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Vietnam

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15.12.2004
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Vietnam

Der Junge sitzt am Tisch und zittert. Er zittert so sehr, dass ihm die Suppe immer wieder vom Löffel in den Teller zurückgleitet. Er schnappt trotzdem danach, er schnappt nach der Suppe, wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Er würde jetzt lieber den Löffel abgeben, als immer weiter so zu zittern. Er kann seinen Vater nicht ansehen, will ihn nicht ansehen. Er weiß ja ohnehin, was passieren wird. Das Gesicht seins Vater wird sich immer mehr röten, bis es so rot ist wie Magma, und dann will es ausbrechen. Sein Vater, ein Vulkan. Die weiten Augen werden sich unter dem Anblick dieses feigen, zitternden Haufen Elend von Jungen immer mehr zu Schlitzen verengen. Und Schlitzaugen, die mögen weder Vater noch Sohn, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen. Die Mutter sitzt wie immer nur da und schweigt. Manchmal, da wird aus dem Schweigen ein Schluchzen, und dann fallen Tränen in die Suppe wie der Regen in den See. Wenn es hart auf hart kommt, wird der Regen aber zu Sturzbächen. Das macht den Vater dann noch wütender. Wütender als wütend sogar. Und dann läßt die Lava des Vulkans die Sturzbäche mit einem Schlag verstummen.
Aber noch ist es nicht soweit. Noch hofft der Junge, dass die Stimmung umschlägt, sein Zittern aufhört. Natürlich hört es nicht auf! Nichts hört auf! Alles macht weiter. Es geht immer voran. Man muss nach vorne schauen, da darf man nicht stehenbleiben. Wer rastet, der rostet. Die Sturzbäche fließen im Anblick des zitternden Jüngelchen los... Niemals wird die Stimmung umschlagen, aber der Vater, der schlägt jetzt um sich. Zack! Eine Ohrfeige für die heulende Ehefrau. Die will im Bett die Beine nicht mehr breit machen und muss von ihrem Glück überzeugt werden! Ehe, Ehe, kann man das noch Ehe nennen? Eher zerbricht alles. Genau wie die Vase, die der Vater gegen die Wand schleudert! Chinesisches Porzellan, pah! Elende Schlitzaugen! Ob China oder Vietnam. Wen interessiert das schon! Im Krieg sind alle gleich. Man unterscheidet ja auch nicht zwischen verschiedenen Unkraut-Sorten! Der Hund unter dem Tisch bellt, die Vase zerschellt, er geht voran, immer Richtung Sohn. In Richtung des schlürfenden, zitternden, feigen Sohn. Da stellt sich niemand in den Weg. Auch nicht die kreischende Ehefrau. „Du Schwein! Lass ihn in Ruhe!“ Auch die zweite Ohrfeige sitzt wie angegossen. Die Ehefrau und Sexualpartnerin wieder Willen wird gegen die Wand geschleudert. Zum Pech für sie leider mit dem Kopf zuerst. Selbst schuld, diese Frauen, wollen ja immer mit dem Kopf durch die Wand! Sie schlägt mit dem Kopf an, taumelt, wirkt angeschlagen, geht zu Boden. Doch ist niemand da um sie auszuzählen. Egal, K.O. in der ersten Runde! Auf dem Boden liegend wirkt sie nun, als würde sie ruhig schlafen.
„Die soll schlafen!“ denkt er, „Aber nur bis zum Schlafengehen!“ Unsereins macht ja auch kaum Pausen. Im Krieg, da gab es überhaupt kaum Pausen! Der Feind schläft nicht! Es geht immer weiter. Immer weiter voran! Da ist er, der kleine, unschuldige Bengel! Sitzt da einfach in der Ecke und zittert wie Espenlaub! Der Junge ist Espenlaub, aber die Hand des Vaters, die ist Agent Orange! Paff! PAFF! „Hör auf so zu schreien!“ Halt, Moment mal! Der Vater erkennt seine eigene Worte wieder. Aber sie sind ihm fremd, es sind gar nicht seine eigenen Worte! Dem Kriegsveteran, dem Fremden im eigenen Land, werden auch noch seine eigenen Worte fremd.
„Hören Sie auf so zu schreien!“ hat der Arzt gesagt. Das hat er gesagt, aber gemacht hat er etwas ganz Anderes, amputiert nämlich, und zwar den gesamten linken Arm! „Das machen wir doch mit links, haha!“ Ja, das hat er wirklich gesagt. „Mit links!“ Befohlen und amputiert hat er, Männer können eben doch mehrere Sachen gleichzeitig! Der Junge aber, der schreit weiter, wie am Spieß schreit der. Er schreit um sein Leben.
Genau wie damals der Kamerad des Vaters im Dschungel. Schlitzaugen! Verstecken sich oben im Baum, springen auf einen herab und wagen es auch noch, einen als Geisel zu benutzen! Die Rettung naht. Das heißt, sie wäre in der Nähe. Die Army ist immer in der Nähe! Immer bereit Menschenleben zu retten! Aber die Vietnamesen, die Schlitzaugen, die wollen gar nicht gerettet werden. Die wollen nur das der Vater und sei Kamerad ganz, ganz still sind. Deswegen halten sie ja auch ganz dezent den beiden Kameraden ihre schicken Messer an den Hals. Der Vater hält die Klappe, der hat's kapiert, am liebsten würde er auch noch die Klappe des Kameraden halten. Aber nein, der schreit weiter, wie am Spieß schreit der um sein Leben! Da nimmt dieses Schlitzauge einfach sein Messer und schneidet dem Kameraden des Vaters die Zunge heraus. Und der Vater, der muss zuschauen. Niemand darf wegsehen! Ein Schnitt wie aus dem Bilderbuch, wenn auch aus einem sehr brutalen, sanft und präzise. Da kann die Zunge zucken soviel sie will!
Und da soll man Mensch bleiben! Da soll man vor dem zitternden, schreienden Jungen stehen und nicht zuschlagen! Hier bist du Mensch, hier sollst du's auch noch sein. Der Vater schlägt nicht, nein, er tritt zu. Er tritt zuerst den Jungen und dann aus dem Zimmer hinaus. Die Lava rauscht aus dem Haus hinaus, um sich draußen im Schnee ein wenig abzukühlen. Der Vulkanausbruch ist vorbei! Wir sind gerettet, zunächst einmal jedenfalls! Zurück bleiben ein heulender Sohn, der sich vor Schmerzen nur so krümmt und eine schlafende Mutter. Verwundet, aber längst nicht am Ende. Der Feind aber, der ist endlich geflohen!

 

Hallo Jack K.

Er tritt zuerst den Jungen und dann aus dem Zimmer hinaus.
Dies ist die einzige Doppelbedeutung eines Begriffs, die ich innerhalb des Textes nicht gelungen fand. Ihr fehlt das Doppelbödige der anderen dieser "Wortspiele".
Ansonsten finde ich die Geschichte sehr gelungen.
Vietnam ist als der Krieg bekannt, bei dem die Traumatisierungen der Soldaten am Nachhaltigsten waren. Vielleicht liegt es daran, dass die Soldaten künstlich über die eigenen Hemmschwellen manipuliert wurden, vielleicht auch daran, dass sie als Helden gingen und nach den Grauenserlebnissen, nach Todesangst und unfassbaren Leiden als Arschlöcher wieder empfangen wurden.
Die psychologischen Auswirkungen des Krieges sind natürlich auch bei allen anderen Schlachten entsetzlich.
Einige kleine Schönheitsfehler:
Die Ehefrau und Sexualpartnerin wieder Willen wird gegen die Wand geschleudert
Die wollen nur, dass der Vater und sein Kamerad ganz, ganz still sind
Lieben Gruß, sim

 

Hi Jack K.!

Da kann ich mich meinen Vorrednern nur anschließen. Du erzählst von den brutalisierenden Auswirkungen, die der Krieg auf die Krieger hat.
Natürlich kannst du kein Psychogramm erstellen von einem, der aus dem Krieg heimkehrt, sondern verwertest im Text angelesenes Wissen. Neu ist die Thematik auch nicht.
Aber aktuell ist sie. Und die Umsetzung ist dir gelungen.

Das Problem des Textes besteht mE darin, dass die Perspektiven unklar sind. Du wechselst immer zwischen dem Sohn und dem Vater hin und her, und als Leser weiß man nie so genau, aus wessen Sicht du gerade erzählst.
Versuche am besten, den Perspektivenwechsel kenntlich zu machen, indem du doppelte Absätze einfügst. Das ist deshalb wichtig, weil jede Figur die Geschichte anders erlebt und es vorteilhaft ist, wenn der Leser wirklich in den Kopf dieser Figuren schlüpfen kann.

Ciao, Megabjörnie

 

Ja, das schon. Die Frage ist nur, wie wendet man den auktorialen Erzähler an? Mich persönlich haben die willkürlichen Perspektivenwechsel verwirrt. Aus wessen Sicht wurde welches Detail erzählt? Beim zweiten Lesen wird das zwar immer deutlich, aber der Autor will doch nicht, dass sich der Leser damit aufhält.
Außerdem wirkt der Text viel mehr, wenn der Leser in die Perspektive einer Figur hineinschlüpft, anstatt über allem zu schweben.
Das ist ja auch der Grund, weshalb allgemein davon abgeraten wird, innerhalb einer Szene die Perspektive zu wechseln.

 

Jaja, das schon. Aber der Autor hat hier die Möglichkeit, die Perspektiven säuberlich nacheinander zu beleuchten, jedem eine Szene zu widmen.
Der dauernde Wechsel ist deshalb verwirrend, weil die Perspektive ja auch die Wahrnehmung beeinflusst. Die Sätze sind allerdings vielfach wohl bewusst neutral gehalten, weil dadurch der Eindruck entsteht, es sei egal, wessen Sicht der Leser gerade einnimmt. Das relativiert die Verwirrung natürlich. Manchmal bin ich aber auch da nicht sicher. Ist das Bild vom feigen Häufchen Elend nur die Wahrnehmung des Vaters oder hat der Sohn diese übernommen?
Ich bin emotional so weniger dabei. Ich beobachte mehr oder weniger aus der Distanz und sage dann: "Ja, schlimm, wie es um diese Vietnamveteranen steht. Zum Glück bin ich das nicht."
Behält der Autor eine Perspektive bei, kann er tiefer in die Seele einer Figur blicken, und der Leser wird die Geschichte nicht so einfach aus der Hand legen können, weil er mehr gespürt hat. Dann setzt er sich auch eher mit dem Thema auseinander.

Ich plädiere dafür, die Perspektive nur zweimal wechseln zu lassen: Erst kommt die Wahrnehmung des Sohnes bis zur Ohrfeige. Dann die des Vaters, bis er ihn tritt.
Dann wieder die des Sohnes, als der Vater den Raum verlässt.
Anfang und Schluss funktionieren eben am besten aus der Perspektive des Jungen, und der Vater nimmt eh den größten Teil dazwischen ein. Es müsste nicht sehr viel umgeschrieben werden.

 

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