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Vielleicht werden wir ausgehöhlt

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18.02.2002
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Vielleicht werden wir ausgehöhlt

Vielleicht werden wir ausgehöhlt. Vielleicht treiben sie ihre Spielchen nur, um Zeit zu vernichten. Eintönigkeit als Waffe, lautet die Devise.
Wir haben keine Ahnung, nicht die geringste. Alles um uns bewegt und verhält sich den Gesetzen der Trägheit entsprechend. Das helle Aufflackern ist selten, seltener noch das grelle Abfackeln. Und niemanden kümmert’s. Oder kümmert’s jeden? Ist, bei Licht betrachtet, das gleiche. Und Licht gibt’s zuhauf, wenn wir nicht mal wieder zu matt sind: matt, matt, matt.

„Füll die Maschine auf!“, bellte Jakob, der Beller, und riss mich aus meinen Gedanken. Die Maschine war augenscheinlich nicht träge, jedenfalls tat sie, als wäre sie es nicht. Der Job war gut, weil ich nicht denken musste und schlecht, weil in meiner Schicht alle Kerle Arschlöcher waren. Auch die Frauen: Arschlöcher, die mich anekelten, mit ihren fetten Ärschen, Tanga-Ritzen im Winter, Halle Zwei, ekelhaft.
Jakob war noch einer der besseren, einer vom alten Schlag. Er verhielt sich rüde und direkt, ein klassischer Antreiber. Gut, besser als der Chef; dieser Schleimscheißer, der Universitätsjargon ejakulierte, dem beim Aufsagen von Erfolgszahlen einer abging und der einem mit Wörtern wie „Standort“, „Leistung“, „Pflicht“, „Rendite“, „Arbeitsmarkt“, den Tag so richtig schön versauen konnte. Ich glaube, er ahnte, dass er ein dummes Schwein war, aber eingestehen würde er es sich nie können, dafür nahm er sich zu wichtig. Er wurde auch ausgehöhlt.

„Hol die vierhundertsechziger!“, bellte Jakob, der Beller, und ich tat wie befohlen. Die Flanschen lagerten im Freien, also nahm ich eine Kippe aus der Schachtel und zündete sie mir beim Hinausgehen an. Der Hubwagen bollerte laut, so dass ich Hugo erst hörte, als ich bei den Gitterkörben ankam. Noch so ein Grund diesen Laden zu hassen: Hugo. Hugo, der Spion, Hugo, der ehrgeizige Zeitarbeiter, Hugo, den alle hassten, weil er ein noch größeres Arschloch als alle anderen war. Wirklich beeindruckend. Er baute sich schnaufend vor mir auf.
„Hör mal, auf dem Gelände darf nicht mehr geraucht werden.“ –
„Ich weiß.“ –
„Warum machst du’s dann?“ –
„Warum gehst du nicht dem Chef einen runterholen?“
Jetzt lief er rot an. Bisher hatte ich mich zurückgehalten, aber heute war ein „ich-sage-was-ich-denke-und-es-ist-mir-scheißegal" Tag. Ich ließ Hugo stehen und zog die Flanschen in die Halle.

„Füll die Maschine auf!“, bellte Jakob, der Beller und ich lächelte, das erste Mal heute. Es tat gut jemandem wahrhaftig gegenüber zu treten, egal wem, egal warum. Gestern rief mich der Chef in sein Büro und fragte, ob ich gerne hier arbeitete, es sei ihm aufgefallen, dass mein Einsatz zu wünschen übrig ließe. Ich war angeschwärzt worden, von wem auch immer. Die meisten Leute kamen nicht damit klar, wenn man an ihren Gesprächen über das Abendprogramm, Autos, Ficken oder ähnlich langweiligem Zeug nicht teilnahm. Jeder, der für sich allein bleibt, wird gefürchtet und sei er noch so harmlos, so war es schon immer. Und dieser Penner von Chef glaubte tatsächlich, mir Angst machen zu können: ich stünde unter Beobachtung, er persönlich werde ein Auge auf mich werfen, ich solle mich vorsehen.

Einen Scheiß mache ich. Arbeiten werde ich. Und das Maul halten. Und auf meine Kündigung warten. Feierabend.

 

Hallo Testos,

gute Geschichte! Resignation, Einzelgängertum, Rebellion in Kleinem – wirklich gut, stimmungsvoll und mal anders umgesetzt. Das ominöse anonyme Etwas, das die Menschen aushöhlt, ist ein richtig guter Streich – Hut ab! Dann setzt du zum Schluss noch mal einen drauf und kehrst die Rebellion um:
Einen Scheiß mache ich. Arbeiten werde ich. Und das Maul halten. Und auf meine Kündigung warten. Feierabend.
Mir fehlt da nix und nebenbei konnte ich auch lachen – empfehlungsreif.

Zu den Details:


Wir haben keine Ahnung, nicht die geringste.

Thomas Bernhard Leser?;)


Ich glaube er ahnte,

Komma nach „glaube“


bellte Jakob, der Beller und ich lächelte, dass erste Mal heute.

das


Jeder, der für sich allein bleibt, wird gefürchtet und sei er noch so harmlos, so war es schon immer.

Geiler Satz!


Einen Scheiß mache ich. Arbeiten werde ich. Und das Maul halten. Und auf meine Kündigung warten. Feierabend.

Plötzlich Präsens! – evtl. ein Wink in der Art: „dachte ich“

Gruß
Kasimir

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,

freut mich wenn die Geschichte gefällt, die ist mir so rausgeflutscht, und wenn einem sowas gelingt, machts doppelt Spass.

@Kasimir: Danke für die Hinweise, werde gleich mal verbessern. Den Schluss lasse ich im Präsens stehen, mache aber einen Absatz, um die Gedanken des Protagonisten klar vom Erzählten zu trennen.
Ah ja, wer ist Thomas Bernhard?

 

»Gut, besser als der Chef; dieser Schleimscheißer, der Universitätsjargon ejakulierte, dem beim Aufsagen von Erfolgszahlen einer abging und der einem mit Wörtern wie „Standort“, „Leistung“, „Pflicht“, „Rendite“, „Arbeitsmarkt“, den Tag so richtig schön versauen konnte.«

Hallo Testos,

Du erzählst eine gute Geschichte aus dem Arbeitsleben, die gefällt. Wo keiner einen blassen Schimmer hat, weiß auch niemand, ob jemand was auch immer bekümmert oder ob es alle bekümmert. Jeder behält seinen Protest gegen die Verhältnisse für sich. Daheim ist man der Mensch in der Revolte, nimmt sich vor, was man alles gerne täte, aber vor Ort passt man sich an. Schließlich ist seit Goethens Egmont Ruhe die erste Bürgerpflicht.

Da gibt’s nix zu mäkeln. Bis – vielleicht – auf die Konjunktivkonstruktionen. Warum in einem „literarischen“ Text die Anpassung an den mainstream, wenn’s keine wörtliche Rede ist? Lass da die Rebellion doch beginnen. Schreib nach deutscher, nicht nach denglischer Grammatik, schließlich ist die Sprache der Betriebswirtschaftslehre nicht mehr deutsch, was sie einmal war.

„Gestern rief mich der Chef in sein Büro und fragte, ob ich gerne hier arbeiten würde, …“ Besser: „Gestern rief mich der Chef in sein Büro und fragte, ob ich gerne hier arbeitete, …“, denn anschließend klappt’s doch mit dem Konjunktiv II.

„Und dieser Penner von Chef glaubte tatsächlichKOMMA mir Angst machen zu können. Ich stand unter Beobachtung, er persönlich würde ein Auge auf mich werfen, ich solle mich vorsehen.“ In diesem Fall muss ein Komma vor den Infinitiv gesetzt werden, da der vom Substantiv („Angst“) abhängig ist. Das „würde“ könnte durch ein „werde“ ersetzt werden, je nachdem, wie real oder irreal es wäre, dass das wachsame Auge des Chefs über einen wachte.

Bleibt noch die Frage, ob wir nicht schon alle „ausgehöhlt“, d. h. hohl sind.

Mir gefällt der Text!

Gute Nacht

Friedel

PS: Ist die Frage zu Th. Bernhard ernst gemeint? Österreicher, Schriftsteller & Dramatiker. Einer, der sich mit seiner Schreibe Ärger "einheimste". Für einen Einstieg empfehle ich "Holzfällen".

 

Hallo Friedel,

danke für deine Hinweise. Mit dem "arbeitete" hatte ich so meine Probleme, habe mich dann aber doch entschlossen deinem Rat zu folgen. Und das "werde" - "würde" Ding, hätte mir ruhig auch auffallen können. Nochmal danke!

Ok, ich habe mich ein bisschen über diesen Berhard schlau gemacht, klingt gut. Bei Gelegenheit werde ich mir den guten Mann mal zu Gemüte führen.

Freut mich, wenn's gefällt!

Gruss

Martin

 

Hallo Testos

Gut gebrüllt, Löwe - liest sich flott am Bildschirm. Aber ich lese gerne 2x und dann langsam.
... Universitätsjargon ejakulierte ... wenn Dein Prot so schlau ist, dass er solche Worte kennt, warum dann diesen Job, der ihn so fertig macht? Da höre ich auch immer ein wenig Neid aus der Halle ...
Die Flanschen lagerten im Freien ... - Der Flansch, die Flansche ...
... aber heute war ein „ich sage was ich denke und es ist mir scheißegal Tag“. Ich ließ Hugo stehen und zog die Flanschen in die Halle.
... würde ich mit Bindestrichen verbinden, anstatt in Gänsefüßchen zu setzen ... ich-sage-was-ich-denke-und-es-ist-mir-scheißegal-Tag
... und nochmal Flansche ...
... ausgehöhlt? Mhm - und ich dachte, wir werden vollgestopft mit 300 TV-Programmen, jedes Wochenende ein saufbares Dorffest oder offener Sonntag mit noch mehr Meile und XXL-Mall und Event und 300 Jogurts zur Auswahl bei 30000qm Verkaufsfläche mit 3300€-Anhänger für Bello ... Hauptsache, keiner kommt zum Nachdenken, keiner muckt auf oder - das hast Du treffend beschrieben:
Jeder, der für sich allein bleibt, wird gefürchtet und sei er noch so harmlos, so war es schon immer.
Yeah, diese Systemverweigerer, diese Individualisten ... ekelhaft -
... aber ist das nicht zu viel Schwarz-Weiß? Ist das nicht auch ein Maulen über die eigene Unzufriedenheit? Ist sich eine Zigarette anstecken dort, wo es verboten ist, wirklich ein Affront? Wie ich in den Wald rufe, so schallt´s zurück ...
Nachdenklich mit lieben Grüßen
Detlev

 

Hallo,

danke für euer Interesse und eure Kommentare.

@Detlev: Die Sache mit den Bindestrichen finde ich gut, aber die Gänsefüsschen habe ich noch zusätzlich gelassen und das Wort "Tag" aus dem ganzen rausgenommen. Ich denke, so ist das o.k.
Ich würde den Protagonisten anders interpretieren, aber das ist ja auch klar, ich hatte ja beim schreiben schon ein Bild im Kopf. Auf jeden Fall ist es gut, wenn es dich zum Nachdenken anregt.

@musa: Danke für die Blumen.

Und jetzt, gute Nacht!

Ach Gott, die Flanschen-Sache. :-) Ich habe im Internet herumgesucht, meinen Computer-Duden geschändet und manchmal heissts "die Flansche", manchmal "die Flanschen", aber wie auch immer: Flanschen klingt besser finde ich und deshalb, drauf gepfiffen.

Noch eine Sache. Diesen Satz: "Ich stünde unter Beobachtung, er persönlich werde ein Auge auf mich werfen, ich solle mich vorsehen." habe ich verändert, anstatt, "Ich stand unter..." heisst es jetzt "Ich stünde unter..."
Besser? Schlechter?

So, gute Nacht!

 

Hey Testos,

und? Wie geht's weiter? Klar, cool gemacht. Der Text bedient sich bewährter Mittel und ist gut aber worauf läuft es hinaus? Was passiert? Wo liegt der Sinn?
Die Auflösung wird nicht mehr ausgeführt, sondern nur noch erklärt. Die Bilder verlieren sich in der Selbst-Interpretation. Du schaffst eine gute Figur, ein gutes Szenario für eine Geschichte, aber erzählst die Geschichte dann nicht.
Um das Positive nochmal zu unterstreichen: Gute Figur, gutes Szenario, gute Sprache - aber du fängst leider nichts damit an.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,

danke für deinen Kommentar.
Ich weiß leider nicht, was du mit Auflösung meinst?! Die Geschichte ist nicht darauf ausgelegt aufgelöst zu werden, zumindest nicht vom Autor. Den Sinn soll sich gefälligst auch jeder selbst suchen. :-)

Es freut mich das dir meine Sprache gefällt, ich sehe die Geschichte (und andere, unveröffentlichte) hauptsächlich als eine Übung für meinen größenwahnsinnigen Plan, einen Roman zu schreiben. In diesem Sinne freut mich jede Bestätigung, was das Handwerkliche angeht, weil ich genau dort grosse Zweifel an meinem Können hatte/habe.

Grüße

Testos

 

Hallo Testos,
deine Geschichte keonnte ruhig noch laenger sein, finde ich. Auf jeden Fall feangt sie hervorragend so eine "leck mich am Arsch" Stimmung ein, die wohl jeder nachvollziehen kann, der jemals in einem total bescheuerten Job ausharren musste.
Hat mir gut gefallen, aber was sind "Flanschen" ?

Gruss, sammamish

 

Flansch,

1. ringförmige Platte, die senkrecht auf ein zu verbindendes Teil fest aufgesetzt wird; hauptsächlich als Rohrverbindung (zum Zusammenschrauben); -

2. bei Profilstählen und Stahlträgern der quer zum Steg befindliche Teil.

Gruß aus der alten H(üttenwerk) O(berhausen) AG, an der Thyssen das billige Aufkaufen leidiger Konkurrenten üben konnte, bevor's 20 Jahre später an den Osten ging ...

Friedel

 

Hallo,

danke für das Lob, sammamish. Ich gebe zu, die Geschichte ist sehr kurz, vielleicht sollte man ein neues Genre einführen, "Aphoristische Kurzgeschichte" oder so...naja, sehen wir es mal positiv: man hat's schnell hinter sich.

@Friedel: danke für deine Flansch(en)erläuterung.

Grützi Wohl

Testos

 

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