufgesprungen. Ich verkrampfte mich um den Telefonhörer. Der Andere der beiden tänzelte umher, die Fäuste erhoben und irgendwelche Schimpfwörter brüllend. In der Menge erkannte ich die Frau von vorhin. Sie hielt ein Handy in der Hand und sprach hektisch hinein während ihre harten Augen gebannt dem Geschehen folgten. Die zwei Männer gingen aufeinander los. Schnell gingen sie zu Boden und schlugen aufeinander ein. Nach ein paar Schlägen ins Gesicht suchte einer von ihnen das Weite. Er rannte zwei Passanten über den Haufen und verschwand in der anonymen Menge. Der Andere stütze sich auf und erhob sich. Auch er blutete. Er schaute umher und humpelte schließlich ebenfalls davon. Die Menschen gingen weiter und traten in die kleine Blutlache am Boden als wäre nichts geschehen. »Ich habe gerade eine weitere moderne Sünde entdeckt«, sagte ich in den Hörer und drehte mich um. Keine Antwort. Auf dem Display stand