Videodreh auf dem Hof
Sie empfinden Lust am Tod?, hatte Jakob ins Forum geschrieben. Aber das war die falsche Forumlierung gewesen, deshalb hatte er den Cursor auf Editieren bewegt.
Sie empfinden Lust am Sterben? Die richtige Frage. Besser konnte man sie nicht stellen. Und eine bessere Antwort, als jene, die er auf diesen Beitrag in einer der verschlüsselsten und undurchsichtigsten Ecken des World-Wide-Web bekommen hatte, hätte es nicht geben können.
Ja, ich denke, wir teilen dieses Interesse.
Er konnte es noch immer nicht fassen. Er saß dem Mann seit einer halben Stunde in dem beengten Hotelzimmer gegenüber und noch immer konnte er es nicht fassen.
„In zwei Monaten. Genauer gesagt vom 21. - 23. Mai.“, sagte der hochgewachsene Mann mit den tief in den Höhlen sitzenden Augen, der im Forum unter dem Nickname Merlin in Erscheinung getreten war. Weil ich vieles von dem möglich mache, was andere sich nur erträumen, hatte er auf eine beiläufige Frage von Copperfield - Jakobs Nickname - zurück geschrieben.
„Am Freitagabend kommen Sie auf den Hof. Der Bauer wird Ihnen ein Zimmer eingerichtet haben. Er wird für die zwei Tage, die Sie bei uns verbringen werden, soetwas, wie Ihr Hausmädchen sein. Eines mit Bierbauch und Bartstoppeln, aber das dürfte Sie kaum stören.“
Der Mann sprach jedes Wort deutlich aus, als befürchtete er, Jakob wäre der deutschen Sprache nicht mächtig. Sein Tonfall war ruhig und bestimmt. Es war klar, wer bei dieser Sache die Zügel in der Hand hielt. Und Jakob war froh darüber. Sein Gegenüber wusste was er tat, und seinem Auftreten nach zu urteilen, hatte er es schon ein paar Mal getan. Wäre Merlin - der seinen richtigen Namen nicht nennen wollte, er hatte Jacob geboten, es ihm gleich zu tun - ein untersetzter Typ mit Halbglatze und Schmerbauch gewesen, der zwischen den Sätzen ein nervöses Kichern ausgestoßen hätte, wäre Jakob wahrscheinlich direkt nach der Begrüßung wieder gegangen, hätte sich in seinen BMW gesetzt, und wäre jetzt wieder zu Hause in seinem beschaulichen 800-Seelen-Dorf, anstatt mitten in Duisburg.
„Sonntagabend verlassen Sie den Hof. Einen Monat später werden wir uns wieder in diesem Raum treffen“, Merlin breitete beide Arme aus; Jacob musste unweigerlich an den Priester aus seinen Messdienertagen denken. Nur erzählte dieser hier, mit seinem hauchdünnen Haar, das ihm bis über die Brust fiel und den feinen Gesichtszügen, vom genauen Gegenteil des ewigen Lebens.
„Und Sie erhalten von mir das Video.“
„Das klingt perfekt“, sagte Jakob.
„Es wird die Erfüllung Ihres Traums“, sagte der große Mann und klappte dabei seinen Laptop auf, der die letzte halbe Stunde unberührt auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen gestanden hatte.
„Ein einmaliges Erlebnis. Und ich glaube, Sie sehnen sich nach einem Vorgeschmack.“ Mit diesen Worten drückte er ein paar Tasten und schob dann den Bildschirm zu Jakob.
„Der letzte Kunde, war mit unserem Material sehr zufrieden“, sagte Merlin, während Jakob auf das geöffnete Fenster vor dem schwarzen Hintergrund starrte, das das Gesicht eines jungen Mädchens zeigte, dessen Züge vor Qual verzerrt war. Im nächsten Moment gab die Kamera den Grund dafür Preis: Ein nackter Mann, eine Ledermaske über den Kopf gestülpt, bohrte mit einem Messer in dem Fleisch ganz in der Nähe ihres Genitalbereichs.
„Alles echt, genauso etwas werden Sie auch erleben“, versprach Merlin und lächelte zum ersten Mal, seitdem sie sich in der Hotellobby die Hände geschüttelt hatten. Jakob fragte sich, ob die Beule in seinem Schritt der Grund dafür war.
Der Bauer vereinte alle Klischees seines Berufstands. Er war untersetzt, von stämmiger Statur und schob eine Kugel vor sich, die nur von unverhältnismäßigen Fleisch - und Biergenuss rühren konnte. Seine Kleidung bestammt aus einer grünen Latzhose, einem rot-weißem Karohemd und einem Hut mit spitzzulaufender Krempe.
„Es wird Ihnen g'fallen“, sagte er, während er vor Jakob die schmale Holztreppe hochstieg, die unter seinen Gummiestiefeln ein Krächzen von sich gab.
„Ein gemütliches Zimmer, das Sie da für die nächsten zwei Tage ham’ werden.“
Sie erreichten den Treppenabsatz, von wo aus einer kurzer Flur zu mehreren Türen führte.
„Das hier is' das Klo“, sagte der Bauer im ausgeprägten bayerischen Akzent und deutete auf die Tür zu seiner Rechten. Für einen Ruhrgebietler klang es nach einer Fremdsprache, und Jakob musste sich anstrengen, die Worte zu entschlüsseln.
„Direkt daneben Ihr Zimmer.“ Der Mann drehte sich zu ihm um und zeigte ihm ein Grinsen, das ihm so widerlich noch bei keinem Menschen zuvor begegnet war. Mitgenommenes blasses Zahnfleisch umfasste kleine stumpfe Zähne, an denen nichts Weißes mehr auszumachen war.
„Damit Sie’s nich' so weit ham, wenn der Darm drückt. Is' für alles vorgesorgt, wie Sie seh'n.“
Jakob setzte ein schuldiges Lächeln auf und sagte: „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Soviel Gastfreundlichkeit hatte ich gar nicht erwartet.“
Lorch, der Bauer, stieß ein Lachen aus, das dem Wiehern eines Pferdes sehr nahe kam und öffnete das Zimmer, das Jakobs Unterkunft für die Zeit des Videodrehs sein würde.
„Seid Ihr nich' gewohnt, da wo ihr herkommt, he?“, fragte der Bauer und trat zur Seite, damit Jakob eintreten konnte. „Da im Pott. Wir hier in Bayern sind da ein andrer Schlach Menschen.“
Solange ich auf bayerischem Boden das bekomme, was mir Merlin versprochen hat, könnt ihr vor mir aus auch Außerirdische sein, dachte Jakob und sah sich im Raum um, dessen Hauptaugenmerk die vielen Geweihe und ausgestopften Tiere waren. Über dem groben Fichtenholzbett, das ihn an seine Jugend erinnerte, prangte der Kopf eines ausgewachsenen Hirschs, samt Geweih. Die Augen waren schwarze Kugeln, ähnlich den Murmeln mit denen sie in den Hinterhöfen gespielt hatten, lange bevor der weibliche Körper irgendeinen Reiz ausgeübt hatte.
„Hilde“, sagte Lorch. Es dauerte einige Augenblicke, bis Jakob begriff, dass er sich auf den ausgestopften Tierkopf bezog.
Was dann geschah, war zu absurd, als dass man sich später daran erinnern hätte können, ohne sich zu fragen, ob es tatsächlich stattgefunden hatte: Lorch ging zu dem Kopf, dessen Hals in einer ovalen dunklen Holzscheibe endete, legte drei seiner globigen Finger auf das Fell oberhalb der Stirn und begann die Stelle zu streicheln, während sein Mund kehlige Laute von sich gab, als würde er einen Prunftschreis synchronisieren - Röh, Röh, Röh!
Er begann mit den Stiefeln auf dem Zimmerboden zu stampfen, als Merlin in der Tür erschien. Die Vorderseite seines weit geschnittenen Mantels war mit feinen Blutspritzern gesprenkelt.
„Das reicht!“
Der Bauer zuckte zusammen und beendete augenblicklich seine surrealistische Aufführung. Als er sich umdrehte und den beiden anderen Männern im Raum sein Gesicht zuwandte, wirkte er auf Jakob wie ein kleiner Junge, den sein Vater bei einem harmlosen Streich erwischt hatte. Sein Grinsen besaß eine Naivität, die es Jakob unmöglich machte, nicht eine gewisse Sympathie für ihn zu empfinden.
„Geh und hol’ seinen Koffer aus dem Wagen“, sagte Merlin, dessen Gesichtsausdruck Welten von Naivität entfernt war. Lorch kam dem ohne zu zögern nach.
Als sie alleine waren deutete Merlin Jakob sich aufs Bett zu setzen. Er ließ sich auf die Matraze nieder und faltete die Hände im Schoß. Sie zitterten vor Aufregung. Jetzt würde Merlin mit ihm in die Einzelheiten durchgehen.
„16:30Uhr“, sagte der große, schlacksige Mann, nachdem er zu der Standuhr geschaut hatte, auf deren Gehäuse mehrere kitschige Porzellanpuppen in Trachten standen.
„In fünf Stunden werden wir beginnen.“ Jakob konnte nicht verhindern, dass sich bei dieser Aussicht die Mundwinkel nach oben zogen. Das, wovon er seit frühpupärteren Tagen geträumt hatte, sollte in mickrigen 300 Minuten Wirklichkeit werden? Er wäre Merlin am liebsten um den Hals gefallen.
„Die Scheune bietet ein wunderbares Set. Ihre Größe konnten sie von außen ja bereits bewundern, von innen wirkt das Ganze sogar noch um einiges monumentaler.“
Die Scheune, die Jakob schon ein ganzes Stück aus der Ferne ins Auge gefallen war, war ein echtes Prachtstück. Es fiel nicht schwer, sie sich als Teil eines amerikanischen Familienschmachtfetzens über den alten Westen vorzustellen.
Nun, bei ihrem kleinen Filmchen würde die weibliche Rolle kein sanftes, gutmütiges Lächeln bereithalten, während sie ihre Arbeit verrichtete. Bei diesem Gedanken schraubten sich seine Mundwinkel ein kleines bisschen weiter in die Höhe.
„Es gibt Tierboxen in verschiedenen Variationen, einen Heuboden, sowie ein paar Bauten, die für eine Scheune eher ungewöhnlich sind. In unseren letzten Produktionen hat sich der Brunnen als hervorragender Drehort herraus gestellt.“
In unseren letzten Produktionen ... Wie lange existierte dieser Ort schon, oder besser: Wie lange schon hatte er diesen Verwendungszweck?
Auf jeden Fall besaß diese Formulierung etwas Beruhigendes. Es schien bis jetzt zumindest keine Probleme gegeben zu haben, nichts war aufgeflogen. Bei allen Aktivitäten, die Jakob in Sachen Lustbefriedigung unternommen hatte, war der größte Störfaktor (außer dem, dass es verdammt schwer war, an ungestelltes Snuff-Material zu gelangen) die Angst, aufzufliegen gewesen. Als er mit Ende Zwanzig im Internet begonnen hatte, Videos zu bestellen, die den Geschlechts - und darauf folgenden Tötungsakt von Frauen zeigten und er den privaten Händlern aus Karibikstaaten seine Kontonummer überlassen hatte, war eine lang anhaltende Periode von Alpträumen die Folge gewesen. Träume, in denen er - gebrandmarkt als Monster - auf der Anklagebank saß, der Gerichtssaal überfüllt mit Zuschauern, deren Blicke auf ihm lasteten, und Kameraobjektiven von Medienanstalten. Aber es war - bitte drei Mal auf Holz klopfen! - alles gut gelaufen.
„Nun ja, erwarten Sie keinen richtigen Brunnen, Copperfield“, fuhr Merlin fort. „Ich will keine falschen Erwartungen wecken. Wir nennen es so. Es ist ein zwei mal zwei Meter großes Loch im Mittelpunkt der Scheune. Sechs Meter tief. Wir haben seine Wände mit Folie verkleidet. Das Wasser wechseln wir ziemlich selten. Es hat seinen eigenen Flair, wenn es längere Zeit ungereinigt bleibt. Und den werden Sie zu schätzen wissen, glauben Sie mir das!“
Das tat Jakob ohne weiteres. Diesen blassen, vollen Lippen hätte er sogar geglaubt, hätten sie ihm ein anderes Datum für seinen Geburtstag verraten, als es Mutter und Urkunde taten. Die ruhige Art der Gestalt in dem verblassten schwarzen Mantel hatte etwas an sich, für das die Begriffe Sicherheit und Vertrauen erfunden zu sein schienen.
„Sie gehören zu meinen Meisterleistungen als Regisseur. Die Szenen, in denen ich die Mädchen untertauchen lasse, um dann den Ausdruck auf ihren vor Angst wahnsinnigen Gesichtern einzufangen, den die Menschen nur bekommen, wenn sie am Ertrinken sind. Es ist eigenartig, aber ihr Ausdruck ist dann ein Anderer, als beim anders herbei geführtem Sterben. Irgendwie intensiver. Ich habe mir eine kleine Theorie dazu ausgedacht. Lachen Sie jetzt bitte nicht, ich bin kein Mediziner, Archäologe oder irgendetwas, für das der Doktortitel eine Vorraussetzung darstellt.“ Zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, zeigte er ein Lächeln. Wenn auch ein unterkühltes.
„Aber ich stelle mir das so vor: Vor Jahrmillionen, als unsere Vorfahren nur ein, zwei Entwicklungsstufen über dem Affen waren, muss die Chance zu Ertrinken tausendmal größer gewesen sein, als heute. Ich habe nicht nachgeforscht, aber ich würde um Einiges wetten, dass diese Primitiven nicht schwimmen konnten. Es ist ja bekannt, dass die Völker - oder vielleicht doch eher Herden - weite Wanderungen wegen der Nahrungssuche unternehmen mussten, Sie verstehen?“
Jakob nickte.
„Und da trifft man unweigerlich auf Flüsse, die man überqueren muss. Ganz einfach!“
Jakob hielt diese Theorie für gelinde gesagt wenig plausibel, aber er hätte nicht im Traum daran gedacht, dies Laut zu äußern. Bevor er überhaupt eine Höflichkeitsreaktion von sich geben konnte, war Merlin schon wieder beim Wesentlichen angelangt.
„Die beiden Mädchen, die uns beim Dreh zur Verfügung stehen, befinden sich im Schuppen neben der Scheune. Sie sind mit Medikamenten ruhig gestellt.“
Jakob öffnete seinen Mund, um zu protestieren. Das war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Die Mädchen sollten dabei ...
„Keine Angst“, sagte Merlin, bevor mehr als ein enttäuschtes Stöhnen seinen Mund verlassen hatte. „Bis wir beginnen, wird die Wirkung längst verblasst sein." Er machte eine Pause und sagte dann: "Sie sind hübsch ... Zierlich, dass man jede verfickte Rippe sieht!“ Zum ersten Mal lag in seinem Tonfall eine Nuance von Unsicherheit. Außerdem wirkte der Ausdruck Verfickt aus diesem fein gezeichneten Mund irgendwie falsch. Passend dazu verblasste das hagere Gesicht des Mannes. Seine geweihteten Augen starrten Jakob an, als würden sie eine Tarantel über seine Wange krabbeln sehen.
„Juhu!“, drang ein lauter Schrei aus dem unteren Stockwerk zu ihnen. Dies löste Merlin aus seinem lethargischen Zustand.
„Entschuldigung, ich muss nach Lorch sehen“, murmelte er und verließ schnellen Schrittes den Raum. Im nächsten Augenblick hörte Jakob das Quietschen der Treppenstufen und ein weiteres schrilles „Juju.“
Die nächsten stunden verbrachte Jakob mit dem Blättern in einem historischen Roman. Er hatte Merlin darum gebeten, als dieser ihm nach seinen Interessen gefragt hatte, um ihn den Aufenthalt auf dem Hof angenehm zu gestalten. Jakob hatte mit Schund aus den Bestsellerlisten der vergangenen Jahre gerechnet, doch den Stapel, den Lorch von seiner Einkaufstour mitgebracht hatte, stellte eine erfreuliche Überraschung dar. Neben dem Klassiker des Genres, Hugos Glöckner von Notre Dame hatte der Bauer auch Neuauflagen solcher Perlen wie Waverly von Sir Walter Scott oder Die vierzig Tage des Musa Dagh aus der Feder Franz Werfels. Das Letztere suchte Jakob bereits seit vielen Jahren vergeblich. Er hatte in Bibliotheken geforscht, hatte Archive von Privatsammlern durchforstet - der Teufel wusste, wie Lorch das geschafft hatte. Aber er konnte die Mühe nicht schätzen. Er schaffte es nicht, sich auf die Satzstrukturen zu konzentrieren, las nur oberflächlich und hatte auf der nächsten Seite bereits vergessen, wovon die vorige gehandelt hatte.
Seine Gedanken drifteten immer wieder zu dem Geschehen, dass in - ein Blick auf die Uhr - genau drei Stunden und fünfzig Minuten begingen würde. Sein Schwanz richtete sich auf, als er sich an Szenen aus seiner Videosammlung erinnerte. Er legte das Buch zur Seite und ließ den Kopf aufs Kissen sinken. Ein Best-of lief vor seinem inneren Auge ab und er versuchte sich dabei zu entscheiden, welche Praktiken er für heute Abend auswählen sollte. Entscheidend war natürlich, wieviel die Mädchen aushalten würden.
Es klopfte an der Tür. Lorch meldete sich: „Merlin hat g'sagt, ich soll Ihnen was zum Ess'n bring'. Richtige Hausmannskost, Sie werd'n danach dat Fressen bei euch da in NRW verfluch'n, versprech' ich Ihnen!“
Erst jetzt bemerkte Jakob seinen leeren Magen.
Um Viertel nach Sieben hielt er es nicht mehr aus. Er musste die Mädchen sehen. Es hatte sich zu einer Qual entwickelt, sich ihre Körper vorzustellen. Welche Haarfarben würden sie haben, waren sie braungebrannt oder eher zartblass, welche Details wie Sommersprossen oder Muttermale?
Merlin hatte ihm gesagt, er solle sein Zimmer nur verlassen, wenn er aufs Klo musste. Ein schnurloses Telefon lag bereit, wenn er irgendetwas brauchen sollte. Nur die 1 wählen und die Taste zur Bestätigung drücken, und Sie erreichen Lorch, der nach Ihnen sehen wird, waren seine Worte gewesen.
Auch wenn das Verlangen nach frischer Luft übermächtig werden würde - nicht einfach das Haus verlassen, sondern erst den Bauern verständigen!
Sicherheitsmaßnahmen, die Sie nachvollziehen werden können, wenn Sie sich schon lange in unserem Milieu bewegen, Copperfield! Natürlich wusste Jakob, dass man bei dieser Sache nicht vorsichtig genug sein konnte. Kleinigkeiten und dumme Zufälle konnten dazu führen, dass man die nächste Dekade mit einem Blick auf zehn Meter hohe Mauern samt Stacheldrahtrollen absolvierte.
Dennoch würde er gehen. Die kitschige Atmosphäre des Zimmers war in der letzten Stunde immer erdrückender geworden. All der Jagdprunk an den Wänden, die gestrickten Deckchen auf den Möbeln, dazu die Trachten tragenden Puppen - sie waren besonders schlimm. Wie sie ihn aus den aufgemalten Augen auf ihren bleichen Porzellan-Gesichtern anstierten, egal wo er sich in dem eng bemessenen Zimmer aufhielt!
Als er die Treppe hinunter schlich und auf Geräusche vom Erdgeschoss lauschte, die auf seine beiden Gastgeber schließen ließen, fragte er sich, warum er dem groß gewachsenen Mann eigentlich soviel Vertrauen entgegen brachte. Es gab keine logischen Gründe dafür und selbst seine ruhige Ausstrahlung hatte einen Dämpfer bekommen, als das Gespräch auf die Mädchen gekommen war und er daraufhin das Zimmer gehetzt verlassen hatte.
Unten war nur der Fernseher zu hören. Jakob erreichte den Treppenabsatz und zögerte einen Moment, bevor er nach der Klinke der Haustür griff. Was sollte er Merlin sagen, wenn er ihn draußen erwischte? Dem Bauer konnte er mit was-weiß-für-einer-Geschichte kommen, er würde sie Jakob abnehmen. Merlin jedoch würde anders reagieren. Vielleicht würde ein Ausrutscher in seinem Verhalten, Merlin dazu bringen, die ganze Sache abzublasen. Wollte er das wirklich riskieren? Seinen sehnlichsten Traum?
Quatsch, dachte er. Stell dich nicht so gottverdammt idiotisch an! Immerhin haben 120000 Euro das Konto gewechselt. Und außerdem ...
Er öffnete die Tür und trat hinaus. Mit nach untem geschobenen Knöpfchen zog er die Tür hinter sich sanft ins Schloss.
Die frische Luft war herrlich. Wie gemacht für ein Ereignis, wie es ihm bevorstand; ein leichter Wind ging, doch war es angenehm warm.
Er spürte ein leichtes Ziehen in der unteren Magenregion, während er auf einem Pfad plattgetretener Erde zur Scheune ging. Ein Gefühl, das ihm bestens vertraut war und immer in jenen Situationen einsetzte, in denen etwas Aufregendes bevorstand. Etwas schönes Aufregendes.
Kein einfaches Kribbeln im Bauch, nein, bei ihm war es ein süßlicher monotoner Schmerz. Er liebte es, auch wenn damit einherging, dass er glaubte, scheißen zu müssen.
Links von ihm zweigte der Weg ab und stieg zu einer Einfahrt an, die zweihundert Meter weiter zu einer Landstraße führte. Er hatte nicht darauf geachtet, doch Jako war sich sicher, dass er in den vergangenen Stunden, die er in seinem Zimmer mit Fenster zur Straße verbracht hatte, keinen Motorenlärm eines Autos gehört hatte. Rechts erstreckten sich weite Wiesen. Dann kam ein Waldgebiet und schließlich stieg die Landschaft in einiger Entfernung an und auf dieser Erhöhung stand ein Dorf.
Maienbach, hatte Merlin ihm geantwortet, als er nach den Häusern, die in der Ferne auszumachen waren, gefragt hatte. Um die 1000 Einwohner. Eine Postfiliale und eine Gaststätte, in der man aber nur bescheidene Kost serviert bekommt. Ansonsten nicht viel.
Der Hof war tatsächlich eine abgelegene Idylle. Einen besseren Ort, für ihren Dreh hätte es nicht geben können. Merlin hatte nicht zuviel versprochen.
Neben der Scheune kam der Schuppen in Sicht. Das Stechen im Unterleib gewann an Stärke, als er die Konstruktion in Augenschein nahm. Groß genug, um ein Auto darin abzustellen war die Bretterbude. Und die Bezeichnung passte bestens. Einige der Holzlatten hingen schief, andere waren gebrochen und alle hatten gemein, dass nur noch winzige Pikmente der einst aufgetragenen Farbe an ihnen haften geblieben waren. Vor der Tür hatte sich eine große Matschfütze gesammelt.
Gehörte die Scheune als Kulisse in einen romantischen Western, war der Schuppen wie gemacht für einen Horrorstreifen.
Jakob verlangsamte seinen Schritt. Es würde ein besonderer Moment sein, erstmals den Mädchen ins Gesicht zu sehen, die ihm seinen größten Traum erfüllen würden. Hätte er eine Zigarettenschachtel bei sich getragen, hätte er einen der Klimmstängel angezündet, obwohl er die qualvolle Zeit des Abgewöhnens noch zu gut in Erinnerung hatte. Obwohl ... Dieser Moment hätte mehr eine Zigarre verdient.
Neben dem Schuppen verlief ein Zaun, der ein kleines Fleckchen Gras von der weitflächigen Wiese trennte. In dem Rechteck, das sechs niedrige Erhebungen aufwies, dösten ein paar Schafe. Die Meisten lagen, ein Kleintier aber hatte das Maul zwischen die beiden Streben des Bretterzauns gelegt und starrte Jakob mit dumpfen Blick an. Es schien ein Flehen in den Augen zu liegen.
Werden die Mädchen mich genauso anschauen?
Er erreichte die Tür. Seine Timberland standen mitten in der schlammigen Pfütze. Würde ihn der Schmutz an den Schuhen später verraten? Dieses Detail hatte er nicht bedacht. Egal, nun ließ es sich nicht mehr ändern. Er presste sein Ohr gegen das feuchte Holz und lauschte. Ein Wimmern war zu hören, und sein Herz machte einen Sprung in die Höhe. Eines der Mädchen war wach, wie es schien. Ob es sich seiner Lage bewusst war? Nein, entschied er. Wenn es auch nur erahnen würde, was auf es zukam, würde es schreien, nicht bloß wimmern.
Auch er konnte ein Wimmern aufgrund des Ziehens im Unterleib nicht zurückhalten. Es hatte viel von einem Stöhnen während des Geschlechtsakts.
Das Wimmern hinter der Tür stieg an und flachte dann wieder ab. Stieg an, flachte ab ...
Es war besser in sein bavarisch ausgestattetes Zimmer zurückzukehren. Jakob hatte seinen kleinen Vorgeschmack bekommen, das musste reichen.
Doch seine Füße wollten sich nicht bewegen. Auch wenn sich die Socken mit dem Schlamm vollgesogen hatten. Er musste wissen, wie sie aussahen!
Jakob legte die Hände auf den Riegel, der vor der Tür in zwei rostigen Metallstreben lag, und verharrte einen Moment. Aus Nervosität entwich ihm ein Kichern. Wie ein Klosterschüler, der vor Publikum Fotze sagen soll, überlegte er.
Dann ließ er sich von seiner Neugierde treiben. Er hob den Riegel und lehnte ihn gegen den Schuppen. Augenblicklich öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Jakob legte die Finger hinein und zog sie auf.
Beim Anblick, der sich ihm bot, hätte er beinahe geschrieen. Ein heftiger Schreck durchzuckte ihn, als er die auf dem mit Heu ausgelegten Boden kauernde Gestalt sah.
Es war kein Mädchen, das ihn in der Düsternis des fensterlosen Raums erwartete, sondern ein bis auf Haut und Knochen abgemagerter Alp. Nackt kniete er zwischen Schweinetrögen und reckte sein Hinterteil obszön in die Höhe. Narben zeichneten sein Fleisch. Kreuz und quer zogen sie sich über die blasse Haut, traten einen guten Zentimeter daraus hervor.
Der Oberarm des Geschöpfs (in dem düsteren Licht und in dieser obskuren Haltung fiel es ihm schwer, das Wesen, als einen Mann zu bezeichnen) war durch eine Brandwunde entstellt, die sich bis über das Schulterblatt zog. Es war selbst für ihn, der etliche Male Folterungen aufgenommen mit Camcordern oder auf 16MM bestaunt hatte, unmöglich sich auszumalen, welche Praktiken dazu geführt hatten.
Jakob war unfähig zu einer Reaktion. Seine Füße, die auf den ersten dürren Dielen des Schuppeninneren zum Stehen gekommen waren, fühlten sich an, als wären sie mit dem Schlamm auf dem Boden verwachsen. Er dachte nicht einmal an den Versuch, sich zu bewegen. Stattdessen gaffte er mit aufgerissenem Mund, aus dem Speichel tropfte und sein Kinn beschmierte.
Er brauchte einige Momente, bis er sich sicher war, dass seiner Kehle kein Schrei verlassen würde. Erst, als diese vorrüber waren, wurde ihm klar, wer dort unten hockte und seine monotone Symphonie aus Säufzern ausstieß. Und kurz überlagerte die Frage, warum er das schwarz gelockte Haar, das über den Rücken der Martyrien fiel, nicht sofort mit Merlin assoziiert hatte, sogar die Steigerung des Schreckens, die diese Feststellung mit sich brachte.
Das Seufzen jedoch klang entschieden zu hoch für einenMann. Auch die Figur war ... Naja, eigentlich hatte er Merlin nur in einem weiten Mangel gesehen.
„Warum?“, fragte der Mann auf den schmutzigen Dielen und starrte mit in den Nacken gelegten Kopf flehend an die Spinnweben verhangene Decke. Seine Augen waren gerötet und ein stetiger Tränenfluss lief ihm über die Wange und tröpfelte in von dort in den Staub.
„Ich... Sie ham mir so... Mein Gott, bitte, bitte nicht, ich... Nein, ich will das nicht, bitte!“ Das Schluchzen ging in einen Heulkrampf über. Merlin (oder das, was von der Person, die Jakob als Merlin kennen gelernt hatte, noch übrig geblieben war) vergrub sein Gesicht in den Händen. Unverständliches Gemurmel drang hinter diesen langen, grazilen Klavierspielerfingern hervor.
Plötzlich fuhr er hoch, stemmte sich in die Hocke und sprang auf die Beine. Jakob zuckte zusammen.
Jetzt bis du dran, schoss es ihm durch den Kopf. Das war alles nur Schauspiel, um dich zu testen. Und du hast unter Garantie nicht bestanden!
Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als wäre Merlin nun wieder der Merlin, den er kennengelernt hatte. Aufrecht stand er da und sah gefasst an die gegenüber liegende Wand. Er gab kein Schluchzen mehr von sich, und auch die Tränen waren versiegt.
Jakobs Herz schlug hart, als wollte es sich aus dem Brustkorb befreien. Der Schweiß, der seinen Rücken hinunter floss, war eisig kalt.
Ohne sich darüber bewusst zu sein, was er tat oder warum er es tat, beugte er sich zur Seite, um Merlin in die Augen schauen zu können. Was er in den Augen sah, ließ seine Muskeln schmerzhaft verkrampfen. Merlins Pupillen verengten sich und ihre Farbe wandelte sich von einem skandinanivischen Blau in einem dunkleren Ton. Damit einhergehend entspannten sich die Gesichtszüge um die Augenpartie und der Wange. Jakob glaubte erkennen zu können, wie ein zarter Flaum aus der Haut spross. Um das Kinn herum waren es sogar Bartstoppeln.
Das ist das Licht, sagte er sich. Mehr nicht... Eine optische Täuschung! Die vielen Schatten im Raum und deine Anspannung reden dir das ein! Er hätte dem gern Glauben geschenkt, doch war es zu offensichtlich eine Schutzbehauptung, um mit dem Unbegreiflichen klar zu kommen.
"Süße kleine Zitzen! Jepp, süße zierliche Zitzen", sagte Merlin und seine Stimme klang tiefer als zuvor. Seine schmalen Lippen bildeten ein Lächeln. Es sah erzwungen aus, als würde im Inneren des Mannes ein Kampf ausgetragen werden und eine Partei hätte sich einen leichten Vorteil erfochten.
Merlins Arme schnellten vor die Brust, nachdem das Lächeln in seinem Gesicht erlosch, und pressten sich fest gegen das Fleisch.
"Oh nein! Oh, warum...", jammerte er, bevor der Wortschwall unter Geschluchzte zu einem unverständlichen Mischmasch wurde. Die Lippen bebten, die Sehnen an seinem Hals waren gespannt, als würden kräftige Arme ihre Enden in verschiedene Richtungen zerren.
"Michaela ... ich habe doch so lieb, darfst das niemals vergessen!", war das Nächste, was Jakob verstehen konnte. Beim Klang des Mädchennamens durchzuckte es ihn wie ein Stromschlag. Der Impuls jagte seine Wirbelsäule entlang und versteinerte seine Nackenmuskulatur. Michaela, dachte er. Dieser Name weckte Etwas in ihm, was eine tiefe und wichtige Botschaft bereithielt, die er nicht erfassen, sondern nur erahnen konnte. Er durchwühlte seine Erinnerungen nach dem Namen, stieß aber auf nichts Brauchbares.
"Lass, meine Hand nicht los! Warum... Bitte, lass mich doch nicht los! Bitte ..." Die geschundene Gestalt in der Mitte der Hütte setzte zu einem Schrei an. Die ersten Laute drangen schneidend durch die staubige Luft, als ... als er plötzlich erstarb.
Jakobs Blick wurde erneut auf Merlins Gesicht gezogen. Die Bartstoppeln hatten sich vermehrt. Um den Mund herum war ein wahres Gestrüpp gewachsen - zwecklos das zu leugnen!
Das Licht... Nichts weiter als das verdammte trübe Licht!
Den Zweifel an diesem Schuldigen versuchte Jakob mit aller Vehemenz zu verdrängen. Stattdessem brachte er weitere Beweiße auf die Anklagebank: Der heutige Tag hatte zu viele neue Eindrücke gebracht, ohne ihm die Chance zu lassen, das Erlebnis in Ruhe zu verarbeiten. Seine Anspannung - immerhin würde in wenigen Stunden genau das eintreten, was über Jahre hinweg nicht einmal in seinen Tagphantasien ernsthaft in Betracht gekommen war - hatte sich von Augenblick zu Augenblick in die Höhe geschraubt und nun war der Boden eben nicht mehr zu sehen, was nicht hieß, dass keiner mehr da war. Jakob würde in sein Zimmer zurückkehren und den Bauern dort um einen starken Kaffee bitten. Über das Gesehene, würde er nicht eher nachdenken, bis sein Hirn nicht wieder auf ruhigeren Frequenzen sendete. Erst dann - keinen Deut früher - war es an der Zeit, sich mit dem gerade Erlebten ruhig und vernünftig zu beschäftigen. Wer weiß, vielleicht war er Zeuge einer Zeremonie geworden, einem meditativen fernöstlichen Ritual. Warum die beiden Mädchen nicht wie angekündigt im Schuppen eingesperrt waren? Mein Gott, dafür ließen sich hundert Begründungen finden. Bei intensiverer Beschäftigung wahrscheinlich sogar tausend.
Mit zaghaften Schritten bewegte er sich rückwärts und starrte dabei weiter mit offenem Mund, aus dem Sabber tropfte, auf den schrecklich zugerichteten Körper Merlins, der damit begonnen hatte, den Kopf abwechselnd von Schulter zu Schulter zu werfen und dabei in der hohen Mädchenstimme sagte: "Die Nummer sieben. Wir tun's! Unsere Nummer sieben! Wir machen's auch dieses Mal so."
Er brauchte eine Stunde, bis er es schaffte, den zitternden Arm nach dem schnurlosen Telefon auf der Kommode auszustrecken. Die Bücher waren keine Hilfe gewesen; die Zeilen liefen über seine Netzhäute ohne, dass die verantwortlichen Hirnsynapsen die Information aufgenommen hätten. An Stelle von Worten hätten sich auf dem Papier genauso gut Strichcodes befinden können.
Jakob drückte die Eins und zuckte beim Signalton derart heftig zusammen, dass er das Telefon samt einer Vase beinahe runter geworfen hätte. Es piepte ein zweites, dann ein drittes Mal.
"Ja?", meldete sich die quietschige Stimme des Bauern endlich.
"Ich... Könnten Sie mir einen Wein bringen?" Er war zu der Erkenntnis gelangt, das Alkohol angebrachter war als Koffein.
"Wein!" Lorch klang, als würde ihn dieser Wunsch nicht gerade gefallen. Jakob wollte schon umschwenken, als der Bauer nach einigem zögern hinzu fügte: "I hoff', Ihnen schmeckt der Rote. Dürft' nur noch zwei Flaschen von meiner alten Mutter hie rumflieg'n ham. Hat immer den Roten getrunken, wenn se ihre Anfälle bekommen hat, das Sauvieh."
Es wäre bestimmt interessant zu wissen, welche psychische Störung der Mutter sich hinter dem Wort Anfall verbirgt und ob sie nicht Schuld an dem Plemm-Plemm- Zustand meines Hauswirtes sind, dachte Jakob.
"Es wäre großartig, wenn sie mir was davon bringen würde", erwiderte er.
"I werd mal schau'n." Lorch legte auf.
Alkoholiker hatten auf Jacobs Achtungsliste stets einen der niederen Ränge belebt. Für ihn waren sie der Inbegriff der Feigheit, wie sie vor ihren Problemen in eine Scheinwelt aus betäubten Sinnen flüchteten. Und nun musste er sich gestehen, dass er das Gleiche vor hatte. Mit ein paar Gläsern Wein wollte er das Nicht zu Begreifende verdrängen.
Der Anblick in der Hütte hatte ein vibrierendes Grauen in sein Mark gepflanzt. Deutlich sah er die entsetzlichen Narben auf der blassen Haut, die Brandwunde, die Merlins einen Arm in eine Kraterlandschaft verwandelt hatte.
Das Schlimmste aber waren die zwei verschiedenen Stimmen, in denen der nackt am Boden kauernde Mann gesprochen hatte. Sie waren ...
Seine Blicke wanderten immer häufiger zu den leeren Murmel-Augen des Elchkopfs. Hilde schien wie eine Gottheit strafend über ihn zu wachen. Die schwarzen Augen blickten ins Nichts und starrten gleichzeitig ihn an. Nachdem Lorch den Wein gebracht hatte, würde er den Kopf mit einem T-Shirt verdecken. Es war unmöglich, bei diesem Anblick Ruhe zu finden. Von Minute zu Minuten erschien ihm der ausgestopfte Kopf der Hirschkuh weniger tot.
Und wo wir gerade dabei sind, schmeiß am Besten die schrecklichen Porzellanfigürchen aus dem Fenster! Diese kitschigen Kleinmädchen-Darstellungen in Minitrachten und den übertriebenen Grinsen aus schwarzer Ölfarbe.
Lorch betrat ohne vorher anzuklopfen das Zimmer. Der Schlapphut saß nach hinten verrutscht auf seinem quadratischen Schädel und gab die Sicht auf eine hochgewachsene Stirn voller Falten frei.
"Hier, der fe'ne Herr!", sagte er und hielt die Weinflasche, die er bei sich trug, hoch. Er trat zur Kommode und knallte die Flasche, deren vergilbtes Etikett sich an den Rändern bereits abschälte, mitten in die Versammlung mehrerer Porzellanfiguren.
"Es ist nicht so ...", begann Jakob.
"Ach." Der Bauer schnitt ihm das Wort ab. "Sein 'se ruhich ehrlich, es is' Dreckszeuch!
Bei uns auf dem Land nimmt man's e'nem net bös', wenn er ka Arschkriecher is'."
Er wandte sich zur Tür, drehte sich dann aber nochmals zu Jakob um.
"Merlin hat g'sagt, ich soll Ihnen was ausrichten. Es tät ihm leid, aber der Dreh könne heut' Abend nich' stattfind'n. Sie soll'n nich' nach Gründen frag'n, es hat nich's mit Ihnen zu tun. Morgenfrüh wird es dann los geh'n."
Noch ehe Jakob etwas erwidern konnte, hatte ihm der stämmige Zwerg wieder den Rücken zu gedreht und marschierte mit seinen stampfenden Schritten aus dem Zimmer.
Die Nacht brach langsam und schwerfällig über den Hof, als wäre sie ein vier Zentner schwerer Koloss mit steifen Gelenken in den Beinen. Ungeduldig beobachtete Jakob wie das abendliche Grau in ein spätabendliches Rot überging. Die Zeit verran wie eine klebrige Masse und der Minutenzeiger der Standuhr bewegte sich, als würde Sand im Getriebe sein fortkommen zu einem quälenden Kampf machen.
Als sich die Dunkelheit gegen halb elf schließlich vollständig über das Land gelegt hatte, hatte Jakob einen Entschluss gefasst. Er würde nach den Antworten suchen. Hinter einer der Türen in diesem Haus würde die Erklärung für Merlins absonderliches Verhalten im Schuppen verborgen sein - Und die Bedeutung einer gewissen ("Lass mich doch nicht los ... ich habe dich doch so lieb ...) Michaela.
Hinter seiner Stirn lauerte ein monoton dumpfer Schmerz darauf, im entscheidenden Moment zu einem Raubtier anzuschwellen und los zu preschen. Sein Pulsschlag pochte wild, er spürte ihn hinter den Augäpfeln. Seine Gedanken hatten keinen Ruhepol gefunden, während Jakob die Weinflasche geleert hatte und waren immer wieder zur Szene im Schuppen zurück gekehrt. Die Erklärungsvorschläge dafür, die ihm sein rationaler Teil zurecht gelegt hatte, fühlten sich entsetzlich falsch an.
Bitte, lass mich doch nicht los ... Wir tun's ... Unsere Nummer sieben ...
Zum Teufel, was hatte der Dreck nur zu bedeuten?
Weitere zwei Stunden vergingen, in denen Jakob rastlos durch das kleine Zimmer auf und ab ging, ehe er den Mut fasste und nach der Türklinke griff. In diesem Moment schien jede einzelne Pore auf seiner Haut Schweiß abzusondern.
Er war sich sicher, in der Etage, auf der er sich befand, nichts finden zu würden. Also stieg Jakob die Treppe hinab - oder schlich viel mehr. Bei jedem Stöhnen der Holzstufen unter seinen Schuhen, durchlief ihn ein Schauer. So mussten sich die großen Abenteurer des ausgehenden 18. Jahrhunderts gefühlt haben, schoss es ihm durch den Kopf, die sich auf Expeditionen ins ewige Eis begeben hatten, oder iberischen Seefahrern wie Vasco Da Gama, die in Südamerika in eine mysteriöse Welt eingetaucht waren. Vom Untergeschoss war kein Laut zu hören. Die Stimmen aus dem Fernsehgerät waren etwa zur selben zeit verstummt, als die Nacht hereingebrochen war. Seitdem war es still gewesen. Lorch würde schlafen.
Als Jakob die Korridortür langsam aufschob, klatschte ihm eine Wand aus muffigen Gerüchen entgegen. Es roch nach Alter. Nach Staub und zerfallenen Spinnweben, die sich in die Tapete und die Holzverkleidung gefressen hatten.
Der Flur, den er betrat, unterschied sich kaum von dem des ersten Stockwerks. Eine Kommode stand wie ein schlafendes Ungetüm an der Wand unter einem Gemälde, das einen stolzen Hirsch auf einer Waldlichtung zeigte. Hilde, warst du diese Schönheit, bevor sie dir Schrot in den Körper gepumpt und deinen Kopf abgeschnitten haben? Er musste unwillkürlich grinsen.
Vor sich sah er fünf Türen. Auffälligkeiten konnte er keine entdecken. Nur hinter der Zweiten zu seiner Linken drang das röchelnde Schnarchen des Bauern. Ansonsten kam jede von ihnen in Frage.
Eine Zeitlang blieb Jakob regeungslos hinter der Schwelle der Korridortür stehen, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Dann aber fiel sein Blick wieder zu dem Hirschgemälde, das in seinen kraftvollen Farben und dem Heile-Natur-Motiv an Kitsch schwer zu überbieten sein würde. Die Augen des Tiers blickten nicht den Betrachter des Bildes an, sondern schauten zur rechten Seite - Würde man eine Linie in die Luft zeichnen, die den Blick fortführte, würde man auf die Tür neben der Garderobe stoßen. Er war sich bewusst, wie absurd es war, aus dem Ölgemälde eines Hobbykünstlers einen Hinweis auf ein ... Ein was? Ein Geheimnis, ja. Aber ein Geheimnis welcher Art?
Jakob bewegte sich über den leicht gewellten Linolium auf die Tür zu. Bei jedem Atemaussetzer, der aus Lorchs Schlafzimmer zu ihm drang, machte sein Herz einen Sprung in rekordverdächtige Höhen.
Für einen kurzen Moment nahm Taubheit von ihm Besitz, als er seine Hand auf den Türkgriff legte. Über die leichten Kopfschmerzen, die sich in den Stunden seit dem Besuch im Schuppen zusammengezogen hatten, breitete sich ein Tuch aus Unempfinden. Als wäre ich in Trance, dachte er noch, als dieser Zustand mit dem Öffnen der Tür verschwand.
Beim Anblick, der sich ihm bot, setzte sich ein Schrei in Jakobs Kehle fest. Er öffnete die zitternden Lippen, brachte allerdings nur ein Stöhnen zustande.
Zwei Dämonen mit totenbleicher Haut und langem schwarzen Haar, das wuschelig um schmale Gesichter fiel, streckten ihre Arme nach ihm aus. In den halb von Haarsträhnen verdeckten Augen las er die Abschrift eines Wahnsinns, der abgründiger war, als der menschliche Verstand fassen konnte.
Wie angewurzelt stand er in der Tür des Zimmers, das vom durch das Fenster dringendem fahlen Mondlicht erhellt wurde. Jeden Moment würden die krallenähnlich verkrümmten Finger nach seinem Hals greifen oder sich in seinen Brustkorb bohren. Nichts passierte. Jetzt erst fielen ihm die beiden Metallstangen auf, die durch die Beine der Gestalten durchschienen und ihre Körper auf kreisrunde Plattformen hielten.
Vor ihm standen keine Dämonen in weiten, spitzenbesetzten schwarzen Röcken, sondern Puppen. Ihre Augen waren ebenso falsch, wie die des Hirschkopfs in seinem Zimmer. Die kreideweiße Haut war nichts anderes, als Stoff.
Jakob ertastete den Lichtschalter neben sich an der Wand. Bevor er ihn betätigte, machte er einen Schritt in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Die aufflammende Lampe raubte den Mädchenpuppen nur wenig von der Aura echten Lebens. Dafür offenbarte es ihm weitere Absonderlichkeiten in einem Regal aus Metallstreben und an einer Korkpinwand befanden.
Die Abteile des Regals waren, wie es schien, mit den persönlichen Gegenständen eines Mädchens im Teenageralter gefüllt. Ein halb aufgebrauchten lila Lippenstift lukte aus einer Ansammlung von Cremedosen in allen Variationen hervor. Daneben türmten sich zwei Stapel Schallplatten. Jakob näherte sich ihnen und las die Titel. Goodbye My Love Goodbye von Demis Roussos, Mama Loo von den Les Humphries Singers, Abba mit Waterloo. Der erste Song sagte ihm überhaupt nichts, doch Abba und Mama Loo konnte er in die frühen 70ger Jahre einordnen. Ebenso wie den Rest der Titel, die er erkannte. Dazu passte auch die Lava-Lampe, die auf einem kleinen Tischchen neben einen grob zusammengeschusterten Bett stand, und deren roter Inhalt als Klumpen am Boden des Glases erstorben war.
Auch der Schmuck - fein säuberlich nebeneinander im obersten Regalfach aufgereiht - erinnerte an diese Zeit. Die Armreife, die Ketten mit Steinchen in schillerden Farben, die Haarspangen ... Ohne es zu wollen, kleidete Jakob die beiden Puppen mit diesen Associars und ließ sie auf den beiden Ohrensesseln an der Wand gegenüber dem Regal Platz nehmen. Etwas Rouge auf die blassen Wangen, zweimal mit dem Lippenstift über den Mund gefahren, bis er lila glänzte ...
Hatte Lorch eine Tochter und war das hier ist so etwas wie sein Erinnerung-an-die-guten-alten-Tage-Zimmer?
Unsinn, der Mann ist mitte Fünfzig, höchstens Sechzig. Wenn du Recht hast und das ganze Zeug stammt vom Beginn der 70ger und gehört zu einer Herranwachsenden, kann die Rechnung nicht aufgehen.
Er schob den Gedanken beiseite und wandte sich der überdimensionalen Pinwand zu, an die mit Reißzwecken Notizzettel und massenweiße verblasste Polaroidphotos angebracht waren.
Die Bilder zeigten hauptsächlich zwei Mädchen im pupertären Alter. Ihre Ähnlichkeit stach sofort ins Auge, und es wäre absurd anzunehnem, man hätte keine Geschwister vor sich. Die Ältere der Beiden war ein Stückchen größer als ihre Schwester und hatte zudem nicht deren weiche Gesichtszüge. Ihr Kinn war ausgeprägter, fast schon männlich. Schön waren sie beide.
Es gab einen Haufen Photos, die auf irgendwelchen Parties geschossen worden waren: Die Mädchen lachten, ihre mit Lidschatten hervor gehobenen Augen strahlten, und sie hielten Freunde oder sich selbst im Arm. Es gab auch welche, die an ein professioneles Shouting erinnerten: auf ihnen nahm die jüngere Schwester Posen ein, zeigte mal ein dezentes Lächeln, das zusammen mit einem hingebungsvollen Blick verführerisch wirkte, mal ein versteinertes Gesicht, dass sie sich von den Laufstegmodels in Magazinen abgeschaut haben musste.
Neben einem Bild, das die Geschwister nebeneinander an einer Badewiese liegend zeigte, entdeckte Jakob den ersten düsteren Schattens, der über jedem Gegenstand in diesem Zimmer zu schweben schien, wenn er sich auch nicht hatte festmachen lassen. Das Polaroid, das seine Augen anzog, hätte bestens zu den gestellten Modelphotos gepasst, wäre da nicht das fehlende Ohr gewesen. An der Stelle, an der eine zart geformte Muschel hätte sitzen müssen, prangte ein schwarzes Loch mit einem Kranz aus dunkelroten Fleischfetzen. Das Organ war nicht sauber mit einem scharfen Messer oder einem Skalpell abgetrennt worden - die Überreste verwiesen mehr auf eine stumpfe Schere. Der Ausdruck in dem von Schminke eingerahmten rechten Auge war völlig emotionslos. Wie der einer Puppe ...
Jakob warf einen verstohlenen Blick auf die aufgestellten Figuren. Als er seine Augen wieder auf die Pinwand richtete, brauchte er nicht lange zu suchen, bis er das zweite Puzzleteil und direkt darunter das dritte fand. Bild Zwei zeigte die Schwestern vereint. Ihre schlanken Körper waren durch Stricke in abstrakten Positionen fixiert. Das linke Bein der Älteren war so zusammen geknotet, dass es wie ein liegendes V abstand, während das andere weit nach hinten verrenkt war. Die Arme der Mädchen waren senkrecht in die Höhe gerissen worden und wurden von Seilen gehalten, die über einen Holzbalken liefen und dahinter im strohbedeckten Boden verankert waren. Schwer sich vorzustellen, dass die Schultergelenke dabei nicht ausgekugelt worden waren. Die Mädchenkörper waren über und über mit Striemen bedeckt. An manchen Stellen war die Haut aufgeplatzt und zeigte das dahinter liegende Fleisch.
Draußen brachte der aufgekommene Wind irgendeinen Gegenstand zu Fall, der mit lauten Scheppern zu Boden fiel. Der Schreck löste Jakob von dem Bann, in dem ihn die Bilder gezogen hatten. Er atmete tief ein und bemerkte erst jetzt, dass er sich mit der Hand den Schritt rieb. Von seinem Schwanz ging ein Kribbeln aus, das sich bis in den Unterleib fortsetzte. Es wäre Wahnsinn, sich zu erleichtern, während jeden Moment Lorch (oder - weitaus schlimmer - Merlin) durchs Haus streifen und auf den Lichtschlitz unter der Tür aufmerksam werden konnte. Aber wieviel wäre ihm entgangen, hätte er sich jedesmal von der ängstlichen Stimme in ihm überzeugen lassen?
Er öffnete den Knopf seiner Jeans und fuhr mit der Hand in seine Boxershorts. Ein brüchiges Stöhnen entfuhr ihm, als er begann mit den Fingern über die empfindliche Haut seines Schwanzes zu streicheln.
Während er das Polaroid eines vermummten Mannes im Lederoutfit starrte, der auf das jüngere Mädchen urinierte, wichste er. Der Pissstrahl traf auf ihr Gesicht, von wo er in einem Sturzbach über ihren Oberkörper fiel und die mit Gummiseilen abgebundenen Titten umspülte. Die Erniedrigung, dieses völlige Ausgeliefertsein mit allen Konsequenzen ... mehr als Sexualität, mehr als Trieb ... etwas viel Existenzielleres ...
Das nächste Photo, auf das er stieß, war eine Nahaufnahme des Unterleibs eines der Mädchen. Die Schamlippen wurden von einem unterarmbreiten Dildo mit Hartgummie-Stacheln geteilt. Zwei Rinnsale Blut sickerten an dem grünen Kunstschwanz hinab und vereinigten sich kurz vor dem Bildrand. Das dichte, sich krausende Schamhaar, die blasse Haut unter der sich schwach die bläulichen Adern abzeichneten oder das Muttermal an der Innenseite des rechten Schenkels ... es war so gottverdammt erregend!
Jakob war kurz davor, zu kommen. Um den Höhepunkt hinaus zu zögern, verlangsamte er die Bewegung seiner Hand.
Seine Augen lösten sich von dem Bild und wanderten die Pinwand weiter nach Westen. Ein Notizzettel mit einer Telefonnummer und der Aufforderung DRINGEND DEN TIERARZT WEGEN LOLA INFORMIEREN huschte vorbei, dann ein Bild, dass eine der Schwestern auf den Rücken einer braunen Araberstute (Lola?) zeigte. Und dann ... Ein rosaner Zettel mit Rechenkästchen hielt seinen Blick gefangen. Auf ihm waren die Übereste eines mit Kulli geschriebenen Satzes zu bewundern. Von den Buchstaben waren nur noch Andeutungen von Linien erhaltengeblieben und das Ganze war nicht zu entziffern, bis auf ein Wort ziemlich am Anfang. Es entfesselte eine Lawine in seinen Gedankengängen, die einen Mechanismus in Kraft setzte, der ihn mit der Gewalt eines Panzers überrollte und alles Blut aus den Schwellkörpern seines Schwanzes weichen ließ: Michaela stand dort in schwungvollen Buchstaben, gerade noch erkennbar.
Plötzlich war Jakob sich sicher, eines der Bilder schon einmal gesehen zu haben - auf der Internetplattform eines malaysischen Providers namens Drops of Mercilessnes and Violating. Erinnerst du dich nicht mehr an das Kribbeln, als du die beiden Schwestern gefesselt an dem Balkengerüst der Scheune gesehen hast und wusstest, dass alles echt, nichts gestellt ist? Dass beide tatsächlich den Tod gefunden hatten und keine einzige blutige Strieme das Werk eines Make-up-Fachmanns war? Hm?
Er fand das Polaroid. Eindeutig, er war vor Jahren im Internet darauf gestoßen. Es war die Mädchen. Damals war es, als Ausschnitt der Mutter aller Snuff-Filme, vorgestellt worden. Dem Klassiker, dem Casablanca dieser Art der Filmkunst. Ein Streifen aus den frühen 70gern, benannt nach einer der unfreiwilligen Hauptdarstellerinnen.
In der Diskussion, die dem Thread mit dem Ausschnitt folgte, hat jemand geschrieben, dass Michaela, einmal von dem Mann mit Namen angesprochen und aufgefordert wird, sich selbst einen Zeh abzuschneiden, um zu verhindern, dass das Gleiche mit dem Kitzler ihres Schwesterherzes passiert.
Ein Film, der in der Szene beinahe wie ein Heiligtum vergöttert wurde, obwohl Jakob nie auf jemanden gestoßen war, der behauptet hatte, den ganzen Streifen gesehen zu haben. Niemand wusste, wieviel Kopien hergestellt und wieviele über die Jahre erhalten geblieben waren. Einige hatten die Suche danach zu einer Art Lebensaufgabe ernannt. Die Suche nach einem Mythos, ähnlich der Jagd nach der verschollenen Bundeslade.
Gleichzeitig schimmerte ihm, wen die Puppen vor ihm darstellen sollten. Ihre Gesichter waren nicht ausgearbeitete Kugeln, dennoch war das glatte braune Haar, dass bis zur Schulter fiel und der zierliche Körperbau unverkennbar den Schwestern auf den Polaroids nachempfunden. Dazu passte auch die unterschiedliche Größe der Figuren und der ausgeprägtere Brustumfang der kleineren Puppe. Jacob fand sogar mehrere Bilder, auf denen die Mädchen die Kleider trugen, die er nun an den Körpern der Puppen sah. Kein Zweifel ...
Von draußen hörte er ein Knarren. Im nächsten Moment drang das Stöhnen einer geöffneten Tür zu ihm. Jakobs Penis zog sich wie ein Wurm zusammen und die bloß liegende Eichel bekam eine blasse Färbung.
Sein erster Impuls verlangte von ihm, sofort aus dem Zimmer zu rennen. Es gehörte zu den schwereren Kämpfen in seinem Leben, stattdessen dem Verstand zu folgen und sich nach einem Versteck umzusehen. Seine hastigen Augen fanden den leergeräumten Kleiderschrank in der Ecke des Raums und das Bett, unter dem genug Platz für ihn war. Er entschied sich für das Bett. Mit panisch schlagendem Herzen hechtete er durch den Raum zur Tür und schaltete das Licht aus, bevor er sich vor dem Bett auf die Knie fallen ließ. Wie ein Soldat, der durch einen Übungsparkur roppte, warf sich Jakob auf den Bauch und schob sich in den dunklen Schlitz zwischen Bettgestell und Fußboden. Sekunden später hörte er, wie die Türklinge runtergedrückt wurde.
Während er versuchte, möglichst geräuschlos zu atmen, betrachtete er aus seinem Versteck heraus, wie zwei schwere Stiefel mit Ledermanschetten an den Seiten über die Schwelle traten. Die große Sillhuette Merlins zeichnete sich auf dem Boden ab.
Als das Licht anging, betete Jakob, dass es die Finsternis, in die er sich hüllte, nicht durchdrang.
Schweigend trat der Eindringling weiter in das Zimmer. Er wird dich entdecken, schrie Jakobs Verstand auf. Irgendetwas wird ihm verändert vorkommen, irgendwie anders - und wenn nicht, wird einfach spüren, dass du hier bist!
Seine Augen konnten nur die Stiefel ausmachen, die in der Mitte des Zimmers zum Stehen gekommen waren. Jakob konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Merlins Blicke die Stücke in diesem absurden Kabinett musterten und nach Ungereimtheiten Ausschau hielten. Oder sie haften auf dem Bett, weil dich ein Geräusch oder eine kaum wahrnehmbare Wölbung in der Matraze verraten haben!
Die Schuhe bewegten sich zu den Metallständern, an denen die Mädchenpuppen hingen. Kurz darauf war ein Rascheln zu hören, als würde Merlin durch die Kleider streichen.
"Das waren wir einst, oh ja... zarte Haut, wie stolz wir waren, wenn wir uns im Spiegel betrachtet haben, mit der Schminke und dem Schmuck!" Merlin sprach erneut mit dieser hohen Stimme, die nie ein Zuhörer mit einem erwachsenen Mann assoziiert hätte. Den Worten hängte er ein sehnsuchtsvolles Seufzen an.
"Und ich träumte von einem Jungen, der mich sanft streichelt. Mein persönlicher Prinz, der aus dem Märchenbuch in die wirkliche Welt gekommen ist, um mich ... Wir wollten uns beide in den Armen unseres ganz persönlichen blauäugigen, charmanten Prinzen sehen!"
Jakob nahm eine Veränderung an dem schwarzen Stiefelpaar wahr. Es schien, als ... als wären die Konturen für einen Moment, der nicht länger als ein Lidschlag gedauert hatte, schwammig geworden. Unsauber, unfest ... unwirklich. Nur einen Lidschlag, aber ... Scheiße, hör auf!, schrie er sich innerlich an. In dieser Kopfstimme schwang solche Emmenz mit, dass sie - tatsächlich von den Stimmbändern erzeugt - jeden Straßenräuber, der ihm in einer verwinkelten Seitengasse aufgelauert wäre, in die Flucht geschlagen hätte.
Das ist nichts weiter, als die Angst! Ein Trugbild! Wie ein Schizophrener, der die Stimmen in seinem Kopf für real existierende Persönlichkeiten hält. Nur eine Bündelung von Stresszuständen, die die falschen Impulse für den falschen Botenstoff in deinem Hirn geliefert hat. Reiß dich zusammen, verdammt!
Doch das konnte er nicht. Er schaffte es nicht einmal, es ernsthaft in Betracht zu ziehen, da die Schuhe ihre Form im nächsten Moment wieder veränderten. Diesmal erschienen ihm die Stiefel doppelt und ihre ausgefransten, wabernden Ränder flackerten, als wären sie Spezialeffekte einer Lichtmaschine. Jakob musste biss sich auf die Unterlippe, um einen Entsetzensschrei zu unterdrücken.
Der vordere Teil verengte sich, wurde flacher und spitzer bis er dem Modell eines Damenschuhs glich. Dann breitete er sich wieder aus und es schien, als wolle er wieder Teil der schweren Stiefel werden, doch bevor es soweit war, verlief die Transformation wieder in die entgegengesetzte Richtung. Wie eine Welle, die über den Strand quillt, sich aufs Meer zurückzieht, um in einem neuen Impuls mehr steinige Landmasse zu überschwemmen, wurde die Form des doppelten Damenschuhpaares konkreter, eroberte sich mehr Klarheit, als ihr Gegenstück.
Jakob blinzelte während des Vorgangs kein einziges Mal. Mit der Zunge ertastete er den eisernen Geschmack des Blutes, das von seiner Unterlippe durch die Zahnzwischenräume sickerte.
Nichts weiter, als die Angst, ein Trugbild, wiederholte ein Teil seines Selbst. Es klang, als würde er sich für diese offenkundige Lüge schämen.
Als die Methamorphose ihre Vollendung in vier schwarzen Lack Sandaletten fand, fiel der erste Schweißtropfen von Jakobs Stirn und schlug einen Krater in den Staub aus mehreren Jahrzehnten.
"Du hast deine Tage früher als ich bekommen", sagte die Merlin-Schulmädchen-Stimme. "Obwohl du ein Jahr jünger bist. Trotzdem haben wir uns beide zusammen gefreut ..."
Und eine - nur in Nuancen unterschiedliche - Stimme antwortete: "Weil wir nie neidisch aufeinander gewesen sind. Es war aufregend, wir wurden erwachsen, und zwei Monate später hast du auch deine Tage bekommen." Das Schreckliche war, dass Jakob sicher war, die Stimmen von unterschiedlichen Positionen zu hören. Die erste gehörte zu dem Schuhpaar auf der rechten Seite seines Blickfeldes. Die zweite zum linken.
"Wir haben uns immer gemeinsam über alles gefreut", fuhr die Stimme zur seiner Rechten (die, die ein paar Nuancen tiefer klang) fort. "Und wir hatten den selben schönen Traum, unser Prinz!"
"Ja, unser Prinz!" Jakobs inneres Auge entwarf das Bild eines pupertierenden Mädchens mit den ersten Ansätzen von Brüsten, das die Augen schmachtend verdrehte.
"Wir bekamen einen Prinz." Die tiefere Stimme triefte vor Verbitterung. "Wir beide. Einen mit haariger Brust und schwarzen Zähnen. Mit Fingern wie Bockwürste und Pickeln auf der Glatze."
"Schlachten wir ihn!", warf die höhere Stimme ein. Raserei schwang in ihr.
"Ja, mit dem netten Messerchen lass uns ihm die Bauchdecke aufsäbeln!" Und dann sangen sie im Chor: "Ihn werden nicht mal wieder erkennen seine Lieben - Unsere Nummer Sieben!"
In dem Gekicher, das ihren Worten folgte, wirkten sie kindlicher, als ihr Äußeres auf den Polaroids (denn genau das sind die beiden Mädchen, von denen du nur einen Ausschnitt der Schuhe siehst! Es sind die Schwestern auf den Heile-Welt-Photos an der Pinwand und auf den Alles-andere-als Heile-Welt-Bildern).
Jeden Moment würde Jakob schreien. Wie ein Wasserstrom, der den Damm durchbricht, würde sich der Schrei den Weg bahnen und ihn ausliefern. Doch er schrie nicht. Obwohl seine Phantasie das Bild des lächelnden Geschwisterpaars über einem ausgeweiteten Männerkörper erschuf (deinem ausgeweiteten Körper!), gaben seine Stimmbänder nichts weiter, als ein piepsiges Pfeifen von sich.
Das Lachen verzerrte sich, bis es wie die Stimme eines Dämons klang, dessen Bauch sich immer weiter aufblähte. Vom Unmenschlichen wechselte es in tiefere Regionen, bis es sich nach seinem Gastgeber Merlin anhörte.
Aus den Mädchenschuhen waren wieder Stiefel geworden, die vor ihm ihren Abdruck in die staubbedeckten Dielen drückten. Als hätte der Himmel Jakobs Gebete erhört, entfernten sie sich. Ein Keuchen war zu hören, dann das Rascheln von flauschigen Stoff und schließlich das Knarren der Tür.
Jakob wartete mit hämmerndem Herzen. Seine Gelenke taten weh, doch die Angst hinderte ihn daran, die Position zu wechseln. Er wartete, bis es ihm vorkam, als wären Stunden vergangen. Beinahe schien ihm die Verwandlung zu den zwei Mädchenschuhen und die Mädchenstimmen, die den schrecklichen Reim aufsagten, Teil eines Traums zu sein. Eine Sequenz kurz vor dem Aufwachen, die von den wirklichen Gegebenheiten beeinflusst wird, aber immer noch tief verwoben mit der Phantasie ist.
Die Angst hielt ihn unterm Bett wie Fußketten. Bei jedem Atemzug schien sein Herz einen leichten Anfall zu erleiden. Er durfte nicht länger hier bleiben ... aber die Vorstellung unter dem Bett hervorzukriechen und in der Dunkelheit den beiden Puppen entgegenzutreten malträtierte seinen Magen mit Fausthieben.
Den Ausschlag, sich hervorzuwagen, gab schließlich seine drückende Blase. Es erschien ihm lächerlich, sich nicht zu trauen, die Pisse in seine Hose laufen zu lassen, bei dem, was er gerade ausgestanden hatte. Aber schließlich kroch er unter dem Bettgestell hervor. Im Zimmer konnte er nur Schemen erkennen.
Seine Knie schmerzten, als er sich mühsam aufrichtete. Vor ihm erhoben sich die Puppen. Etwas in Jakob ging fest davon aus, ein gleißendes rotes Brennen in ihren künstlichen Augen zu sehen, doch sie waren schwarz.
Mit wackligen Schritten näherte er sich der Tür. Der Drang zu Pinkeln lenkte seine Gedanken von der quälenden Angst ab und verhinderte, dass er stoppte, um atamlos nach Geräuschen zu horchen.
Eine Hand in seinen Schritt gepresst, ertastete er mit der anderen die Klinke der Tür. Er würde sie aufreißen und dann einfach drauf los rennen! Über den Flur zur Haustür, die Stufen runter und dann den schlammigen Pfad zur Landstraße hoch. Er würde rennen, bis er die nächste Ortschaft erreicht hatte. Auf keinen Fall würde er vorher anhalten, auch wenn ihn das einen Herzanfall kostete. Aber ... Was wenn die verdammte Haustür abgeschlossen war? Nein, Lorch ist ein naives Inzestprodukt, der sich bestimmt nicht mit Gedanken an nächtliche Überfälle herumschlägt! Und wenn schon ... Hast du eine andere Wahl?
Die hatte er nicht, also drückte Jakob die Klinge und öffnete die Tür. Bereit seine unsicheren Beine zu einem Sprint zu zwingen, starrte er ins Finstere des Flurs und ... Da waren Augen!
Ein Schatten, der einen halben Kopf größer war als er und dessen Gesicht feines Haar umgab, das in der Düsternis wie Spinnweben wirkte. Jakob blieb gerade noch Zeit ein aufgeschrecktes Stöhnen auszustoßen, bevor eine Hand nach vorne schnellte und ihn einen schweren Gegenstand gegen den Schädel knallte.
Der Schmerz in seinem Kopf dämpfte das Stimmengewirr, dass sich wie eine unanalysierbare Soße über ihn ergoss, zu einem Flüstern aus weiter Ferne. Er wollte eine Hand heben, um seinen Kopf zu befühlen, doch sie ließ sich nicht bewegen. Mühsam öffnete er die Lider und kniff sie im nächsten Moment wieder fest zusammen, als grelles Licht in die Pupillen flutete wie ein Guss glühender Lava. Er versuchte ein weiteres Mal seine Arme zu bewegen, dann verließ ihn die Kraft und die Müdigkeit, die in ihm saß, entkrampfte seine Muskeln. Er lieferte sich der Schwärze aus und ...
... Und träumt von zwei tanzenden Mädchen, die er schon einmal irgendwo gesehen hat. Jedenfalls lässt ihn dieses Gefühl nicht los, während er am Rande einer weiten Wiese steht und die Schwestern (ihre Gesichter ähneln sich zu stark, um von etwas anderem ausgehen zu können) beobachtet, die sich an den Unterarmen halten und sich drehen. Ihre durch Lidschatten hervorgehobenen Augen strahlen vor Lebensfreude. Ihre lächelnden Münder spiegeln ein melancholisch stimmendes Urvertrauen wieder, das im Gegensatz zu ihren schwarzen Kleidern und dem wolkenverhangenen grauen Himmel über ihnen steht. Sie singen und lachen zwischendurch. Das Lachen klingt ... Etwas darin wischt alle Melancholie in ihm fort und fördert düstere Vorahnungen zu Tage. Die Mädchen singen einen Reim: "Ihn werden nicht mal wieder erkennen seine Lieben, unsere Nummer sieben!"
Plötzlich bleiben sie stehen und drehen sich zu Jakob um. Ihre Gesichter haben sich verändert, sind blass geworden. Fleischwunden und frisch verheilte Narben zeichnen sich auf ihren Wangen ab. Das Strahlen in ihren Augen ist zu einem Brennen mutiert, das nur der Hölle entsprungen sein kann. Aus ihrem naiven Lächeln ist ein abscheuliches Grinsen geworden, das allen Sadismus der Welt in sich vereint.
"Es wird jetzt ein ..."
"... bisschen weh tun!" Jakob öffnete die Augen und sah das Haifischgrinsen vor sich, das ihm eben bereits in der Traumwelt begegnet war, deren Bilder wie im Zeitraffer verblassende Polaroids in seinem Kopf flimmerten.
Er wollte aufstehen und die Arme nach oben reißen - ein Gerüst aus verknoteten Seilen hinderte ihn daran. Beim Anblick des geschundenen Mädchengesichts wollte er schreien, doch der Knebel, der seinen Mund schmerzhaft ausfüllte, ließ nur ein krampfhaftes Stöhnen zu.
Es war die ältere Schwester. Er sah sie durch einen roten Schleier auf seiner Netzhaut, aber einen Zweifel gab es nicht. Sie näherte sich ihm auf taumelnde Weise und öffnete und schloss dabei immer wieder ihre Hand. In der anderen hielt sie ein Messer, dessen Klinge mit Einkerbungen versehen war.
Wie wild riss Jakob an seinen Fesseln und warf den Kopf vor und zurück. Seine Arme hatten keine zwei Zentimeter Bewegungsfreiraum, seinen an Stuhlbeinen fixierten Beinen ging es ähnlich.
"Bitte nicht!", schrie er in den Knebel. "Nein, bitte... Ich... Oh Gott, bitte!" Ein schrecklich rationaler Teil in ihm war sich bewusst, dass seine Worte, selbst wenn sie durch den Knebel verständlich genug waren, keine Wirkung erzielen würden.
Aber die blasse Haut des Mädchengesichts irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein, die seinem Gesicht nun gefährlich nahe war, ließ nichts anderes zu.
"Nur ein bisschen", flüsterten ihm die bläulich verfärbten Lippen ins Ohr und im nächsten Moment fühlte er die Messerspitze ins Fleisch seiner Brust dringen. Bohrend suchte sich der Stahl seinen Weg ins Innere. Der Schmerz sprengte alles bisher gekannte. Jakob wandt sich in seinen Fesseln, das Gesicht zu einer comichaften Grimasse verzogen, und wünschte sich zum ersten Mal in seinem Leben den Tod herbei. Seine Schreie rissen unbarmherzig an seinen Stimmbänder. Als er glaubte, er müsse jeden Moment ohnmächtig werden und schon schwarze Flecken in seinem Blickfeld auftauchten, wurde die Klinge mit einem Ruck aus seinem Fleisch gezogen.
"Die Brustwarze", sagte eine hörbar amüssierte Stimme hinter ihm. "Mach sie schön steif, Schwesterchen!"
Während der Schmerz in seiner rechten Brust am abglimmen war, und Jakob den Zentimeter dicken Einstich, beugte sich das Mädchen mit dem Leichengesicht runter zu seinem Oberkörper. Aus ihren Kulleraugen schaute sie ihn an und ließ ihre Zungenspitze über seinen Warzenhof gleiten. Das zuckende Stück Fleisch war kalt und rauh. Rissige Lippen schlossen sich um seinen Nippel und ein feuchter Mund umspülte ihn mit schleimigen Speichel.
Zwischen den beiden Scheinwerfern, die die Szenerie in grelles Licht tauchten, machte Jakob einen roten Punkt aus. Ich kriege meinen Videodreh, dachte er und dieser Gedanke ließ ihn erneut gegen seine Fesseln ankämpfen. Wie der gottverdammte Hurensohn versprochen hat. Ich bekomme ihn ... und ich werde einen Menschen sterben sehen!
Seine Brustwarze wurde in die Freiheit entlassen. Das grinsende Mädchen schnippte mit dem Zeigefinger nach ihr und rief seiner Schwester dann fröhlich zu: "Ist steif. Steht schön ab. Soll ich jetzt?"
Sie hob das Messer auf dem sich das Blut aus seiner Brust matt vom Metall abhob und wartete auf ein Signal ihrer jüngeren Schwester. Als ihr Grinsen breiter wurde, ging sie vor Jakob in die Hocke. Wieder berührte der Stahl sein Fleisch, und wieder ergoss Jakob hemmungslose Schreie in den Knebel.
Sie machte es nicht schnell; sie drang mit der Spitze in den Rand des Warzenhofs und schälte sich dann durchs Fleisch, wie man ein Obst von seiner Hülle befreien würde. Bevor der Kreis vollständig war, packte sie mit Zeigefinger und Daumen den Nippel und verhinderte so, dass er - nachdem sie ihn abgetrennt hatte - in die Strohschicht auf dem Boden fiel.
"Niedlich der Kleine, mh?", fragte das Mädchen und ließ den Nippel vor Jakobs Augen baumeln. Jetzt werde ich ohnmächtig, dachte er. Jeden verschissenen Moment muss es passieren und dann... nur noch Schwärze... Kein Schmerz mehr, kein Verkrampfen der Muskeln, keine gottverdammte Qual... Nur schwarz...
Doch die Welt wurde nicht schwarz. Sie behielt ihren roten Schimmer und verlieh der grinsenden Fratze vor ihm das Aussehen eines Dämons aus der Höllensbrunst.
Ein zweiter Dämon trat in sein Blickfeld. Die jüngere der Schwestern, Michaela, kam hinter seinem Rücken hervor und gesellte sich zu ihrer Gespielin.
"Jetzt erfährst du, wie das brennt", zischte sie und streckte den Zeigefinger nach der hellrotglänzenden Stelle aus, auf der zuvor Jakobs Brustwarze gesessen hatte. Sie bohrte mit ihrem Nagel in der Wunde und genoss es sichtlich, wie Jakob sich die Kehle aus dem Leib schrie. Diese unsägliche Qual! Er würde in keine Ohnmacht übertrifften - der Wahnsinn würde seine Klauen nach ihm strecken und ihn willkommen heißen!
"Brennt das, mh? Brennt das?" Ja, du Schlampe! Beschissenes Drecksstück, Hurenfotze, ja es breeeennt!
"So hat er uns damals auch verschönert." Endlich fand die Behandlung mit dem Fingernagel ein Ende. Michaela öffnete die klobigen Knöpfe an ihrem Oberteil und holte ihre linke Brust aus der BH-Schale. Die Haut ihres Ausschnitts war vernarbt, dunkelbraun und faltig. Die Narben standen mehrere Millimeter hervor und bildeten ein verschlungenes Geflecht, wie Wurzeln eines Baums. Verbrennungen, schoss es Jakob in den Kopf und er erinnerte sich, im Chatrooms über die Behandlung mit Benzin und Streichhölzern in dem legendären Streifen aus den 70gern gelesen zu haben.
Michaela drücke das Ende ihrer Brust zusammen. Anstelle eines Nippels wartete dort nur weiteres hässliches Narbengewebe.
"Danach will es sowieso kein Junge mehr mit euch treiben, hat er gesagt." Sie schaute zu ihrer größeren Schwester. Diese nickte.
"Willst du es mit uns treiben?", wandte sie sich wieder an Jacob.
"Bitte!", stöhnte er in den Knebel. "Bitte, bitte ..."
"Oh ja, du willst!" Er schüttelte mit dem Kopf, bis seine Halssehnen schmerzten. Das Mädchen trat einen Schritt zurück und ging in die Knie. Ihre Hände (langfringrige Krallen eines Raubvogels) griffen nach dem Rocksaum, und als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie ihn so weit nach oben geschoben, dass Jakob auf den violetten Schlitz zwischen ihren Schenkeln blickte. Ihre Schamlippen hingen obszön nach unten, als wären sie mit imaginären Gewichten beschwert. Aus dem Kitzler ragte der Kopf eines Nagels. Die ältere Schwester trat neben Michaela und enthüllte nun auch ihre intimste Stelle, die im Laufe der Jahrzehnte Teil daran gehabt hatte, die Kreditkarten etlicher Männer um große Summen zu erleichtern.
"Ja, zeig' uns, wie sehr du dich nach unseren Körpern sehnst! Sei heute Nacht unser Prinz!"
"Nein ... Bitte!" Das Flehen blieb ohne Wirkung. Michaela oder besser der tote, zerschundene Körper eines Mädchens, das vor einem Vierteljahrhundert gestorben war, kam zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß.
Die einzige Gnade in dieser Symphonie der Qual war, dass ... Doch er regte sich! Unter den kreisenden Bewegungen des kalten Unterleibs richtete sich sein Schwanz auf. Wie um alles in der Welt war das möglich? Von seiner Brust ausgehend durchzuckten ihn Schmerzen, die er bis dato nicht für einen Teil dieser Welt gehalten hatte. Sein Kopf sendete mit jedem hektischen Atemzug ein monotones Pochen aus, und seine Gelenke fühlten sich unter der Starre, in die sie gezwungen wurden, wie ungeölte Maschienenteile an. Aber trotz allem ...
Das Biest auf seinem Schoß packte seinen Schwanz und schob ihn sich in ihre Grotte, deren Wände mit Eiswasser benetzt waren. Das Fleisch fühlte sich an, als wäre es als Inbegriff für Tod und Verwelkung geschaffen worden.
Michaela legte die Arme um seinen Hals und begann ihn zu reiten. Noch vor wenigen Stunden hatte Jakob phantasiert, wie er bei dieser Stellung in eines der Mädchen abspritzen würde. Nur waren die Rollen jetzt vertauscht worden. Ein bitterer Geschmack füllte seinen Mundraum.
"Schwesterchen, mh ... wie schön er sich in mir anfühlt!" Sie stöhnte. Speichel sammelte sich auf ihrer bläulichen Unterlippe. Die Fäden, die er zog, als er in Jakobs Gesicht tröpfelte, hafteten zäh wie Kleber aneinander. Sie beschleunigte den Ritt und die Laute, die sie von sich gab, wurden ekstatischer. Ein Strom aus Tränen lief Jakob über die Wangen, während sich die Rotze aus seinen Nasenlöchern mit dem ständig auf ihn fallenden Schleim des Biests vermischte. Er war sich nun sicher, die Grenze zum Wahnsinn hinter sich gelassen zu haben. Er spürte, dass er bald kommen würde. Es löste ein starkes Ekelgefühl aus, das Hoffnung mit sich brachte. Die Hoffnung, zu kotzen und an dem eigenen Erbrochenen zu ersticken.
Aus der Grotte strömten regelrechte Fluten. Der Körper auf ihm begann wilder zu zucken. Auch Michaela stand kurz vor ihrem Höhepunkt. Doch anscheinend wollte sie ihn noch nicht erreichen. Stattdessen stand sie auf und machte Platz für ihre ältere Schwester. Schwankend wie die Gestalt eines Zombiestreifens kam sie auf ihn zu gewackelt.
"Zoom schön heran", rief Michaela in Richtung der Scheinwerfer. "Wir werden uns die nächsten Monate schön unsere Mu-Mus darauf reiben können!"
Ihre Schwester fischte aus dem Stroh vor seinen Füßen eine Sichel hervor, bevor sie sich ungelenk auf seinem geröteten Schwanz niederließ. Die spitz gebogene Klinge war ebenso rostig wie die des Messers, das ihm seine Brustwarze gekostet hatte.
"Jetzt bist du mein Prinz", sagte sie, dann holte sie mit der Sichel aus und trennte mit einem Hieb Jakobs linkes Ohr ab. Er sah es aus dem Rand seines Blickfelds fliegen. Ein Strahl folgte und spritzte waagerecht aus der unvorhergesehenen Öffnung.
Neben dem neuerlichen, nicht zu ertragenden Schmerzimpuls, fühlte er ein eigenartiges Gefühl von Glück, als hätte die Sichel den Verschluss einer Kammer voll Endorphinen abgeschlagen.
Gleich kommt die Ohnmacht, gleich... Oh, mein Gott, scheiße, ich brauch sie so!
Der Schemen einer kleingewachsenen, stämmigen Person, die einen Hut auf dem Kopf trug, trat in die Sonnen der Scheinwerfer. Es war Lorch und auf Höhe der Schulter des Bauern glotzte der rote Punkt eines Kameraobjektivs. Auf seinem Gesicht strahlte dasselbe einfältige Grinsen, mit dem er Jakob schon bei ihrer ersten Begegnung begrüßt hatte.
Mit verdrehten Augen, so dass ihre Pupillen halb unter dem oberen Lid verschwanden, hob das verunstaltete Mädchen auf ihm die Sichel und führte einen Querschnitt über sein Gesicht. Das Metall durchtrennte die Haut vom Wangenknochen der rechten Seite, bis zum unteren Kiefer der linken.
"Unser Prinz wird jetzt noch hübscher", murmelte es. "Ja, und ..." Sie ritzte ihm mit der Klinge der Länge nach das Nasenbein auf. "... noch etwas hübscher!"
Lorch schob sich an ihrer Schwester vorbei, die in die Luft sprang und die Behandlung mit Applaus bedachte.
"Ich bekomm' den Zoom nich hin, wird unscharf das Ganze. Muss näher dran", murmelte er und nahm hinter der reitenden Michaela Stellung. Er streckte den Arm soweit nach vorne, dass das Objektiv wenige Zentimeter vor Jakobs Gesicht ruhte. Wie oft hatte er Nahaufnahmen von verschreckten jungen Frauen gesehen, deren Gesichter von einem Flaum Angstschweiß bedeckt worden waren? Würde er genauso aussehen? Geplatzte Äderchen in den Augäpfeln vom Kreischen, eine Blässe auf den Wangen, die ihn nicht mehr gänzlich lebendig erschienen ließ?
Das Ungetüm auf seinem Schoß schien die Antwort auf ihre eigene Frage gefunden zu haben, die lautete: Welchen Schnitt führe ich als Nächstes durch?, und hieb die Sichel in Jakobs Schädel. Er vernahm das Knacken seiner Knochendecke. Seine Kopfschmerzen multiplizierten sich um das Millionenfachste, während das grinsende Mädchen mit aller Kraft versuchte, das festhängenden Metall seinem Knochengefängnis zu entreißen. Sie zog und zerrte, drehte und sägte. Es dauerte Ewigkeiten, bis die Klinge sich mit einem dumpfen Block schließlich aus Jakobs Schädel löste.
"Röh! Röh! Röh!", brüllte das Mädchen und bewegte ihren kalten Unterleib heftiger auf und ab.
"Röh! Röh!" Sie blickte hinüber zu dem Bauern, der den Blick von Jakobs neuer blutenden Wunde abwendete und in das Grunzen einfiel.
In der nächsten Stunde lernte Jakob eine der Tierboxen von denen Merlin gesprochen hatte kennen. Sie zurrten ihn an den Holzdielen fest, bis seine Glieder in Form eines X abstanden und malträtierten seinen Darm, indem sie stachelige Metallgerätschaften in seinen Arsch einführten, bis sich unter ihm eine Blutpfitze gebildet hatte. Jacob hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst seinem Schicksal ergeben. Gebrochen hatte ihn nicht die Qual - Gebrochen hatte ihn der höchste Moment der Lust, in den ihn das Muskelspiel ihres schleimigen, gefrorenen Unterleibs getrieben hatte. Sein Saft war in die tote Grotte geflossen und hatte sich dort mit dem übelriechendem Sekret des Mädchens vermischt. Dieser Moment hatte den letzten Willen, der sich in einer entlegenen Hirnwindung verbarrikadiert und getrotzt hatte, den Todesstoß verpasst. Was seinem Körper diesen Stoß verpassen würde, hörte Jakob bevor er es sah. Ein Platschen im Wasser.
Dann tauchte im Boden ein schwarzes Viereck auf, auf das ihn die beiden Schwestern zuführten. Die Oberfläche wogte leicht auf und ab. Jakob erinnerte sich an das Gespräch mit Merlin vom Nachmittag. In unseren letzten Produktionen hat sich der Brunnen als hervorragender Drehort herrausgestellt.
Seine Beine waren so schwach, dass ihn die Schwestern mehr trugen, als dass er selbstständig ging. Trotzdem kam ihm der Vergleich mit einem zum Tode Verurteilten passend vor, der den Gang zur Gaskammer beschritt. Das Geschwafel über die wichtigsten Stationen des Lebens, die noch einmal im Schnelldurchlauf an einem vorbeiliefen, war falsch. Auch bereute er nicht seine Verfehlungen und Sünden, während er der trüben Wasseroberfläche näher kam. In diesen nur vom Schmerz beleuchteten Momenten spielte es keine Rolle, hätte er bis dato Hunderttausenden das Elend gebracht, oder ihr Leben in Sonnenschein getaucht.
Am Rand des Brunnens angekommen, blickte er in die Tiefe und sah in dem dunklen Wasser ertrunkene Kriechtiere wie Spinnen und Käfer, umgeben von Stroh und Laub, umhertreiben. Das Wasser wechseln wir ziemlich selten. Es hat seinen eigenen Flair, wenn es längere Zeit ungereinigt bleibt. Und den werden Sie zu schätzen wissen, glauben Sie mir das!
Lorch bezog mit dem Kamerastativ auf der gegenüberliegenden Seite des Vierecks Stellung. Während er rumschraubte und justierte, war Jakob klar, dass er den Stoß bekommen würde, wenn der Bauer zufrieden mit seinem Aufbau war. Das änderte nichts an der eigenartigen Ruhe, die sich in ihm, als Mitbringsel des Ergusses in den Mädchenkörper, breitgemacht hatte. Genauso wenig, wie es die Glasplatte tat, die rechts neben dem Loch lag und mit Sicherheit genau in darauf passen würde.
Der Bauer gab mit einem hochgereckten Daumen das Zeichen. An seinen zusammen gebundenen Unterarmen wurde Jakob nach vorne geschuppst und stürzte ins Wasser. Wie eine eiskalte Klaue umspülte es seinen sinkenden Körper. Reflexartig strampelte er mit seinen Beinen, während das Licht über ihm sich immer weiter entfernte. Krampfhaft hielt er seinen Mund geschlossen. Insektenkörper klatschten gegen sein Gesicht und wurden vom Wasser wieder weggespült. Endlich schaffte er es, seiner Beinmuskulatur einen Rythmus aufzuzwängen, der das Sinken stoppte und ihn durch kräftige Stöße näher an die Oberfläche trieb. Dort angekommen schnappte er hektisch nach Luft, bevor ihn die Kräfte verließen und er wieder in die Tiefe glitt. Er ließ sich sinken, bis seine Beinen die notwendige Erholung bekommen hatten, und kämpfte sich wieder nach oben. Als er zum dritten Mal den Rand erreichte, packten ihn schlankgliedrige Finger und zogen seinen Oberkörper auf den Scheunenboden. Keuchend nahm Jakob wahr, wie ihm die Handfesseln durchtrennt wurden. Es ging wieder ins Wasser; eine Hand, die zuviel Kraft für ein Mädchen im Teenageralter besaß, drückte seinen Kopf unter die aufgescheuchte Oberfläche. Durch weit aufgerissene Augen sah er, wie die Glasplatte über den Rand geschoben wurde. Die Hand versetzte ihm einen Stoß und während ihn die Wucht nach unten riss, wurde die Platte vollständig über den Brunnen gezogen. Als Jakob sich diesmal nach oben kämpfte, gelangte seine Nase nicht mehr an die Luft, sondern stieß lediglich gegen das Glas, das von Handpaaren an den Seiten in seiner Position gehalten wurde. Er konnte dagegen schlagen wie er wollte, die Platte hob sich keinen Zentimeter.
Zappelnd ruderte er mit den Armen, um oben zu bleiben. Er presste die Stirn gegen das Glas und versuchte mit aller ihm verbliebener Kraft sie einen Spalt nach oben zu pressen, um Atem holen zu können. Von oben beobachtete das rote Lämpchen der Kamera sein hoffnungsloses Bemühen.
... Um dann den Ausdruck auf ihren vor Angst wahnsinnigen Gesichtern einzufangen, den die Menschen nur bekommen, wenn sie am Ertrinken sind ... Es ist eigenartig, aber ihr Ausdruck ist dann ein anderer ... Irgendwie intensiver ... Er hörte Merlins Stimme in seinem Kopf und der Gedanke daran, wie freudig erregt Jakob gewesen war, als er den Worten gelauscht hatte, ließ Gallensaft seinen Schlund hinaufklettern. Seine Lungen bettelten nach Luft, und er schaffte es nicht länger, seine Nasenflügel daran zu hindern, gierig zu saugen. Sie nahmem keinen Sauerstoff auf, sondern fluteten seinen Mund mit der trüben Brühe, in der er gefangen war. Über sich sah er die Schwestern beim Anblick seines Todeskampfes grinsen.
"Verflucht sei's!" Lorch spuckte neben seine schlammbedeckten Stiefel. Die Erde hatte sich mit dem Regen der vergangenen Nacht vollgesogen und war zu einer klebrigen Masse geworden, die sich kaum vom Blatt des Spatens abklopfen ließ. Im ersten schwachen Licht des Morgengrauens hatte er mit seiner Arbeit begonnen und hatte alleine drei Stunden dafür gebraucht, das Loch auszuheben. Beim Hinablassen der Leiche hatte er sich den Rücken verrenkt. Und jetzt gestaltete sich auch das Zuschaufeln als mühsame Drecksarbeit. Am Abend würde ihm jeder Knochen wehtun, von seinen Armen ganz zu schweigen. Soviel Aufwand für dies'n Drecksack!
Er rammte den Spaten ein weiteres Mal in den abnehmenden Erdhaufen neben ihm. Hät'n wer ihn klein schnitt'n und an de Schweinchen verfüttert, dachte er und grunzte bei der Vorstellung, wie sehr sich die trächtige Helga über das Festmahl gefreut hätte.
Doch das wollte Merlin natürlich nicht. Es sollte ablaufen, wie es immer abgelaufen war. Lorch schielte zu den sechs Erhebungen im Schafgehege. Viel mehr würden hier nicht reinpassen. Entweder müssten sie den Zaun abreißen und neu ziehen, oder man fand einen anderen Platz.
"Hoff'ntlich mit wen'ger Arbeit", murmelte der Bauer und riss den Spaten aus dem Haufen. Es befand sich nicht viel Erde darauf. Dafür war die Ladung aber schwer, als würde sich eine Stahlplatte darin verbergen. Mit Schwung schleuderte Lorch sie auf das halb gefüllte Erdloch. Ein Großteil blieb am Spaten kleben. Lorch schmetterte ihn mehrmals hart auf den Boden und stöhnte als sich nur Bröckchen lößten. Die Schafherde, die sich dicht gerängt in den hinteren Teil ihres Geheges zurückgezogen hatte, fing an zu blöken. Aus dem grauen Wolkenschleier über seinem Kopf lößten sich die ersten Tropfen eines weiteren Regengusses und klatschten auf seinen Hut. Es würde ein langer Tag werden.