der Text hier ist länger geworden, als ich es wollte. weil ich das teils schwierig finde, Erzählperspektiven nachzuvollziehen, aber auch wichtig fürs Schreiben. deswegen habe versucht, mich dem Thema immer wieder aus anderen Richtungen zu nähern, um das Eigene dieser Perspektive herauszukristallisieren und abzugrenzen. zur Überarbeitung fehlt mir die Zeit. so lasse ich den Text stehen in der Hoffnung, dass er einige Mitlesende weiterbringt, wie mich die Diskussion in einigen Punkten weiterbrachte.
was für eine Überraschung, als ich hinter dem Link u.a. "1919" von John Dos Passos entdeckte! damit hätte ich nie gerechnet. ein großartiges Buch, auf vielerlei Art, von einem großartigen Erzähler (gilt u.a. Erfinder des Bewusstseinstroms, mit James Joyce und Alfred Döblin). und so anders, als "Alles, was wir wissen". dessen Titel sich im Rahmen dieser Diskussion in seiner Doppeldeutigkeit als toller Titel zeigt. wobei ich noch immer für "Was wir wissen" plädiere. steckt alles drin, passt in der Knappheit und Direktheit mE zum Stil.
Dion schrieb ja was zum Stechlin und führt Szenen an, die den Kriterien des neutralen Erzählers widersprechen. Ich bin sicher, das auch für 1919 machen zu können, habe es nur hier nicht vorliegen.
jedenfalls: halte ich es für wichtig, das anzuführen und darauf aufmerksam zu machen: Kategorien sind seltenst deckungsgleich mit Geschichten, die in eine Kategorie eingeordnet wurden.
das ist mE kein Problem. es sollte auch nicht das Ziel sein, seine Erzählungen so zu verfassen, dass die formale Vorgaben erfüllen. eine der vier Erzählperspektiven wählen wir, weil eine bestimmte Geschichte danach verlangt, wir auf den fortlaufenden Effekt aus sind, der zB durch Nähe und Engführung des Ich-Erzählers entsteht. oder auf den einmaligen Effekt, der in Nabokovs Pnin erreicht wird, als das auktoriale Erzählen mit einem Mal von einem Ich-Erzähler ersetzt wird. Nabokov hielt sich für einen Gott der Literatur, besser als Faulkner oder Thomas Mann. und installiert einen allwissenden Erzähler, der sich auf einmal als ein "Ich" herausstellt.
das schreibe ich, um die Möglichkeiten verschiedener Perspektiven anzudeuten. um zu zeigen, dass ein "Fehler" in der Perspektive sinnvoll sein kann. und ich hoffe, auch den Bogen von der Theorie zur Praxis schlagen zu können. um transparent zu überlegen, wie Literatur-Theorie in der Schreib-Praxis hilft. denn zum Schreiben bin ich hier. und ich glaube, die meisten anderen auch.
ich schreibe meistens aus der personalen Perspektive, manchmal personal Multiperspektivisch. stelle mir das vor wie eine Kamera, die ganz nah an meinen Figuren ist. manchmal geht es in dieser Perspektive über den Kamera-Blick hinaus, weil ich Gedanken und Sinneseindrücke schildere.
neutrales oder erzählerloses Erzählen stelle ich mir vor wie eine Kamera, die unsichtbar im Raum schwebt: der Autor kann nicht in die Figuren reinsehen, kennt ihre Gedanken nicht. aber hat sie erschaffen, in die Geschichte gestellt, lässt sie interagieren.
ein Ansatz, sich dem neutralen Erzähler im vorliegenden Fall "Was wir wissen" zu nähern : es geht darum, die dunklen Stimmungen, Absichten und Handlungen infolge schrecklicher Ereignisse so abzubilden, wie sie realiter stattgefunden haben könnten. es kann eine Form des Respekts gegenüber den Ereignissen sein, sich als Autor nicht einzumischen, sondern abzubilden, was durch "die Kamera" zu sehen und zu hören ist.
in dem Zusammenhang nickte ich auch zum Vergleich von Bea Milana , die an das Schweigen angesichts eines anderen Grauens erinnerte.
es kann aber auch die Text-Wirkung beim Leser verstärkt werden. der reduzierte Erzähler lässt Leerstellen, die vom Leser zu füllen sind. so vom Text gefordert, wird das aktive Eindenken gefördert, was gerade bei so düsteren Themen einen starken Effekt haben kann. bei mir hat das funktioniert. aber bei dem Punkt gehen die Meinungen erfahrungsgemäß sehr stark auseinander. und wer mehr Transferleistung verlangt, vertritt nicht die herrschende Meinung auf diesem Forum. das kann mensch machen, aber jeder, der so was tut, sollte mit Gegenwind rechnen. aber es lohnt sich, wenn einige dabei lernen!
ob das beim personalen Erzählen jetzt so sehr anders gewesen wäre, weiß ich nicht. darüber werde ich nachdenken, mir ist das ja jetzt in manchen Aspekten neu. eine personale Multi-Perspektive müsste mE das gleiche leisten können. der Autor kann ja immer noch entscheiden, was er nach außen dringen lässt, was seine Figuren verstehen, wie die sich äußern und was daraus verstanden werden kann. er muss keine Gedanken und Sinneseindrücke schildern. würde allerdings der Geschichte immer dann einen anderen Anstrich geben müssen, wenn die Perspektiven gewechselt werden. der Kamerablick in andere Figuren reinzoomt, die aber trotzdem von außen beschrieben werden.
weitere Annäherung: auch der neutrale Erzähler muss auswählen. welches Geschehen er zeigt, was darin gesagt und wie das verstanden wird. er wählt Thema, Szenario, Figuren, Tonfälle, Verhalten.
versucht aber in der Tendenz, das möglichst realitätsnah abzubilden. sich nicht kommentierend einzumischen. unabhängig seines Standpunkts das Gezeigte nicht in den Kontext zu setzen.
jimmysalaryman : "Welche Transferleistung möglich ist." also wie viele Leerstellen im Text der Leser füllen kann.
wir haben 2015 einen Dokumentarfilm gedreht. sind bei Diskussionen nach dem Zeigen der Doku zu Gefahrengebieten dafür kritisiert worden, dass wir uns vom türkischen Staatsfernsehen interviewen ließen. einige warfen uns Naivität vor, andere meinten, wir würden die Selbstdarstellung eines Diktators unterstützen. ich habe damals mit dem mündigen Zuschauer argumentiert, der sich selbst ein Bild macht. denn was wir brauchen, sind Menschen, die kritisch mitdenken; nicht welche, die sich ihre Meinung zufüttern lassen, die alles im kommentierten Kontext wollen, um sich auf der politisch korrekten Seite zu wissen.
dieser Film hat ja dokumentarischen Anspruch, er soll einen Weltausschnitt abbilden, wie der wirklich ist. aber auch hier gibt es eben den Kreativen, der selbst auswählt, was gezeigt und was weggelassen wird.
das kann auch eine Gefahr dieser Form der Darstellung sein: dass Zuschauer und Leser eher glauben könnten, sie würden jetzt endlich eine Wahrheit erfahren. während es doch immer ein vermittelter Standpunkt bleibt, in jedem Medium, bei jeder Disziplin des Schreibens.
und Diskussionen um Definitionen und welche Geschichte welcher Kategorie zuzuordnen wäre, führen mE selten zu Ergebnissen, die Schreibenden beim Schreiben helfen. was die können, ist zum Beispiel, unseren Blick für Differenzen zu schulen und zu schärfen. und das hilft dann ja wieder beim Verfassen von Fiktionen.
ich lasse wenig Literaturtheorie in meinen Kopf. ich habe den Eindruck, die hindert mich beim Schreiben.
ich stelle mir das erzählerlose Erzählen wie einen Kamerablick vor. die virtuelle Kamera schwebt im Raum und der Erzähler vermittelt das Gesehene und Gehörte.
ich habe ja vorher versucht zu verstehen, was das besondere an der Perspektive des "erzählerlosen Erzählens" ist und immer wieder mit dem Text "Was wir wissen" abgeglichen. den empfinde ich als hart, karg, düster. stimmungsvoll und in Hinsicht aufs Thema stimmig.
da aber Dos Passos ebenfalls als Beispiel genannt wurde, eröffnet sich eine komplett neue Welt der Möglichkeiten. dessen Buch ist unglaublich vielseitig, bunt, voller Leben. auch Dunkelheiten, Armutsschicksale des frühen US-Amerika, aber auch aus anderen Schichten, Milieus. dort wechseln sich die Geschichten ab mit Reportage-ähnlichen Einschüben, einer Wochenschau, die Neuigkeiten vom Weltgeschehen bringt. und seinem "Camera-Eye".
will damit sagen, dass sich dieser Erzählstil, diese Perspektive auch für andere Themen und Haltungen eignet - wäre doch was, wenn jetzt jemand so eine Perspektive für seine nächste Geschichte wählt.
sehr spannend wäre die Kombination neutraler Erzähler und unzuverlässiger Erzähler.