Virus
Nervös saß Uni auf seinem Stuhl und wartete darauf, dass er aufgerufen wird.
In letzter Zeit war er oft hier gewesen und jedes Mal unbefriedigt nach Hause gegangen.
Wie viel Zeit er schon in diesem Raum verbracht hatte, endlose Minuten und Stunden, die ihm nichts und Niemand wiedergeben konnte.
Immer, wenn er diesen Ort verließ, sagte er sich, dass er sich beim nächsten Mal eine Beschäftigung mitnehmen würde, aber bisher hatte er es immer vergessen, und so saß er nun da und starrte an die Decke mit ihren kleinen Rissen und Löchern.
Er versuchte, seine Gedanken abschweifen zu lassen, zu einem schöneren Ort, an die sorglosen Tage seiner Kindheit, doch er schaffte es nicht, diese unterschwellige Angst abzulegen, sie überlagerte ihn wie ein modriges Tuch, und bei jedem Atemzug schmeckte er dessen Fäulnis auf seiner Zunge. Er hatte Angst um sein Leben.
Die Lautsprecher knackten, und eine gelangweilte, männliche Stimme forderte ihn auf, sich in Zimmer Acht zu begeben.
Das Gesicht zu dieser Stimme hatte er noch nie gesehen, aber er fragte sich, wie oft er sie noch würde hören müssen, bis dies hier endlich vorbei war.
Er stand auf und begab sich zu Zimmer Acht, es lag links den Flur hinunter. Eine ganze Weile musste man gehen, und trotz der guten Beleuchtung fühlte er sich, als würde er eine Höhle betreten, die er nie mehr verlassen würde.
Als er das Zimmer betrat, wartete der Doktor bereits auf ihn. Ohne ein Wort zu sagen deutete er ihm, Platz zu nehmen.
Uni ließ sich auf den schweren Stuhl fallen und blickte den Doktor ängstlich und erwartungsvoll an.
Der Doktor war schon etwas älter, wirkte aber keineswegs gutmütig, sondern einfach nur alt.
Verrunzelt, tiefe Krater zogen sich durch seinen Körper, man konnte meinen, er wäre bereits Millionen von Jahren alt.
Uni hatte sich beim ersten Mal gedacht, dass an der Freundlichkeit eines Arztes kaum seine Kompetenz gemessen werden könne, deswegen vertraute er dem Doktor voll und ganz.
„Tja…“, sagte der Doktor und blätterte in seiner Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag, „es tut mir wirklich Leid Uni, aber ich habe so etwas wirklich noch nie erlebt. Diese Art von Krankheit ist völlig neuartig, ich habe mit Kollegen gesprochen, mir Rat eingeholt, aber keiner von ihnen hat jemals einen Patienten gehabt, der auch nur ansatzweise deine Symptome aufweist“.
Der Doktor lehnte sich zurück und sah Uni über die Akte hinweg kritisch an.
„Ich bin mir einfach nicht sicher. Wie haben nun wirklich alle notwendigen Untersuchungen gemacht“, fuhr er fort, „und ich denke, dieser Virus ist äußerst resistent. Keine von den probierten Therapien hat eine dauerhafte Wirkung erzielt.“
Das stimmte allerdings. Uni hatte unzählige, teils sehr schmerzhafte Dinge über sich ergehen lassen und jedes Mal gehofft, es würde endlich besser werden. Sie hatten versucht, das Organ zu „fluten“ und somit die bösartigen Zellen zu vernichten, sie hatten es mit Feuer probiert, mit Druck, mit Wärme, mit Kälte. Und es hatte auch gewirkt, viele der aggressiven Zellen starben ab, aber trotzdem hatten sich wieder gute angefangen zu verändern und vor allem sich zu vermehren.
„Das einzig Gute an der Sache ist“, sagte der Doktor und beugte sich zu ihm vor, „es ist wirklich nur dieses eine Organ befallen. Und Sie können gut und unbeschwert ohne es auskommen.“
„Wird das denn wirklich nötig sein? Müssen wir es wirklich entfernen?“, fragte Uni zaghaft.
„Ich fürchte, da werden wir nicht drum herum kommen“, sagte der Arzt, „momentan ist zwar nur diese Stelle befallen, aber es könnte sich auf die Dauer auch auf die anderen Organe ausbreiten, ich würde dieses Risiko ungern eingehen. Auch wenn mir das alles völlig fremdartig ist, halte ich dies doch für die beste Lösung.“
„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Uni besorgt. „Wie kann denn das passieren? So wie ich das verstanden habe, waren diese Zellen doch schon ewig lange da, und Sie haben dem Organ doch gut getan. Sie haben es quasi ‚bewirtschaftet’, sich drum gekümmert, ihm beim Wachstum geholfen. Und dann drehen sie sich langsam um und zerstören das Organ, ihren Lebensraum? Sie vernichten sich gegenseitig? Das ist doch völlig sinnfrei“, sagte er bestürzt.
„Genau diese Dinge habe ich mich ja nun auch gefragt“, erwiderte der Doktor angespannt, „aber wir haben die Zellproben eingehend untersucht und haben lediglich festgestellt, dass sie aus irgend einem Grund nicht mehr hauptsächlich gutartig sind. Zu Ihrem eigenen Wohlbefinden würde ich Ihnen raten, die Operation möglichst schnell angehen zu lassen.
Ich glaube wirklich, dass wir danach keine Schwierigkeiten mehr haben werden, Sie werden völlig schmerzfrei sein. Es ist auch kein großer Eingriff, den können wir ambulant vornehmen.“
„Also gut, ich möchte endlich, dass diese Schmerzen und diese Unsicherheit vorbei sind“, sagte Uni überzeugt. „Sie sagen ja, dass es nicht lebensbedrohlich ist, dann nehmen Sie das verdammte Ding raus, dann ist hoffentlich Ruhe.“.
„Gut, wir werden das Organ nach dem Eingriff dann noch einmal einschicken, vielleicht finden wir dann noch ein paar Antworten. Lassen Sie sich doch bitte vorne einen Termin geben und keine Angst, die Operation ist wirklich ganz harmlos.“
Der Doktor erhob sich nicht, sondern deutete nur auf den Ausgang.
Uni stand auf und verabschiedete sich etwas erleichterter.
Er ging den Gang zurück und blieb vor dem grauen Kasten am Ausgang stehen.
„Einen Termin bitte“, sprach er, und die gelangweilte, männliche Stimme machte ihm blasiert einen Vorschlag, den er zustimmend annahm.
Auf dem Heimweg dachte er darüber nach, wie wohl er sich fühlen würde, so ganz ohne das kranke Organ. Vielleicht wäre er endlich nicht mehr so kränklich, sondern strahlend wie zuvor. Er würde keine Schmerzen mehr haben und die Enttäuschung über die dämlichen Zellen wäre sicher bald vergessen.
„Wer braucht schon die verdammte Erde?“, fragte sich Universum und dann ging er fröhlich pfeifend nach Hause.