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Viviana
Das Antiquitätengeschäft lag ein wenig abseits des lebhaften Stadtzentrums in einer kleinen Seitenstraße. Eingezwängt zwischen tristen Mietshäusern wirkte es unscheinbar. Die Fassade war renovierungsbedürftig und das Schaufenster schmutzig. Jennifer Clark hatte den heißen Tipp von ihrer Freundin Ruth bekommen, die ihre Leidenschaft für antike Möbel teilte; ein wirklich vielversprechender Hinweis, wie sich herausstellte. Mit großem Entzücken entdeckte Jennifer in der fantasielos dekorierten Schaufensterauslage einen herrlichen alten Sekretär. Es war kaum zu glauben. Ausgerechnet hier stieß sie auf ein derart interessantes Kunstwerk! Der Nachmittagsspaziergang, zu dem sie mit ihrem Mann Frank und ihrer Tochter Sarah aufgebrochen war, endete dann erst einmal vor diesem Laden. An Jennifers Begeisterung konnte Frank Clark sofort erkennen, dass sie ein besonders wertvolles Stück gefunden hatten, und er wusste, dass es seiner Frau bereits gehörte, noch bevor sie das Geschäft betraten.
Die in dem dunklen und schmuddeligen Verkaufsraum etwas eingeschüchterte Sarah fest an seiner Hand haltend, überließ der geduldige Mann seine kunstbesessene Frau und den Antiquitätenhändler dem Ritual des unvermeidlichen Verkaufsgesprächs. Ohne große Ambitionen durchstöberte er seinerseits einige Regale, auf denen sich, so stellte er schnell fest, überwiegend billiger Plunder und viel Kitsch angesammelt hatte. Viel Masse, wenig Klasse - mit Ausnahme des Sekretärs natürlich, in den sich Jennifer auf Anhieb verliebt hatte.
Die zehnjährige Sarah überwand langsam ihre anfängliche Scheu vor der düsteren und muffigen Atmosphäre, entzog sich mit einer flinken Bewegung dem Schutz der väterlichen Hand und begab sich auf ihre eigene zaghafte Entdeckungsreise.
Als sie zurück kam, hielt sie plötzlich eine Puppe schützend an sich gepresst, als habe sie ihr verloren geglaubtes Kind wieder gefunden. Dem aufmerksamen Vater entging nicht das begeisterte Funkeln in ihren Augen. Es war exakt derselbe Ausdruck, der die Mutter beim Anblick von Gegenständen befiel, für die sie sich interessierte. Es erstaunte und rührte ihn gleichermaßen, diese eindeutige Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter festzustellen. Aber zugleich beunruhigte es ihn auch ein wenig.
Diese Mischung aus überschäumender Begeisterung verbunden mit dem eisernen Willen, etwas unbedingt besitzen zu müssen, hatte Frank bisher bei Jennifer immer nur schwer nachvollziehen können. Wenn seine Tochter jetzt schon die gleichen Eigenschaften entwickelte, war zukünftig bei ihrer Erziehung zweifellos mit härteren Konflikten zu rechnen.
Mit energischem Tonfall (Sarah war es nicht gewohnt, ihren Vater so streng reden zu hören) forderte Frank seine Tochter auf, die verschmutzte und abstoßend hässliche Puppe wieder dorthin zu bringen, wo sie gelegen hatte. Er begründete es mit der Erklärung, Sarah könne sich ihr helles Sommerkleid damit beschmutzen. Das Mädchen lehnte mit heftigem Kopfschütteln energisch ab. Es schien so, als hätte Frank etwas völlig Unmögliches von ihr verlangt. Eine ähnliche Reaktion hätte er wohl bei Jennifer ausgelöst, wäre er auf die absurde Idee gekommen, ihr von dem Kauf des Sekretärs abzuraten. Sarah suchte instinktiv Schutz bei ihrer Mutter. Sie besaß ein ausgeprägtes Gespür dafür, in welcher Situation sie sich mit welchem Elternteil verbünden musste, wenn es darum ging ihren Willen durchzusetzen.
Jennifer war sich mit dem Händler überraschend schnell einig geworden, und offensichtlich zu ihren Bedingungen, denn ihr Lächeln drückte tiefe Zufriedenheit aus. Natürlich rannte Sarah in solchen Augenblicken des Erfolges bei ihrer Mutter offene Türen ein, wenn sie gerade jetzt artig und sehnsüchtig um diese kleine Puppe bat. Von der Euphorie über den günstigen Gelegenheitskauf einer kostbaren Antiquität milde gestimmt, brachte Jennifer für ihre mit allen Raffinessen bettelnde Tochter großes Verständnis auf. Obwohl sie durch einen kurzen Seitenblick bemerkte, wie wenig Frank von Sarahs Wahl begeistert war, und ihr die Puppe ebenfalls nicht sonderlich zusagte (sie hatte erste Schmutzspuren auf dem Kleid hinterlassen), stieg sie sogleich in das nächste Verkaufsgespräch ein. Sie schien sich auch in diesem Fall ihrer Sache sicher zu sein. Der Antiquitätenhändler machte allerdings überhaupt nicht den Eindruck, die Puppe verkaufen zu wollen, was Frank mit Freude, aber auch mit einem gewissen Erstaunen, zur Kenntnis nahm. Was war denn schon dran an diesem kleinen Monstrum, das den alten Mann davon abhalten könnte, es für einen guten Preis wegzugeben? Er sollte doch froh sein, ein weder ansehnliches noch offensichtlich wertvolles Objekt loszuwerden! Warum wirkte der Händler plötzlich so nervös und angespannt, da es um diese alberne Puppe ging? Und warum begannen seine müden Augen auf einmal so hektisch zu blinzeln, während seine Stimme Jennifer leise, aber eindringlich vom Kauf abzuraten versuchte?
Das Feilschen um Sarahs Puppe (natürlich war es von dem Moment an ihre Puppe, als Jennifer den Händler darum bat, sie ihr zu verkaufen - trotz der merkwürdig ablehnenden Haltung des Mannes) gestaltete sich schwieriger und zeitaufwendiger als der vorausgegangene Handel um den Sekretär. Dabei ging es ja nicht einmal um einen akzeptablen Preis, sondern nur darum, einen sturen alten Mann dazu zu bringen, überhaupt zu verkaufen. Das beflügelte Jennifers Ehrgeiz zusätzlich. Frank irritierte das sonderbare Verhalten des Händlers. Es verstärkte seine intensive Abneigung gegen die Puppe, der zu allem Überfluss noch ein Auge fehlte. Es dauerte erstaunlich lange, bis Jennifer ihr Ziel, oder besser gesagt, das Ziel ihrer Tochter, erreichte. Als schließlich feststand, dass Sarah dieses kleine, einäugige und teuflisch grinsende Ding mitnehmen durfte, glaubte Frank in der faltigen Miene des Verkäufers den Ausdruck größter Besorgnis, vielleicht sogar Angst, zu erkennen. Mit einem unguten Gefühl folgte er Frau und Tochter aus dem Geschäft.
Zu Hause bemühte sich Jennifer sofort darum, die Puppe zunächst einmal gründlich zu reinigen. Sie wurde abgeseift und mit einer Bürste kräftig geschrubbt. Aber selbst der Versuch, die borstigen und verfilzten Haare mit einem Kamm in eine ansehnlichere Form zu bringen, scheiterte kläglich. Jede Bemühung, der Puppe ein besseres Aussehen zu verleihen, schlug fehl: Sie war und blieb hässlich.
“Ich werde sie Viviana nennen“, verkündete Sarah ihren Eltern stolz. “Sie hat mir verraten, dass sie so heißt.“
Jennifer lächelte verständnisvoll. Frank lächelte gequält. Während sie am Abend bei einem Gläschen Rotwein den Tag ausklingen ließen, fand Jennifer Gründe genug, die Haltung ihrer Tochter zu erklären.
“Du musst zugeben“, sagte sie zu Frank, der Mühe hatte, sich auf seine Zeitung zu konzentrieren, “dass es ein sehr lobenswertes Verhalten von Sarah ist, wenn sie sich für etwas begeistern kann, was eben einmal nicht der üblichen Norm entspricht. Ob uns das nun gefällt oder nicht. Unsere Tochter hat ihr Herz für Außenseiter entdeckt. Für eine armselige und hässliche Kreatur. Sollen wir sie deshalb etwa tadeln? Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde ihr Verhalten rührend und lobenswert.“
Frank, der eine Menge dazu hätte sagen können, verzog nur mürrisch das Gesicht und schwieg. Mittlerweile kam es ihm lächerlich vor, an dieses Thema noch mehr Zeit und Worte zu verschwenden. Bei der nächsten Gelegenheit, wenn Sarah ihr kindlich übersteigertes Interesse an der Puppe verloren hatte, wollte er die grässliche Viviana heimlich auf dem Müll entsorgen. Sarah würde es wahrscheinlich gar nicht bemerken, hatte sie doch genug andere Puppen, mit denen sie spielen konnte; hübsche, saubere Puppen mit glänzenden Haaren, freundlichen Gesichtern, lustigem Lächeln, netten Kleidern und ZWEI Augen! Spätestens dann würde das lästige Theater beendet sein. Diese Gedanken beruhigten ihn.
Gleich in der folgenden Nacht nach diesem unglückseligen Kauf quälte Frank der erste Alptraum. Und weitere folgten. Nacht für Nacht! Sie alle drehten sich ausnahmslos um die verdammte Puppe. Und alle Träume waren erschreckend klar, bedrohlich, grausam und dabei so furchterregend, wie Frank es seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte, seit jenen Nächten, in denen ihn ekelhafte Gestalten durch bizarre Welten gehetzt hatten. Mit bleischweren Beinen hatte er ihnen kaum zu entkommen vermocht. Und erst wenn sich ihre scharfen Klauen nach ihm ausgestreckt hatten, war es ihm gerade noch im letzten Augenblick gelungen, ins Erwachen zu flüchten. Für einen erwachsenen Menschen sollte es normalerweise keine Träume mehr geben, in denen teuflische Monster ihr Unwesen trieben. Aber nun war das Grauen da. Und es besuchte ihn regelmäßig. Immer wieder sah er die Puppe, wie sie auf ihren kleinen dicken Beinen durch das Haus schlich, langsam und vorsichtig von Zimmer zu Zimmer, abgrundtief hässlich und mit boshafter Heimtücke.
Die starren Finger verwandelten sich in zuckende Krallen. Spitze Zähne blitzten in dem sich langsam öffnenden Mund auf. Und ihr Auge leuchtete gemein und mordlustig. Manchmal stieß sie ein heiseres und unmenschlich klingendes Lachen aus. Mit flinken Bewegungen huschte sie durch die Räume des dunklen Hauses und tat scheußliche Dinge an seinen Bewohnern. Einige dieser Träume erschienen Frank am nächsten Tag so real, dass er noch lange daran zweifelte, nur geträumt zu haben.
Eines Nachmittags betrat er aufgewühlt und nervös Sarahs Zimmer. Er fand Viviana auf dem kleinen Sessel am Fenster sitzend, genau dort, wo sonst nur Sarahs Lieblingsteddy Ted thronen durfte (sie hatte Ted von ihrem Vater zum zweiten Geburtstag bekommen, und seitdem war der freundliche Bär ihr liebster Spielkamerad gewesen, was Frank natürlich immer mit besonderem Stolz erfüllt hatte).
Vivianas Puppenauge verhöhnte Frank, der ratlos im Zimmer stand und sich nach Ted umsah. Ohne Frage, die Puppe starrte ihn an. Sie schien sogar auf ihn gewartet zu haben. Für einige Sekunden glaubte er, ein triumphierendes Grinsen in ihrer Fratze auszumachen. Als er dastand und die Puppe fixierte, schien er von ihr hypnotisiert zu werden. Tatsächlich verlor er für Sekunden jede Gewalt über seine Gedanken, fühlte sich hilflos einer Macht ausgeliefert, die ihn - wenn sie es gewollt hätte - auf der Stelle hätte vernichten können. Ein eisiger Schauer des Entsetzens ließ ihn frösteln. Am liebsten hätte er die Puppe auf der Stelle gepackt und zerstört. Sofort. Hier und jetzt! Da nahm er hinter sich ein Geräusch wahr, bemerkte, als er sich umdrehte, seine kleine Tochter, die ihn traurig ansah.
“Warum magst du Viviana nicht, Dad?“, fragte sie bekümmert.
“Sie ist mir egal, Schatz, völlig egal. Bin nur zufällig ... ich suche deine Mutter ... weißt du, wo sie ist?“
“Unten in der Küche. Die ganze Zeit schon.“
Sarah ging an ihm vorbei und stellte sich neben den Sessel, so als müsse sie ihre Puppe vor einem möglichen Angriff des Vaters beschützen.
“Viviana mag dich auch nicht, Dad!“ Die Stimme des Mädchens klang erschreckend kalt. “Sie weiß genau, dass du ihr wehtun willst. Sie hat es mir gesagt.“
“Blödsinn“, murmelte Frank. “Wie kommst du nur auf so was?“ Er wollte das Zimmer schon wieder verlassen, besann sich jedoch noch einmal anders und wandte sich um. Forschend richtete sich sein Blick auf die unverändert abwartende Sarah. “Was ist mit Ted geschehen? Wo ist er?“
Sarah gab keine Antwort.
“Hat diese verdam..., ich meine, hat deine Puppe jetzt auch schon Ted von seinem Stammplatz vertrieben?“ fragte er und war bemüht, seine Stimme möglichst beiläufig klingen zu lassen. Dennoch fühlte er sich bei dieser Frage, kaum dass er sie ausgesprochen hatte, ziemlich albern.
“Was meinst du damit, Dad?“
“Nun, ich sehe diese ... diese Puppe auf dem Sessel sitzen. Sie sitzt genau dort, wo sonst nur dein Teddy sein durfte. Du hast sie dort hingesetzt, oder etwa nicht?“
Mit großen, unschuldigen Augen musterte Sarah ihren Vater. “Ich habe Viviana nicht dorthin gesetzt. Das hat sie selbst getan.“
Als Frank die Treppe hinunterstieg, war er auf seine Tochter zum ersten Mal wütend genug, ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen. Nur mühsam war es ihm gelungen, diesen Drang noch im letzten Moment zu zügeln. Fast wäre es soweit gekommen, und das alles nur wegen einer Puppe. Lächerlich!
Jennifer fand den Teddy Ted am nächsten Tag zufällig im hintersten Winkel von Sarahs Wandschrank. Dort, wo sich einst der freundliche Bärenkopf befunden hatte, quoll nur noch Holzwolle aus dem kleinen braunen Rumpf. Die Frage, wie es dazu gekommen war, beantwortete Sarah mit gleichgültigem Achselzucken. Von Teds Verstümmelung zeigte sie sich wenig berührt. Den Teddykopf fand Jennifer wenig später unter dem Bett. Er hatte keine Augen mehr. Sie waren nirgends zu finden. Jennifer gab es bald auf, weiter danach zu suchen. Sie von diesem Ereignis leicht beunruhigt, aber im Vergleich dazu grenzte Franks Reaktion darauf an Panik. Er benahm sich so, als wäre ein Mitglied der Familie ermordet worden, machte seiner Tochter die heftigsten Vorwürfe und brachte sie sogar zum Weinen. Jennifer musste einschreiten, um größere Zerwürfnisse in dem Verhältnis zwischen Vater und Tochter zu verhindern. Aber Frank ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht länger gewillt war, Sarahs intensive Bindung (er nannte es “krankhaft“) zu der Puppe hinzunehmen.
In diesem Zusammenhang kam ihm Jennifers anstehende Geschäftsreise gerade recht. Die beiden folgenden Tage nahm er sich frei, um Sarah beaufsichtigen zu können. Gleichzeitig fasste er den unumstößlichen Entschluss, diese zwei Tage für die Vernichtung der Puppe Viviana zu nutzen, ganz egal, welche Auswirkung das haben mochte. Wenige Stunden nach Jennifers Abreise kam es gleich zu dem ersten Streit zwischen der sturen Sarah und ihrem überreizten Vater. Aus einer harmlosen Widerrede des Mädchens entwickelte sich eine heftige Auseinandersetzung in bisher noch nie da gewesener Schärfe.
Im Verlauf des Streites riss Frank seiner Tochter plötzlich wutentbrannt die stets allgegenwärtige Puppe aus den Händen. Gänzlich ohne jede Beherrschung, wie es sonst nicht seine Art war, schleuderte er das Objekt seiner Verärgerung quer durch das Zimmer gegen die Wand. Im gleichen Augenblick schrie Sarah schmerzerfüllt auf, als würde sie den harten Aufprall am eigenen Leibe spüren. Dann begann sie herzzerreißend zu weinen. Schon im nächsten Moment bereute Frank seine Überreaktion. Schnell nahm er seine hemmungslos schluchzende Tochter in die Arme und versuchte sie zu trösten. Dabei stammelte er unbeholfen Worte der Entschuldigung. Verlegen suchte sein Blick Viviana. Die Puppe lag mit seltsam verrenkten Gliedern auf dem Fußboden. Jetzt hatte sie auch noch ihr anderes Auge verloren. Funkelnd starrte es Frank vom Teppich aus an – bedrohlicher als jemals zuvor. Eine jäh in ihm aufsteigende Furcht schnürte ihm die Kehle zu.
“Gleich morgen werde ich das reparieren lassen“, versprach er Sarah. “Sie wird zwei wunderschöne neue Augen bekommen.“
Zärtlich streichelte er seiner Tochter über das seidige Haar. Sie schluchzte noch immer und machte nicht den Eindruck, dass Franks Worte sie sonderlich trösten konnten.
“Sie ist jetzt sehr, sehr böse auf dich“, stieß das Mädchen nach einer Weile stockend hervor. “Ganz schrecklich böse, Dad. Ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal beruhigen kann.“
In Frank wuchs die Befürchtung, seine Tochter sei auf dem besten Wege, schizophren zu werden. Irgendetwas (mit großer Wahrscheinlichkeit eine seltsame Beeinflussung durch die Puppe) hatte in Sarahs Inneren eine Tür geöffnet, durch die er ihr nicht folgen konnte. Der Raum, den sie betreten haben musste, schien vom Wahnsinn vermietet zu werden.
Bestimmt war dieser Zwischenfall der Grund für einen besonders furchtbaren Traum, von dem Frank noch in der gleichen Nacht heimgesucht wurde. Grauenhafte Bilder wüteten in seinem Kopf. Und nachdem er aus den Tiefen des Horrors hochgeschreckt war, saß er minutenlang benommen in seinem Bett und hoffte, dass sein Herzschlag sich wieder normalisierte. Einem Echo ähnlich kehrten immer wieder Bildfetzen seines Traumes in seine Gedanken zurück, düstere Erinnerungen an seinen nächtlichen Ausflug in die Hölle: das leise Quietschen von Sarahs Kinderzimmertür ... sein angestrengtes Lauschen in die unheimliche Dunkelheit der Wohnung ... Muskeln, die sich in Blei verwandelten ... die wilden Hammerschläge des Pulses in den Ohren ... blutiges Grinsen ... kleine, spitze Zähne ... wirres Gebrabbel und Gelächter...
Die Schlafzimmertür öffnet sich nur einen kleinen Spalt - viel zu klein für Sarah, aber groß genug für...
Bittend flüstert Frank den Namen seiner Tochter, weil er einfach glauben will, dass sie ins Zimmer gekommen ist, sie und niemand anderes. Welche logische Erklärung sollte es denn sonst geben? Sein ängstlicher Ruf bleibt unbeantwortet. Eindeutige Geräusche aber lassen keinen Zweifel daran, dass etwas oder jemand in seinem Schlafzimmer ist. Ganz in seiner Nähe.
Leises Scharren ist zu hören. Etwas bewegt sich ohne Eile über den Teppichboden auf sein Bett zu. Scheinbar ist es ein kleiner, schwerfälliger Körper, der sich nur mühsam voranschleppen kann. Begleitet von diesem rhythmischen Klappern, ein Geräusch, das Frank unangenehm vertraut ist. Nur im Moment kann er es nicht zuordnen. Hört er jetzt nicht sogar ganz in seiner Nähe leise Atemzüge und ein aufgeregtes Kichern und Murmeln, das so fremd klingt, als habe sich direkt neben seinem Bett die Hölle geöffnet, um eine ihrer schlimmsten Kreaturen zu senden?
Seufzend und keuchend zieht es sich auf das Bett hoch und kriecht zu ihm, der noch immer zu keiner Bewegung fähig ist, unter die Bettdecke. Aufreizend langsam. Das Grauen hat keine Eile. Es will Frank jede Sekunde der Angst leiden lassen. Dann berühren ihn winzige Hände. Sie gleiten an seinem Schenkel entlang. Sie bewegen sich fast so, als wollten sie ihn liebkosen. Erst als sie sich schmerzhaft in sein Fleisch bohren, als die scharfen Krallen in seine Bauchdecke eindringen, findet Frank die Kraft, sich mit einem Schrei aus der eisigen Umklammerung seines Alptraumes zu lösen.
Da saß er nun in seinem zerwühlten Bett und zitterte, ohne zu frieren. Sein Oberkörper war mit kaltem Schweiß überzogen. Seine Sinne blieben misstrauisch und angespannt. Noch war er nicht sicher, dass er tatsächlich in die Realität zurückgekehrt war. Nur langsam wurde er etwas ruhiger. Zitternd legte er sich zurück und atmete tief durch. Erschöpft schloss er die Augen, ohne jedoch schlafen zu wollen. Viel zu groß war seine Furcht davor, wieder im Sumpf des Grauens zu versinken, so als wäre die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr vorhanden. Wo war er jetzt? In seinem Bett? Im Schlafzimmer? In seinem Haus? Oder schon wieder im Niemandsland zwischen zwei Welten? Dort, wo eine Puppe auf ihn wartete, auf seiner Brust hockend, ein Rasiermesser in der Hand, den kleinen Mund zu einem diabolischen Grinsen verzerrt, während das Mondlicht in den leeren Augenhöhlen schimmerte. Und bei jeder ihrer Bewegungen klapperten die verdammten Augenlider. Das war es, das vertraute Geräusch, dieses Klappern, das zu hören gewesen war, wenn Sarah sich mit ihrer geliebten Viviana auf dem Arm in Franks Nähe aufgehalten hatte. Er seufzte schwer, versuchte sich zu wehren, als ihm klar wurde, dass sich die hässliche Traumwelt wieder in seinen Kopf ausbreitete. Die Augen waren müde und seine Gedanken stürzten in düstere Abgründe hinab. Er spürte die Berührung. Die Spitze des Rasiermessers nagte kalt an seiner Haut. Zischende Laute drangen in sein Ohr.
“Böser Dad“, flüsterte die vertraute Stimme.
Das Messer bewegte sich. Sanft. Behutsam. Fast zärtlich. Langsam begann es zu schneiden. Immer tiefer. Frank wurde ganz heiß in seinem Kopf. Es wurde Zeit, zu schreien, um wieder aufzuwachen!
Gutgelaunt kehrte Jennifer Clark von ihrer Geschäftsreise zurück. Alles bestens verlaufen. Noch ehe sie die Haustür aufschließen konnte, wurde ihr von Sarah geöffnet. Das kleine Mädchen strahlte sie fröhlich an. Ganz fest hielt sie ihre Puppe Viviana im Arm.
Jennifer begrüßte ihre Tochter zärtlich. “Hast du Mami denn auch vermisst, Schatz?“
Sarah nickte eifrig.
“Und womit hast du dein schönes Kleid so eingeschmiert? Ist das Kirschmarmelade?“
Sarah lächelte verlegen.
“Sieht ja schlimm aus. Das stecken wir am besten gleich in die Wäsche. Wo ist Dad?“
“Oben. Im Schlafzimmer.“
Ungläubig runzelte Jennifer die Stirn. “Dein Dad liegt um diese Zeit noch in den Federn? Was ist los mit ihm? Ist er krank?“
“Weiß nicht genau, Mami. Er hat schlecht geschlafen, glaub‘ ich, und ruht sich wohl noch ein bisschen aus.“ Jennifer gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und stieg dann schwungvoll die Treppe hinauf. Sarah starrte der Mutter hinterher und hielt den Atem an.
Kurze Zeit später gellte Jennifer Clarks entsetzter Aufschrei durch das Haus.