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Voller Mond
Nachdem er die Personalien der jungen Frau aufgenommen hatte, fragte er erneut:"Was genau ist Ihrem Johnny zugestoßen, Miss?"
Sheriff Crompton blickte in das verstörte Gesicht einer Frau Anfang 20, die eine halbe Stunde zuvor halbweinend, halblachend das Revier betreten hatte. Sie begegnete ihm mit Unverständnis.
"Tot", flüsterte sie, als müssten Crompton und Deputy O'Hara es ohnehin bereits wissen. "Er ist tot."
O'Hara saß an der Schreibmaschine - eine alte Typenradmaschine ohne Korrekturband - und tippte etwas auf ein Formular. Die junge Frau - Sheila Thorne, wie sie der Reisepass auswies - begann leise zu schluchzen und hob zaghaft ihre Hände.
Sie betrachtete diese durch einen Schleier von Tränen.
Crompton runzelte die Stirn. Er konnte sich noch keinen Reim auf das merkwürdige Verhalten Thornes machen.
"Johnny ist Ihr Verlobter und er ist tot, habe ich das richtig verstanden?"
Sie nickte.
"Erzählen Sie uns einfach was passiert ist, Miss. Ich weiß, es muss Ihnen sehr schwer fallen -"
"Gar nichts wissen Sie!“, zischte die Frau und ballte ihre Hände zu Fäusten.
Crompton und der Deputy warfen sich vielsagende Blicke zu. Thorne stand unter schwerem Schock. Sheriff Crompton würde sich persönlich ihrer annehmen, doch zuerst musste er wissen, was denn so schreckliches geschehen war.
"Wir sind Kanadier.", erklärte sie, "Wir trampten ein bisschen durch die Gegend hier. Hatten Schlafsäcke, ein Zweimannzelt und Geschirr bei uns. Was man eben so braucht. Und-"
Plötzlich stockte sie. O'Hara war sich ziemlich sicher, dass ihre Gedanken dem Büro entrückt waren - sie befand sich an der Unglücksstelle.
"Da draußen, im Wald. Kennen Sie? Viele alte Bäume und Moore und ... und Bodennebel."
Crompton nickte. "Ja, unheimliche Gegend, besonders um diese Jahreszeit."
Die Frau sprach unbeirrt weiter. "Wir hatten uns verlaufen und ich bekam es mit der Angst zu tun. Johnny zieht mich auf, redet von Monstern, die uns auflauern und ich bitte ihn, mich nicht grundlos noch mehr zu ängstigen und ... Oh, Johnny."
Sie machte eine kurze Pause die O'Hara nutzte, um noch etwas Kaffee aus der Thermoskanne in den Becher zu füllen. "Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Miss?"
"Nein, ich trinke keinen Kaffee. Ist ungesund.", flüsterte Thorne.
Dessen ungeachtet trank der Deputy schluckweise von der schwarzen, bitteren Flüssigkeit.
"Wir schlagen unser Zelt auf. Es ist dunkel und ... dann essen wir noch eine Kleinigkeit und schlüpfen in unsere Schlafsäcke. Es ist kalt, so kalt. Und nur das Zelt ist zwischen uns und der Dunkelheit - den Monstern, die dahinter auf uns lauern. Ich döse vor mich hin und bin am Einschlafen, da ... da schreckt mich dieses Heulen auf."
"Heulen? Von einem Hund?", begehrte Crompton zu wissen.
"Nein, eher wie ein Wolf."
Skeptisch zog der Sheriff die Augenbrauen hoch. "Bei uns gibt es keine Wölfe. Schon seit mindestens 100 Jahren nicht mehr."
"Es war auch kein Wolf. Ich meine, nicht wirklich. Ich wecke Johnny, sage ihm, ich habe Angst. Er reagiert verärgert, sagt, er bereue es, vorhin gescherzt zu haben. Und dann wieder dieses entsetzliche Heulen – es klingt wie eine Wehklage. Gott, ich halte es nicht aus, dieses Heulen!"
"Beruhigen Sie sich, Miss, Sie sind hier in Sicherheit.", versuchte sie der Sheriff zu beruhigen.
"Es gibt keinen sicheren Ort.", entgegnete sie und wischte eine Träne von den Wangen. "Das Heulen hält an und Johnny bemerkt, es sei Vollmond und vielleicht gäbe es Wölfe. Daraufhin habe ich noch mehr Angst. Und dann ist das Heulen nicht mehr zu hören. Stattdessen verschlagene Schritte, die unser Zelt umschleichen.
Ich bin kurz davor durchzudrehen. Da draußen ist nichts Menschliches ..."
Mit einem bestimmten Ausdruck in seinen Augen fragte O'Hara: “Soll ich das später ins Protokoll aufnehmen?“
Die quälende Litanei der jungen Frau setzte sich fort. "Ich schreie auf, als ich ein knurrendes Geräusch hinter mir höre. Johnny wird blass im Gesicht, das sehe ich selbst im Schein der Petroleumlampe, die wir kurz vorher angezündet hatten. Auf meiner Seite des Zeltes entstehen Ausbuchtungen im Zeltstoff.
Etwas will zu uns. Und dieses Etwas faucht und knurrt, es ist kein Wolf. Ja, es faucht wie eine gigantische Katze, aber es ist nichts katzenartiges, denn es klingt viel zu dumpf. Ich wünschte, wir hätten eine Waffe.
Und plötzlich beginnt das Ding da draußen das Zelt aufzuschlitzen. Riesige Pranken sind es ... ich kann es ganz deutlich erkennen. Und dann zwängt sich das Ding durch den langen Riss. Es ist - ist-"
Ihr Atem beschleunigte sich, sie war einer Ohnmacht nahe. Allein die Erinnerung - die lebhafte Erinnerung - drohte sie um den Verstand zu bringen.
„Grauenvoll. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ähnelt einem Wolf, aber es hat auch was katzenhaftes, tückisches an sich. Und es ist groß und aggressiv. Es fletscht die Zähne und schnappt nach mir. Johnny schlägt dem Ding mit der Bratpfanne auf die Schnauze, woraufhin die Kreatur aufheult.
Aber es ist nicht einzuschüchtern und attackiert Johnny. Und Johnny stößt mich von sich und schreit: Lauf! Und ich laufe. Und drehe mich nicht einmal um. Und dann höre ich grässliche Schmerzensschreie, die von Johnny stammen. Ganz sicher schreit Johnny so erbärmlich. Johnny..."
Erneut brach sie ab um zu weinen.
Crompton fühlte sich unbehaglich im Angesichte des Schreckens, den die junge Frau - tatsächlich oder nur imaginär - durchlebt hatte.
Tröstend legte er ihr seine Hand auf die Schulter. "Ich nehme an, Sie haben noch kein Quartier für diese Nacht gefunden?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Gegenüber der Bar ist ein billiges, gepflegtes Motel. Ich werde Sie hingeleiten, okay?"
Thorne dachte nicht daran, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. "Nein danke, ich komme sehr gut alleine zurecht.", sagte sie trotzig und stand auf.
Crompton lugte nach der Wanduhr. Es war eins vorbei. "Oh, es würde mir keine Unannehmlichkeiten bereiten, Miss, ich-"
"Ich sagte nein!", warf sie dem Sheriff entgegen und lief aus dem Büro, hinaus, in die Dunkelheit, aus der sie gekommen war.
"Hm, was sagt man dazu.", murmelte O'Hara.
"Am besten gar nichts. Ich werde mich sofort der Sache annehmen."
Crompton schritt zu dem Wandschrank, in welchem die Waffen aufbewahrt wurden. Er öffnete diesen und entnahm eine ungeladene Pistole und eine kleine Packung Munition.
"Was denken Sie?", fragte der Deputy, während Crompton die Waffe lud.
"Ich denke, die Kleine sprach die Wahrheit. Und außerdem denke ich, dass wir in dieser Sache hart durchgreifen müssen, schließlich leben wir vom Tourismus."
"Wo Sie recht haben, haben Sie nicht unrecht.", stimmte O'Hara zu. "Was soll ich in den Bericht schreiben? Soll ich überhaupt etwas schreiben?"
Crompton verschloss den Schrank wieder. "Ach, schreiben Sie irgendwas und legen Sie's zu den Akten. Wäre ja nicht das erste Mal."
O'Hara nahm den Befehl kopfnickend entgegen und deutete mit dem Finger auf die geladene Pistole seines Vorgesetzten. "Gehen Sie bloß sparsam mit unserer Spezialmunition um, die Silberpreise sind erneut gestiegen."
„Nur keine Sorge", sagte Crompton lächelnd, "Ich werde mir Foster vorknöpfen, diesen verdammten Idioten."
Mit diesen Worten ging er zur Tür und langte nach der Klinke.
"Machen Sie das. Ich gedenke unterdessen Miss Thorne zu erklären, wie sehr wir die Touristen benötigen."
Crompton stieß ein hässliches Lachen aus und warf dem Deputy einen unmissverständlichen Blick zu: Lassen Sie mir auch noch was übrig!