Vier
„Und wie war’s“, hörte sie die vertraute Stimme ihres Vaters.
Vielleicht hätte sie doch einen Abstecher in irgendein Café machen sollen.
„Scheiße….“
„Das heißt?“, Ihr Vater stand auf der obersten Stufe der Treppe, die in die zweite Etage der Wohnung führte und blickte sie erwartungsvoll an.
„Das heißt, dass ich noch nie in meinem Leben weniger als eine Drei in Deutsch geschrieben habe und nun eine Vier gekriegt habe.“, erklärte sie und hing ihre Jacke auf, zog sich die Schuhe aus, schmiss die Tasche, mit dem gerade erst gekauftem Nachhilfeheft für Deutsch in die Ecke. Dann starrte sie durch die Gitter der Holztreppe ihrem Vater ins Gesicht, bis dieser schließlich das sagte, was sie längst erwartet hatte:
„Und woran lag’s?“
„Vielleicht hab ich mich zu sehr darauf konzentriert gut zu schreiben und dabei den Inhalt vergessen. Wer weiß.“, antwortete sie und fuhr sich durchs Haar.
„Das heißt für dein Zeugnis, dass…?“
„Das heißt, dass ich eine Drei Minus auf dem Zeugnis habe, vorausgesetzt ich habe nicht vor den Deutschunterricht zu leiten. Also muss ich mich wohl damit abfinden.“, mit diesen Worten stürmte sie an ihm vorbei in ihr Zimmer, zog sich ihre Jogging-Sachen an und raste die Treppe wieder herunter.
„Ich geh ne Runde joggen und danach mach ich meine Hausaufgaben und lerne.“, sagte sie bevor sie die Tür hinter sich zuzog und aus den Köpfhörern ihres MP3-Players Musik von Linkin Park dran.
Ungefähr dreißig Meter von der Wohnung entfernt befand sich auf der linken Seite der Straße ein Stück Wald. Ohne das gleichmäßige Tempo zu verlangsamen steuerte sie auf dieses Stück zu und verließ damit ihre gewöhnliche Laufstrecke.
Als sie sicher war, dass sie keiner beobachtete und auch vorbeilaufende Spaziergänger sie nicht entdecken würden, ließ sie sich auf den nass geregneten Boden fallen und vergrub das Gesicht in ihre Hände. Tränen zogen schwarze Linien über ihre Wangen. Die Welt schien immer mehr hinter einem Vorhang von Tränen zu verschwinden.
Einige Minuten saß sie so in dem kleinen Waldstück und weinte allein, sich selbst umarmend.
Niemand würde kommen und sie retten. Zuhause würde ihr Vater auf sie warten, er würde ihr sagen, dass sie sich zu sicher gewesen war, dass all das ärgerlich sei und dass sie sich damit ihre Note versaut hätte.
Nachdem sie sich das angehört hatte, würde sie nach oben gehen, würde duschen gehen und sich dann an ihren Schreibtisch setzen um zu lernen.
Stattdessen saß sie hier, wurde nass geregnet und verwischte mit ihren Tränen ihre Wimperntusche.
Nervös wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte die schwarzen Striemen vom Gesicht zu bekommen.
Sie weinte längst nicht mehr wegen der Arbeit. In Wirklichkeit war sie sich nicht mal sicher, ob sie das überhaupt getan hatte. Sie weinte, weil sie keinen Platz hatte, wo sie hingehen konnte. Weil keiner sie in den Arm nahm. Weil keiner für sie da war. Weil sie einsam war.
Mit einem letzten Schluchzen stand sie auf, strich sich die Tränen aus den Augen und trat auf die nasse Straße. Der Regen prasselte auf ihren Kopf und machte es unmöglich für einen Außenstehenden Tränen von Regentropfen zu unterscheiden.
Aber in Wirklichkeit, dass wusste sie, interessierte es ohnehin keinen. Mit diesem Gedanken setzte sie sich in Bewegung, sprintete die letzten Meter bis zur Haustür, schloss auf und ging an ihrem Vater vorbei der nicht einmal aufblickte.
