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Viel Harmonie

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28.01.2018
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Viel Harmonie

Den Krach in der Nacht hat die komplette Nachbarschaft gehört: erst den Knall, dann das Dröhnen der geborstenen Saiten, und jetzt ruft die Nachbarschaft komplett im Revier an. Eben habe ich aufgelegt, klingelt das Telefon schon wieder. Die Einen wollen den Schlag um acht, die Anderen um neun, einer gar um Mitternacht gehört haben. Als bräuchte es Zeugenaussagen! Gestern Abend um 21:25 Uhr ist ein Konzertflügel mit gewaltigem Radau aus dem ersten Stock des Konzerthauses auf den Parkplatz dahinter gestürzt. Ganz einfach. Was hingegen keiner der Anrufer mitbekommen hat: Unter den Trümmern des Instruments lag ein Toter.
„Natürlich. Krach in der Nacht. Danke für den Hinweis. Sehr hilfreich, Frau -“, ich starre auf das Blatt mit den kreuz und quer verlaufenden Notizen,“Hildebrand. Verzeihung. Willebrand. Natürlich. Guten Tag.“
„Es ist noch nie jemand von einem Klavier erschlagen worden. Nicht ein dokumentierter Fall!“
Grete Lotta, die Gerichtsmedizinerin. Steht in der Tür und verkündet ihre Weisheit. Für uns ist sie immer die Lotta, Müller ist ja auch der Müller. Ich bin allerdings nur der Horst, obwohl ich Horstkotte heiße. Das ist wohl zu lang oder Horst ist lustiger oder sie hoffen, dass es mich ärgert. Die Lotta legt ein paar Zettel auf den Tisch, Ausgedrucktes aus dem Internet. Spielt gern Ermittlerin. Ich gucke kurz darauf: Statistiken zum Thema Todesursache Musikinstrument. Na ja, das fällt tatsächlich in ihren Bereich.
Und jetzt schaut sie mich an, von oben, weil ich sitze und sie steht, und groß ist sie zu allem Überfluss auch. Guckt belustigt, überlegen, engagiert, was weiß ich, wie eine Gerichtsmedizinerin aus dem Fernsehen eben. Ist ja beinahe unmöglich, als Kommissar oder als Gerichtsmediziner nicht die Kommissare und Gerichtsmediziner nachzumachen, die jeden Abend durch unsere Wohnzimmer streifen. Ich tue das auch. Zum Beispiel, wenn ich mir mit einer Frage Zeit lasse, so eine Art Kunstpause. Das habe ich aus dem Fernsehen. Eigentlich sollten die Fernsehkommissare ja uns nachmachen, aber inzwischen ist es wohl umgekehrt.
Die Lotta jedenfalls weiß, dass noch niemand je von einem Konzertflügel erschlagen worden ist. Bis gestern Abend, 21:25 Uhr. Denn genau in der Mitte der Konzertpause (von 21:15 bis 21:35) hat Herr Dr. Sieveke sich im Rollstuhl auf den Parkplatz schieben lassen und den jungen Zivi (oder wer das heutzutage so macht) mit der Garderobenmarke ins Konzerthaus zurückgeschickt, um den Seidenschal des Doktors zu holen. “Denn es war frisch geworden“, steht im Protokoll. Der junge Mann war noch nicht um die Ecke, da stürzte aus den oberen Fenstern des Probenraumes der Probenflügel der Philharmonie und erschlug mit betäubendem Krachen den Doktor, wobei der Rollstuhl halb zerdrückt und verbogen wurde. Die Saiten des Instruments dröhnten und vom Doktor waren lediglich ein abgeknickter Fuß und eine Hand zu sehen, die sich ins Erdreich zu wühlen schien.
Sogar ich kann die Fotos ohne Schwierigkeiten anschauen. Ich kann nämlich kein Blut sehen. Bin nicht dafür gemacht, als erster durch die Absperrung zu latschen, mir von einer Praktikantin einen Kaffee geben zu lassen und in Blut watend Anweisungen an das Fußvolk zu geben. Meine Beobachtungen mache ich unter Umgehung der unappetitlichen Einzelheiten, indem ich, was ich nicht ansehen kann, ausblende und mich umso gründlicher mit den nicht blutverschmierten Details des Tatorts beschäftige. Vorzugsweise im Büro. Bluttriefende Opfer, in denen noch das Messer steckt, sind für die Jungs, die neben der Leiche ihren Kaffee trinken. Dieser Fall ist gut anzuschauen, aber wenig subtil. Die Lotta beugt sich jetzt doch zu mir herab, schiebt die Fotos beiseite und schaut in meine Unterlagen.
Der Flügel, so der Orchesterwart, soll ihm und dem Paukisten nebst einigen anderen Helfern aus den Händen geglitten sein, und zwar als sie das Instrument für den Transport vorbereiteten. Wegen der nachmittäglichen Wärme hatten sie die Fensterfront geöffnet, dann den Flügel ans Fenster geschoben und die Rollen blockiert, um die Beine abzuschrauben. Nun habe, so die Zeugenaussage, die die Lotta jetzt herausgreift und liest, die Arretierung des dem Fenster zunächst stehenden Flügelfußes nicht gehalten oder sei eben in dem Moment abgebrochen, als sie das entferntere Ende anhoben, sodass der Flügel in Schieflage auf das Fenster zugerollt sei und sie, in ihrer Panik, statt ihn fallen zu lassen, zu halten versucht hätten, und dem Riesending hinterher auf das Fenster zugetänzelt wären. Bis es zu spät war. Bis der rollende Vorderfuß über die Fensterschwelle fuhr und mit ihm die ganze Angelegenheit in die Tiefe stürzte. Grad noch rechtzeitig, heißt es in der Aussage des Orchesterwarts, hätten sie in ihrem Schrecken losgelassen, sonst wäre noch einer von ihnen hinterhergefallen.
„Vielleicht ist das ja etwas für einen Ihrer Vorträge“, grinse ich zur Lotta hoch, „Tod durch Klavier. Der erste Fall in der Geschichte der Menschheit. Oder: Doktor August Sieveke - Der erste Mann unterm Flügel.“
Ich erinnere mich nur zu gut an ihren letzten Artikel: Menschen, die Tote in ihren Wohnungen zu verstecken versuchen. Weil sie sie ermordet hatten, weil sie durch den Tod überfordert waren oder weil sie es schlicht nicht ertrugen, vom Verstorbenen getrennt zu sein. Während des Lesens war mir ein deutlicher Geruch von verwesendem Fleisch in die Nase gestiegen, und als ich am Ende angelangt war, musste ich mich übergeben.
„Ist unser Doktor denn an einem Klavier gestorben?“
„Sie sind die Gerichtsmedizinerin. Ist er an dem Schreck darüber gestorben, dass ein Klavier auf ihn stürzte?“
„Sie sind der Kommissar. Wenn es noch nie passiert ist, ist es dann wahrscheinlicher, dass es sich um ein Verbrechen handelt oder um einen ganz dummen Zufall?“
„Wenn es noch nie passiert ist – woher soll ich das wissen?“
„Der Gussrahmen hat ihm das Genick gebrochen. Es hätte auch alles Mögliche andere sein können – eins der Holzbeine hätte seinen Schädel spalten können zum Beispiel. Die Überlebenschancen liegen bei null.“
Geringe Überlebenschancen sind für die Lotta also ein Hinweis auf einen Mord.
„Wenn wir einen Mann, der seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzt, mit einer Handvoll Schlaftabletten vergiften, ist er am nächsten Tag auch tot und auf der Polizeistation rufen keine zweihundert Leute an, die etwas zu einem potenziellen Fall zu sagen haben.“
„Sie würden das natürlich besser machen!“ , freut sich die Lotta, „Was uns zur nächsten Frage führt: Sind Ermittler die besseren Mörder?“
Ich zucke die Schultern und denke an meinen Nachbarn, dessen Hund ich vor zwei Jahren vergiftet habe. Natürlich ist mir keiner auf die Schliche gekommen. Aber ich habe auch kein Klavier auf das Viech geworfen.
„Also Unfall. Haben Sie die Papiere abgegeben?“
„Jetzt fragen Sie mich noch, ob ich alles richtig ausgefüllt habe.“
„Ich frage Sie, ob Sie mit mir ins Konzert gehen.“
Da guckt sie.
„Ein Benefizkonzert, heute Abend. Und der neue Flügel wird eingeweiht, Geschenk des Verstorbenen. Ironie des Schicksals! Der Intendant der Philharmonie war eben hier. Wollte seine Hilfe anbieten. Da hatte er die Karten übrig. Es sind zwei Karten. Wollen Sie mitkommen?“
Die Lotta ist tatsächlich mitgekommen. Weil sie misstrauisch ist, weil sie die Musik liebt, weil sie sonst nichts zu tun hat, weil sie der Fall interessiert oder weil sie der Meinung ist, dass man mich da nicht allein hingehen lassen kann.
In ihrem schwarzen Wieheißtdasgleich und noch sieben Zentimeter größer wegen der Absätze sieht sie aus, als ginge sie jeden Tag ins Konzerthaus. Legt mir im Eingang lässig ihren Mantel über den Arm, als wüsste ich natürlich, klar, dass es mein Job ist, ihn an die Garderobe zu bringen. Danke, Lotta! Ich dränge mich zwischen die Herren, die Damen warten bei den Spiegeln. So läuft das hier. Als ich durch die Menge zu ihr zurückrudere, finde ich schon den Intendanten bei ihr, einen kleinen, dicken, dabei wendigen Menschen mit raspelkurz geschnittenen Haaren.
„Herr Kommissar!“, zu mir, „Gnädigste!“, zu ihr. Die Lotta und ich schauen uns an. Und er dies und das zum traurigen Anlass, zum Vergnügen, uns hierhergelockt zu haben, sowie eine Einladung nach dem Konzert irgendwohin, ganz in der Nähe, Jour fixe, reizende Leute, freuen sich bestimmt. Wie jetzt, nach dem Konzert zu fremden Leuten? Ich schaue die Lotta hilfesuchend an.
Ob er uns zu unseren Sitzen führen dürfe?
„Guten Abend, Frau Mayer!“, brüllt er eine ältere Dame an, die dicht an uns vorbeihuscht. Sie reagiert nicht.
„Frau Mayer ist praktisch taub.“
+Ich nicke verständnisvoll.
Im nächsten Saal drängen sich Konzertbesucher an Stehtischen oder umlagern eine Bar, hinter der ein junger Mann eine Sektflasche nach der anderen in hohe Gläser leert. Hat da eben jemand „Das ist doch ein schöner Tod!“ gesagt?
„Hier entlang, bitte! Ach, Frau Gerber-Stoeck!“ Eine elegante Dame, einen knallbunten Schal um die kantigen Schultern, dreht sich um.
„Ich darf Ihnen mitteilen, dass wir Ihrer Bitte nachgekommen sind. Herr Doktor Sieveke hätte es nicht anders gewollt. Sein Platz steht Ihnen zur Verfügung: Reihe 4, Platz 20.“
Frau Gerber-Stoeck beugt sich vor und greift beide Hände des Intendanten.
„Wer, wenn nicht Sie!“, er reißt sich los und lotst uns durch die großen Holztüren in den Konzertsaal.
„Reihe sieben ist eigentlich ideal. Sieben bis zehn, wenn Sie mich fragen. Also, wenn Sie die Musik hören wollen, wenn sie der Konzertmeisterin in den Ausschnitt gucken wollen, sind die vorderen Reihen natürlich besser. Alles schon dagewesen. Wobei, Sieveke zog Reihe vier vor, aber der mochte es bekanntermaßen laut. Und rechts besser als links, ich meine, außer Sie wollen unbedingt in der Geige herumschwimmen. Frau Gerber-Stoeck hat so ein feines Gehör – aber auch eine scharfe Zunge! Sie hat bisher neben der armen Frau Mayer gesessen. Frau Mayer hört ihre eigenen Bonbonpapiere nicht, das knistert in einem fort. Jemand wie Frau Gerber-Stoeck kommen da natürlich Mordgedanken, das kann man niemandem verübeln. Ich musste die beiden auseinandersetzen. Auch wenn ich gute Angebote für den Sievekesitz hatte! Wissen Sie, unter der Hand, sie glauben nicht, was die Leute versuchen. Ich treffe Sie nach dem Konzert am Ausgang. Reizende Begleitung!“, flüstert er mir abschließend noch ins Ohr.
„Falls Sie vorher noch keine Intendanten kannten, kennen Sie jetzt alle“, sagt die Lotta gemütlich und streckt die Beine unter den vor ihr stehenden Stuhl.
„Das fanden Sie jetzt also nicht verdächtig!“
„Die sind immer verdächtig. Darum sind wir ja hier, oder? Gehen wir anschließend zum 'Digestivo'?“
Digestivo. Wohl das neumodische Pendant zum Aperitivo. Schlimm genug. Aber mit der Lotta! Mit der Lotta ist Digestivo cool. Was würden die Kollegen sagen, die Kollegen dürfen es keinesfalls erfahren.
„Natürlich. Vielleicht finden wir ja was heraus, nicht wahr?“

Von wegen! Der Verein der Freunde der Philharmonie hat gerade eben sein langjähriges und finanzkräftiges Mitglied, den Doktor Sieveke, verloren, und der Mann wird den ganzen Abend über kein einziges Mal erwähnt! Der Intendant reicht mir einen Brandy Alexander zusammen mit der Erörterung der Frage, ob es sich bei diesem Getränk tatsächlich um einen Aperitif handle, obwohl man unmöglich danach essen könne, oder ob man ihn den klassischen Cocktails, die eigentlich am Morgen danach zu trinken sind, zuordnen solle. Schon beim Anblick der hellbraunen Sauce wird mir schummerig. Ich warte einen Moment und mache ein bisschen auf Fernsehkommissar: wende den Blick dem Intendanten zu und frage ihn langsam nach einer Kunstpause:
„Wie sehen Sie denn den Fall Sieveke, Herr Intendant?“
Da er mich Herr Kommissar nennt, ist das wohl passend.
„Immer bei der Arbeit, der Herr Kommissar, wie Ihre Kollegen im Fernsehen, wie?“
Bevor ich darauf hinweisen kann, dass die „Kollegen aus dem Fernsehen“ Schauspieler sind und nicht meine Kollegen, fährt er fort: „Entspannen Sie sich! Meine Aussage – wahrscheinlich kennt der tüchtige junge Mann sie bereits auswendig“, das an die Lotta, und direkt danach wendet er sich schon an die Konzertmeisterin, der er unbedingt „unseren“ Kommissar vorstellen muss. Mir wird sie tatsächlich als Fräulein Ingrid vorgestellt. Eine Frau um die fünfzig, schlankes Gesicht, hochgestecktes, blondes Haar und überhaupt und insgesamt das Abziehbild einer Geigerin. Man spricht über Musik, ich halte den Mund. Ich liebe klassische Musik. Sie gibt mir eine gewisse Ruhe, besonders im Konzert, wenn ich auf meinem Stuhl sitze und gezwungen bin, meinen Gedanken in Ruhe zu folgen. Das ist sehr angenehm. Ich höre dabei allerdings fast nie zu. Die Lotta hingegen hat genau zugehört. Sie sagt ein paar ganz allgemeine Sachen, denen alle begeistert zustimmen. War ja klar. Lehnt sich zurück, während der Intendant ihr Weinglas auffüllt und sagt etwas Kluges über Musik.
Das Einzige, was wir erfahren, ist, dass der aus dem Fenster gestürzte Flügel heute abgeholt und der Musikschule hätte übergeben werden sollen. Durch die großzügige Spende des verblichenen Doktors ist ja ein nagelneuer Konzertflügel für den Saal im Erdgeschoss gekauft worden. Ebender der Flügel, der heute Abend mit Beethovens drittem Klavierkonzert eingeweiht worden ist. Und der alte Konzertflügel ist jetzt aufgestiegen in den Probenraum im ersten Stock. Unfallfrei, Gott sei Dank, so der Intendant. Nur die Musikschule hätte das Nachsehen, man wäre bereits dabei, durch eine Spendenaktion Ersatz zu schaffen.
„Hatte denn der Herr Doktor Sieveke Feinde?“, frage ich gedankenverloren und nehme mir noch so ein Käseplätzchen, das aber nicht Käseplätzchen heißt, sondern irgendeinen komischen italienischen Namen hat, wie auch die Pizzastückchen nicht Pizza heißen, sondern irritierenderweise einen englischen Namen haben. Es ist doch merkwürdig, diese ganzen Leute sind merkwürdig, denke ich, schmeckt eindeutig wie Käseplätzchen.
„Feinde!“, der Intendant schreit fast vor Lachen. „Glauben Sie mir, der arme Doktor war der gutmütigste Mensch der Welt. Der hatte keine Feinde. Lassen wir ihn in Frieden ruhen, nicht wahr?“
Mit einigen Mühen verabschieden wir uns von den Freunden der Philharmonie und treten in den Vorgarten des geschmackvoll renovierten Fachwerkhauses. Hier ist es sehr still.
„Komische Leute“, sage ich. „Komischer Fall.“
„Die sind immer so, glaub mir.“ Hat mich die Lotta eben geduzt?
„Und es war ein Unfall, kein Fall. Hab die Unterlagen bereits eingereicht.“
Sie legt mir zum Abschied die Hand auf die Schulter und lässt sie langsam meinen Oberarm hinuntergleiten. Ich stehe stocksteif.
„Gute Nacht, Herr Kommissar!“
„Gute Nacht, Lotta.“
Ich habe sie danach lange nicht gesehen. Der Fall ist als Unfall zu den Akten gelegt worden.
Fräulein Ingrid lässt mir zwar freundlicherweise regelmäßig Karten für die Philharmoniekonzerte zurücklegen, es sind aber Einzelkarten, sodass ich die Lotta gar nicht fragen kann, ob sie mitkommen will.
Inzwischen bewege ich mich geschmeidig durch die Sitzreihen. Ich brülle Frau Mayer ein freundliches „Guten Abend“ in die verkalkten Gehörgänge, lasse mir von der Frau Gerber-Stoeck ein Halsbonbon aufzwingen, das ich vor Konzertbeginn aufzulutschen angewiesen werde, und setze mich endlich neben die winzige Witwe Wurm, eine jederzeit frisch geföhnte Dame, die tatsächlich nach Kölnisch Wasser riecht. Sie sieht mich beklommen an, wenn ich mich hinsetze. Zuerst habe ich gedacht, ich säße auf dem falschen Platz, und das mag Frau Wurm auch so erscheinen, denn auf Platz 36, Reihe sieben, hat achtunddreißig Jahre lang ihr Mann gesessen. Bis vor drei Jahren, als er eines Abends nach dem Essen plötzlich in sich zusammenfiel und starb. Danach hat sie sein Abo noch zweimal verlängert, endlich aber eingesehen – oder sich von ihren Kindern einreden lassen - dass es doch Geldverschwendung sei, einem Toten Konzertkarten zu kaufen. Sie solle lieber „etwas Schönes“ machen, etwas „für sich“. So die allgemeine Meinung.
Ich bin auch regelmäßiger Gast im geschmackvollen Fachwerkhaus geworden. Der kleine Sessel am Kamin ist mein Stammplatz, und da mir am ersten Abend der Brandy Alexander schlecht bekommen ist, haben sie festgesetzt, dass ich als Kommissar natürlich ein Manhattan-Typ bin. Ich habe mich daran gewöhnt. Schlürfe meinen Drink und knabbere meine Häppchen, die nach Käse, Brot und Oliven schmecken und deren Namen ich nicht aussprechen kann. Die beiden Gastgeber, der Intendant – jetzt Fritz – und Fräulein Ingrid kümmern sich jeder ein bisschen um mich und laden mich nachdrücklich zu ihrer nächsten kleinen Soiree, wie sie es nennen, ein. Im Gegenzug verabschiede ich mich früh und überlasse die musikalischen Menschen ihren musikalischen Gesprächen.
Fräulein Ingrid ist besonders unterhaltsam, eine Klatschtante. Wer mit wem wann in wessen Haus, sie kennt die Hautevolee des Städtchens wie ihre Westentasche. Von ihr weiß ich, dass die Musiker ihr Publikum ihren Silbersee nennen, wegen der weißen und grauen Haare und der glänzenden Glatzen dazwischen. Tatsächlich wirken alle Besucher der Soireen, von den Musikern abgesehen, ausgesprochen alt.
Ich schlenkere meinen Drink im Glas, wie ich es im Fernsehen gesehen habe. Ingrid streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Schöne Haare haben Sie, Herr Kommissar. Siebte Reihe rechts, nicht wahr? Ich habe Sie im Blick.“
„Na, meinen Glückwunsch. Donnerwetter, Sie sind mir ein flotter Käfer. Lässt nichts anbrennen, der Herr Kommissar.“ Natürlich: Fritz, der Intendant. Über den ich mittlerweile auch verschiedenes gehört habe.
„Ich habe leider gar nichts zu sagen. Ich weiß nicht einmal, wie man über klassische Musik spricht.“
„Umso besser: einer, der keine Vorträge hält!“ Susanne, die Gastgeberin.
„Auf den schweigenden Genießer!“ Fritz wieder.
„Ach was, sagen Sie einfach, was Ihnen in den Kopf kommt. Im Zweifelsfall was Nettes“, raunt mir Ingrid ins Ohr.
Wenn man mich jetzt über ein Konzert befragt, rede ich einfach über Dinge, die mir während der Musik durch den Kopf gegangen sind. Als ich von einem Urlaub am Meer mit der Lotta träumte, machte ich daraus ein flüssiges Stück Musik, sinnlich und flüssig, habe ich gesagt. Sie fanden die Beschreibung herrlich. An einem anderen Abend war ich ganz damit beschäftigt, auf ein Weihnachtsgeschenk für meinen Vater zu kommen. Ich beschrieb die Musik als etwas zeremoniell, dabei durchaus human. Es hätte an beiden Abenden das gleiche Programm sein können, es wäre mir nicht aufgefallen. Nicht zuhören zu müssen, ist, was ich an den Konzerten am meisten schätze.

Weihnachten ist längst vorüber, die Tage werden länger. Endlich wird es auch wärmer: Man redet jetzt vom Ende der Saison. Das tut man mit einiger Leidenschaft, denn das letzte Konzert im Juni wird auch das Abschiedskonzert des vergötterten Dirigenten sein.
„Er wird weiterziehen, an die große Häuser des Landes, ja, der Welt, und ein Stück, ein Fetzen der Herzen dieser Menschen wird ihn begleiten. Vielleicht wird er den Saal und seinen Silbersee vergessen, aber hier werden sie sich immer an ihn erinnern“, deklamiert Fritz, der Intendant, und klopft sich an die Brust. Mir werden die Konzertabende fehlen und auch die Soireen; wie schnell man sich gewöhnt, denke ich. Aber im Herbst wird es weitergehen. Wenn sie mich nicht vergessen haben bis dahin.

Am letzten Abend im Juni trage sogar ich eine Krawatte. Frau Gerber-Stoeck scheint diesmal erfolgreich die Halsbonbons aus dem Publikum verbannt zu haben. Kein Räuspern in den Generalpausen, nicht einmal ein leises Schniefen. Niemand, der im Programmheft blättert oder auch nur seine Konzertkarte zwischen den Fingern hin- und herrollt. In der Reihe vor mir sitzen sie steif und zur Bühne hin gelehnt. Ich reckt mich ein bisschen und lehne mich ebenfalls vor, schließe die Augen und höre genüsslich nicht zu, bis mich tosender Applaus aus meinen Gedanken reißt, der bald von dem Getrappel unzähliger Füße begleitet wird. Die alten Damen tappen mit beigefarbenen Damenschuhen auf das Parkett des Saales und klatschen dabei wie rasend in die rot und blau anlaufenden Hände. Die Köpfe der Platzanweiserinnen sind feuerrot, das Orchester verneigt sich wieder und wieder. Nicht enden wollender Applaus, das habe ich mal gelesen. Jetzt weiß ich, was es bedeutet. Ich klatsche, auch mir schmerzen die Hände, aber ich und alle hier befinden uns in den Händen einer überlegenen Kraft. Ob wir aufhören wollen oder nicht: Wir klatschen weiter. Der Applaus hält uns in seinen Klauen und er will nicht enden.
Ob sich schon einmal wer zu Tode geklatscht hat, frage ich mich, als ein Japsen direkt vor mir das Getöse durchschneidet. Ein grauer Haarschopf mit künstlichem Dutt rutscht seitlich vom Stuhl auf den Boden. Mehrere Frauen kreischen.

„Es ist noch nie jemand von einem Klavier erschlagen worden. Es hat sich noch nie jemand zu Tode geklatscht. Außer in unserem Verein der Freunde der Philharmonie. Das gibt dir nicht zu denken?“
„Ein fünfundachtzigjähriger im Rollstuhl. Eine beinahe Neunzigjährige mit Herzrhythmusstörungen. Nein, mir gibt das nicht zu denken. Sollte es das?“
Die Lotta und ich duzen uns tatsächlich.
„Ich werde mir eure Leiche ganz genau ansehen. Auf den Bericht werdet ihr warten müssen.“

Weg ist sie. Und am nächsten Tag schon um acht auf der Schwelle.
„Was wiegt so ein Konzertflügel?“
„Vierhundert. Können auch fünfhundert werden. Wieso?“
„Weil wir uns haben verarschen lassen! Ein vierhundert Kilo schwerer Gegenstand kann niemandem aus der Hand gleiten. Weil ihn niemand halten kann. Verstehst du? Etwas, das du nicht heben kannst, kann dir nicht aus der Hand fallen.“
„Ich könnte es umwerfen.“
„Das Fenster stand offen. Und dann versagt die Arretierung? Wir waren blind, Herr Kommissar.“
„Es war Pech! Der arme Orchesterwart stand völlig unter Schock. Wie willst du den alten Mann im Rollstuhl unter das Fenster kriegen, aus dem du im nächsten Moment einen Konzertflügel schubst! Das ist absurd.“
„Es ist nicht absurd. Weißt du noch, der Abend nach dem Konzert? Du hast gedacht, die sind verdächtig, und ich habe gesagt, die sind immer so. Ja! Diese Leute sind immer verdächtig! Mit ihren Häppchen à la Hachmichwas und ihren Raumklängen und Schwanengesängen und der Bedeutung von Mozarts g-Moll im Gegensatz zu Haydns d-Moll, natürlich haben die Leichen im Keller. Das kannst du ihnen sagen, deinen neuen Freunden: Ich werde es finden. Die Einstichstelle, die Nadel, die Tablette, das Gift, die Überdosis. Was es auch ist, ich werde es finden.“

Während nach seinem Tod niemand Doktor Sieveke auch nur erwähnt hat, ist das plötzliche Ableben der Witwe des Studienrates Großkopf das einzige Thema des nächsten Digestivos. Sie hat keine direkten Erben. Laut Testament soll ihr Vermögen in eine Stiftung zur Förderung der Kultur unseres Landkreises einfließen, um insbesondere die Pflege der klassischen Musik in unseren Breiten zu unterstützen.
„Da werde ich mich zum Herrn Landrat persönlich bemühen müssen“, erklärt Fritz behäbig. „Muss man immer ein Auge drauf haben, wie die Gelder verteilt werden. Wie geht es der reizenden Freundin?“
Ich verstehe erst gar nicht, von wem er spricht.
„Dem Fräulein Gerichtsmedizinerin“, fügt er an. Er meint die Lotta!
„Hat wohl viel zu tun, kommt gar nicht mehr zu unseren Soireen?“
„Der Fall Großkopf beschäftigt sie sehr. Ausgepumpt haben wir bereits. Jetzt untersucht sie den Körper auf Einstichspuren“, erwidere ich und behalte ihn dabei fest im Blick. Die sind immer komisch, ganz richtig. Aber in diesem Moment scheint mir Fritz ganz besonders komisch.
„Nun, ich hoffe, dass sie den armen alten Körper bald den Hinterbliebenen und der ewigen Ruhe auf unserem schönen Friedhof überantworten kann. Waldfrieden, nicht wahr? Ich würde da selbst beerdigt werden wollen. Urnengrab, versteht sich. Haben Sie diesbezüglich Pläne?“ Der Intendant sieht mich merkwürdig eindringlich an.
„Pläne? Nein! Ich dachte, es gibt keine Erben?“
„Keine direkten Erben. Zurück bleibt immer jemand, Sie kennen sich ja aus. Also wenn Sie unserer gemeinsamen Freundin – ich will natürlich keinen Druck machen, aber ich würde mich freuen, sie wiederzusehen. Richten Sie ihr das bitte aus. Und Sie kommen doch zu unserem Ausflug?“
„Ausflug?“
„Natürlich, sie sind doch auf der Liste! Nach Paderborn, ich bin sicher, ich habe Ihren Namen gesehen! Ihre Sitznachbarin, die kleine Frau Wurm, nicht wahr? Die wollte doch immer diesen polnischen Künstler sehen, fragen Sie mich bloß nicht nach seinem Namen! Jedenfalls fahren wir nach Paderborn. Sie haben doch frei am Sonntag?“
Ich höre von dem Ausflug zum ersten Mal. Man will ein Kunstwerk sehen, ausgestellt nur in diesem Winter in einer Kirche in Paderborn. Ein in der Art alter Gemälde gefilmtes Bild, Tag und Nacht zur Ehre der Madonna auf eine Leinwand projiziert. So soll man einen Engel sehen, der sich in bauschigem Gewand der lesenden Jungfrau nähert. Ein Windstoß geht durch seine Kleider, während eine ganz leichte Brise mit dem Haar der Maria spielt, die langsam ihr Gesicht hebt und den Engel ansieht. Die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz wird laut Prospekt von einem Käfer vorgestellt, der sich in der halben Stunde, die der Film dauert, von rechts, der Seite, auf der Maria sitzt, durch das hohe Gras am Engel vorbei bis links zum Bildrand und schließlich aus dem Bild heraus bewegt. Worauf der Film von neuem beginnt und der gleiche oder selbe Käfer am rechten Bildrand wieder auftaucht und sich auf denselben mühseligen Weg über die ausgefeilte Wiese am unteren Bildrand macht. Witwe Wurm, eine der wenigen Katholikinnen im Verein, hat den Ausflug angeleiert, in der Art der Fahrten, die Schulklassen vor den Sommerferien unternehmen. Nach dem Besuch in der Kirche soll es einen Imbiss, einen Besuch im Stadtmuseum und ein Kammerkonzert in einer zum Kammerkonzertsaal umgebauten Fabrikantenvilla geben. Ich sage sofort zu.

Das hätte ich mir besser überlegen sollen. Mir wird nicht nur beim Anblick von Blut, sondern auch bei Busfahrten schlecht. Ich sitze seekrank auf der Kirchenbank und starre auf den leuchtenden Engel, die blasse Maria, die langsam das Gesicht dreht und ich beobachte den müden Käfer, der mit jedem Ablauf des Films älter und verzweifelter gegen Grashalme anzukämpfen scheint. Auch ich fühle mich müde und alt und verloren im hohen Gras. Der Käfer verschwindet, ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, hat sich das Licht in der Kirche verändert. Ich muss eingeschlafen sein, die anderen sind schon im Stadtmuseum. Man hat mich hier vergessen. Nicht nur mich. Neben mir sitzt die beklommene, kleine Witwe Wurm, neben der ich die Konzerte der gesamten Saison gehört habe, auf dem Platz ihres Mannes sitzend, Platz 36, Reihe sieben. Ihr Kopf lehnt in der Ecke des Gestühls, sie schläft. Eine kleine, in sich gekehrte Frau, die man leicht irgendwo vergessen kann.
Ich räuspere mich, flüsterte: „Frau Doktor Wurm!“, wobei ich sie tatsächlich, wie der Intendant, mit dem Titel ihres Mannes anrede.
Vorsichtig berühre ich ihre Schulter. Da sackt Frau Wurms Oberkörper nach vorn, rutscht weiter halb links an ihren Beinen vorbei und mit einem Schlag liegt die ganze Witwe vor mir auf dem Boden.
Ist ein Kommissar ein guter Mörder? Ein guter Kommissar, bestimmt!
Eine gute Gerichtsmedizinerin ist noch besser.

Statt mich um die Witwe zu sorgen oder ihren Tod festzustellen, rufe ich die Lotta an, die mir zuhört, als wäre es eine ganz alltägliche Sache, so in einer Kirche neben einer Leiche aufzuwachen.
„Hast du Handschuhe dabei?“, fragt sie.
„Nein!“
„Geh raus! Nicht durchs Hauptportal. Lauf in der Stadt herum. Ich hole dich ab.“
„Wo?“
„Bahnhof. Am Bahnhof, Gleis 3. Das gibt es doch, oder? Sonst vier. Und schau in deine Tasche.“
Ich bin überfordert.
„Ein Mann wacht neben einer Leiche auf. Was ist das?“, fragt sie.
„Eine Falle.“
„Richtig. Warum?“
„Weil sich keiner neben sein totes Opfer schlafen legt.“
„Genau. Also, fast keiner. Den Krankenwagen rufe ich. Bis gleich!“
Mit leerem Kopf und kalten Füßen stolpere ich durch den Kreuzgang auf die Straße. Der Wall direkt hinter mir, hier finde ich eine Parkbank, über die ich meinen kleinen Rucksack ausschütte. Zwischen Mütze, Brieftasche, Schokoladentafel und mehreren Stiften eine Spritze und zwei leere Ampullen. Haben die wirklich geglaubt, sie kämen damit durch? Ich besorge Einmalhandschuhe und kleine Tütchen in der nächsten Apotheke und habe alles aufgeräumt und mit Notizen versehen, fertig für die Jungs von den Fingerabdrücken, als die Lotta mich am Bahnhof abholt.

Am nächsten Tag erfahre ich, dass man in der Kirche nicht gewagt hat, meine Andacht zu stören, dass des Weiteren Witwe Wurm friedlich entschlafen sei, Diabetes und dazu ein krankes Herz, das überrascht niemanden. Letztlich ist es für alle besser so. Zu ihren Ehren, denn sie hat den Verein der Freunde der Philharmonie für den Fall ihres Ablebens mit einer großzügigen Spende bedacht, werden am kommenden Freitag spontan Auszüge aus ihrer Lieblingsmesse von Mitgliedern des Kirchenchores und der Philharmonie zum Vortrag kommen.
Der Intendant klopft an meine Bürotür, als die Lotta mir ihre letzten Analysen vorlegt.
Bescheiden grüßt er und legt zwei Eintrittskarten für das Gedenkkonzert auf den Tisch. Hinter ihm schaut Fräulein Ingrid zur Tür hinein. Zum Glück sind die Kollegen in der Mittagspause!
„Bestechung“, sagt Lotta.
„Richtig“, antworte ich. „Zwei Stunden klassische Musik, eine Handvoll unaussprechlicher Käsehappen und zwei Manhattan. Dafür vertuschen wir ein paar Morde, was meinen Sie, Fräulein Lotta?“
Die Lotta guckt mich streng an, Fräulein Ingrid schwebt an ihr vorbei und lehnt sich über meinen Schreibtisch.
Der Intendant verneigt sich vor der Lotta, mir patscht er zweimal auf den Rücken.
„Herr Kommissar, nehmen Sie diese Billetts als Zeichen unserer Bitte um Entschuldigung an.“
Billetts? Er schiebt die Konzertkarten über den Tisch. „Versuchen Sie, zu verstehen! Uns - und unsere Kunden!“
Lotta und ich sehen uns an. Von wem redet er?
„Wer sind wir, diese Menschen sich selbst zu überlassen, auf der Suche nach nichts anderem als einem würdigen Abschied, einem Ende, in dem das Erhabene dieser Welt der nächsten die Hand reicht?“ Versteht die Lotta, was er sagt? Sie hat die Arme über der Brust verschränkt und scheint abzuwarten. Ich zucke mit den Schultern, und der Intendant redet sich erst richtig in Schwung: „Was gib es Höheres, als im Angesicht der Schönheit, im Erleben der Musik sein Leben auszuhauchen? Viele unserer Mitglieder wünschen sich nichts sehnlicher! Und auch wenn die derzeitige Rechtslage kein Verständnis zeigt, tun wir alles, aber wirklich alles, um ihren Wünschen entgegenzukommen; unerschrocken und kühn auf gefährlichem Weg, des Abgrunds nicht achtend.“
„Das sind drei Morde mindestens und Sie haben daran verdient“, erklärt die Lotta mürrisch. „Was stellen Sie sich vor, wo wir hier sind!“
„Meine Liebe!“, mischt sich Fräulein Ingrid ein. „Wir haben doch nicht persönlich daran verdient. Vielleicht geht es unserem Verein etwas besser, aber davon profitieren alle, die ganze Stadt! Wir werden einen ganz ausgezeichneten Dirigenten gewinnen können, der letzte war gar nichts dagegen, sind schon in Verhandlungen!“
Sie warf den Kopf nach hinten, als schwänge sie eine blonde Mähne von links nach rechts über ihre Schulter. „Kein Schaden, kein Kläger. Sagt man nicht so? Wir sind aufgeflogen, aber doch nur Ihnen. Und mit Ihnen können wir reden.“
„Ich habe die notwendigen Dokumente: Abschiedsbriefe, Willenserklärungen, notarielle Beglaubigung ...“
Fritz streut Blätter aus seiner Mappe auf den Tisch. Tatsächlich, ein Notarstempel, Römkens, Emil. Römkens? Das war doch der Herr mit der Hornbrille, direkt vor mir, Reihe 6. Die steckten wirklich alle unter einer Decke! Ich muss hörbar ausgeatmet haben, denn Fräulein Ingrid spricht jetzt mit einer ganz hohen Stimme, wie zu einem Kind: „Vielleicht finden Sie, dass wir unsere Aktivität einstellen sollten. Auch darüber könnte man zum Beispiel reden, nicht wahr, Fritz? Wenn Sie unbedingt, unbedingt darauf bestehen. Sagen wir, wir nehmen keine Aufträge mehr an. Für laufende Projekte (sie sagte tatsächlich „Projekte“!) müssten wir natürlich bereits geleistete Anzahlungen erstatten. Sie können mir glauben, der Herr Doktor und die beiden Witwen, die sind auf eigenen Wunsch gegangen, genau, wie sie es sich erträumt haben. Schwelgend. Und ganz ehrlich, wir hatten schon Anfragen aus der Schweiz. Da haben wir aber gesagt, nicht wahr, nein, wirklich, diesen besonderen Service bieten wir nur Mitgliedern unseres Vereins der Freunde der Philharmonie an. Uns geht es um die Kunst. Aber das sage ich Ihnen, das wäre ein ganz, ganz großer Markt, und wenn sich da Kriminelle breitmachen würden, in diesem Segment! Zum Glück sind wir Musiker. Gott sei Dank! Ist nicht unsere Kernkompetenz, nicht wahr, Fritz.“
„Einige Damen und Herren werden natürlich sehr enttäuscht sein, wenn wir jetzt aufhören“, ergänzt Intendant Fritz trocken. Er hebt mit spitzen Fingern ein Blatt hoch, um es mir zu zeigen. Ich entziffere die erste Zeile, mit krakeliger Hand ins Papier gekratzt: „Warum ich aus der Welt scheiden will.“
„Ohne Zweifel sehr enttäuscht. Man wird der Meinung sein, Sie hätten alles darangesetzt, uns auszuspionieren und dann in den Rücken zu fallen.“
„Man wird mit Spannungen rechnen müssen, wenigstens bei den Soireen.“
„Da hat man Sie so freundlich aufgenommen. Der schöne Platz am Kamin!“
„Wir sind davon ausgegangen, Sie wären im Bilde.“
„Wir dachten, Sie unterstützten unser Projekt. Künstlerisch, aber auch moralisch. Eigentlich hatten wir uns gefragt, ob sie nicht mittelfristig an unserer Dienstleistung interessiert wären. Langfristig. Da wären wir auf Sie zugekommen. Auch finanziell.“
„Da haben wir uns wohl geirrt. Ich bin neugierig, wie Ihre Kollegen das sehen werden.“
Geplänkel, schlechte Witze, unterschwellige Drohungen und alles wie aus dem Fernsehen abgeguckt. Die blonde Ingrid sitzt auf meinem Schreibtisch, ihre hübschen Knie ragen aus dem Rock, und in den Händen dreht sie meinen Bleistiftspitzer, während Fritz mit dem Rücken zu uns am Fenster steht und sich geräuschvoll die Glatze kratzt. Endlich ist die Mittagspause vorbei, die Kollegen klappern mit den Türen. Fritz und Ingrid schleichen in den Gang zurück. Die Lotta schließt die Tür. Ich denke an die kleine Frau Wurm und dann an den Hund meines Nachbarn. Wie viel ruhiger und besser es sich jetzt in meiner Straße lebt. Das haben auch andere festgestellt, das Pärchen von gegenüber zum Beispiel. Wir stehen am Zaun und unterhalten uns, daran war vorher nicht zu denken gewesen bei dem Gebell.
„Kriminelle Energie im Dienst der Allgemeinheit. Gibt's das schon, als Forschungsthema?“
„Willst du die echt laufen lassen!“
„Ich weiß es nicht, nein, natürlich nicht! Sonst halten die sich noch für Gott, stimmt's?“
Ich nehme die Konzertkarten und reiße sie in kleine Fetzen. „Heute schon was vor?“
„Was ist denn im Angebot, Horst?“
„Jour fixe: Bier in Kneipe.“
„Saubere Soirée. Ich hol dich ab.“

Ich trete vors Polizeigebäude. Es ist warm geworden. Die Musiker haben Pause, das Konzerthaus wird für zwei Monate geschlossen und meinen Bericht hat das Kriminalamt morgen früh auf dem Tisch. Eine Melodie geht mir durch den Kopf, klein und abgebrochen, ein alter Tanz oder etwas aus einem der Konzerte, richtig: aus dem ersten Konzert. Mein erster Abend in der Philharmonie, neben mir die Lotta. Beethovens Klavierkonzert. Das dritte? Vierte? Egal. Vielleicht gehe ich wieder hin, nicht hier, aber die Konzerthalle ein paar Orte weiter, die ist regelrecht berühmt. „Hervorragende Akustik“, wer hat das gesagt? Fritz? Eher seine zickige Ingrid. Am Ende spielen sie da sogar besser. Nicht, dass ich es merken würde. Den Anfang des letzten Satzes von Beethovens drittem Klavierkonzert summend, rücke ich mich auf dem Fahrersitz zurecht und drehe den Schlüssel im Zündschloss, als plötzlich ein Blitz, ein weißes, brennendes Licht den Knall der Explosion überholt.

 

Hallo Placidus,

es ist sehr schwer einen Krimi zu schreiben, man erwartet Spannung, möglichst eine originelle Auflösung, eine Identifikationsfigur (bei Serien besonders wichtig) und einen Schreibstil, der zum Plot passt.

Ich finde zwar nicht, dass ich vor Spannung nicht ruhig auf meinem Sessel sitzen konnte, aber ich wollte schon wissen, wie die Sache weiter geht, so weit wurde mein Interesse wurde geweckt.
Die Auflösung war okay, besser gefielen mir die Figuren, die doch fein beschrieben daher kommen.

Eine flott erzählte, nette Geschichte, die durch eine Prise Satire unterhaltsam bleibt und etliche treffende Formulierungen enthält, z.B.:

Ein Benefizkonzert, heute Abend. Und der neue Flügel wird eingeweiht, Geschenk des Verstorbenen. Ironie des Schicksals!
Der Verstorbene sorgt (indirekt) für die Tatwaffe!

+Ich nicke verständnisvoll.
Kleiner Fehler
Von ihr weiß ich, dass die Musiker ihr Publikum ihren Silbersee nennen, wegen der weißen und grauen Haare und der glänzenden Glatzen dazwischen.
Was für ein Bild! Rentnerschnee aufm Silbersee ...
Der Applaus hält uns in seinen Klauen und er will nicht enden.
Sehr gut getroffen - Applaus hat manchmal schon eine diktatorische Komponente.

Schön zu lesen,

liebe Grüße,

Woltochinon

 

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