Vom Hören und Fühlen
Vom Hören und Fühlen
„Eigentlich“, sagte er, als er am Fenstersims rauchend saß, zu den Dächern der gegenüberliegenden Häuser blickte und dabei an nichts anderes denken konnte, als an die Bauklötze seiner Kindheit mit denen er, wie ihm schien, so glücklich Häuser gebaut hatte, „ist es völlig einerlei wo man stirbt“. Er war allein in seinem spartanisch wirkenden Raum und schnippte die zu Ende gerauchte Zigarette in hohem Bogen hinaus in den Hof, zu all den anderen die sich im Lauf der letzten Wochen dort angesammelt hatten seitdem er wieder begonnen hatte zu rauchen. Fast immer hatte er hier gesessen, und besonders häufig in den letzten Tagen, von unwägbaren Gedanken geplagt, hinüber zu den anderen Dächern und Schornsteinen gestarrt, geraucht, den Kopf mal hierhin, mal dahin geneigt, aber letztlich nur dem Vergehen des Tages zugeschaut, die Verschiedenartigkeit der Tönungen des Himmels gesehen und miteinander verglichen, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Das fand er toll, einfach in den Himmel starren und gar nichts weiter machen. In solchen Momenten spürte er, dass es noch Dinge gab, die einfach so passierten. Manchmal sah er den Tauben zu, die sich in der Dachrinne gegenüber tummelten oder er hörte ihr Gurren über ihm, sah sie in kleinen Schwärmen aufsteigen und wiederkehren. Die Tauben hier oben konnten ein wunderbares Dasein führen. Ihm selbst erschien es unendlich schwierig sich den Tauben oder der Natur oder gar den Mitmenschen zu nähern. Aber im Vergleich zu den Leuten, die er von seinem Fensterplatz auch gut hören konnte, war es ein Kinderspiel sich zu den Tauben zu schlagen, deren Eindeutigkeit und Unbeschwertheit ihn beeindruckte. Sich dem Leben auf der Straße, oder dem Leben überhaupt zu nähern schien ihm gänzlich absurd, fast aussichtslos. Unten näherte sich das Müllauto, er sah wie sich das orange Licht der Warnblinkanlage an der gegenüberliegenden Wand reflektierte und hörte das monotone Tuten des LKW. Heute war Mittwoch, da wurden die Tonnen geleert. Mit lautem Brimborium rollten die Müllmänner die Behälter über den Hof. Jeden Mittwoch, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr. Bis irgendwann die nächste Dynastie herangewachsen war. Und sinnlos war es auch, so schien es ihm, sich irgendwann ans Leben zu wagen. Wozu?
Es klopfte. Völlig unvermittelt und ohne jeden Sinn. Außerdem hatte er mit niemandem einen Termin vereinbart. Was wollte derjenige? Nein, es war bestimmt ein Irrtum. Oder, viel wahrscheinlicher noch, war es jemand der sich einen Spaß mit ihm erlaubte? Er wollte sich aus dem Fenster beugen, aber er konnte nicht weit gucken, überdies war der Eingang des Gebäudes sowieso auf der anderen Seite. Wieder klopfte es. Wenn es jemand war, der sich einen Spaß machte, dann müsste er doch jetzt von der Tür weg rennen und das würde er hören können. Aber da war niemand der wegrannte. Seltsam? Wieder klopfte es. Das konnte kein Zufall sein. Leise bewegte er sich vom Fenstersims runter, setzte seine Füße auf den Boden und schlich in Richtung Tür. Er kannte sein Zimmer ganz genau. Er wusste welche Stelle des Fußbodens sich wie bewegte und wann sie mit welchem Ton knarren würde, er konnte lautlos sein. Er duckte sich, damit der Besuch, falls er durch die kleine Scheibe sehen wollte, im Gegenlicht des Fensters keine Schatten oder Umrisse erkennen konnte und das Grau hinterm Drahtglas keine Reflexe bieten würde. An seinem Ohr klebten die Geräusche der Stadt, das dumpfe Brummen der Motoren, das sich zu einem beruhigenden Gemisch verbindet, ab und an das Quietschen von Metall auf Metall oder von Gummi auf Asphalt, und hin und wieder das An- und Abschwellend der Sirenen der Rettungswagen oder Polizeiautos. Er aber würde keine Geräusche machen, er würde niemanden zu sich reinlassen , er war einfach nicht da. Draußen war man nun ziemlich lautstark. Männer krakelten herum. Vielleicht war ja ein neuer Nachbar eingezogen, das konnte ja immerhin sein? Er wusste es - um ehrlich zu sein - nicht, denn er beschäftigte sich nicht mehr damit. Ihm war egal, wer da neben ihm wohnte, solange er in Ruhe gelassen würde, schließlich ließ er ja auch die Anderen in Frieden. Aber wofür so ein Lärm? Wieder wurde lautstark geklopft. Dann gerufen. Er hörte das laute Klappern eines großen Schlüsselbundes, dann das Scheppern, wie das Geräusch von Emaillegeschirr oder Edelstahl welches zum Essen ausgeben verwendet werden kann. In seinem Raum war es mucksmäuschenstill, er atmete ganz ruhig, lautlos war es in seiner Kammer. Ganz weit draußen hörte er die Geschäftigkeit der Bürger der Stadt, welche für ihn aus einer anderen Zeit hinüber schwappte. „Die Lautstärke einer Tat“, flüsterte er im Gespräch mit sich selbst, „ist kein Argument für deren Bedeutsamkeit“. Er hörte kurz seine Pritsche quietschen, das Geräusch von raschelnden Textilfasern, seinen erstaunlich ruhigen Atem, den Klang seiner Lungen, seines Kehlkopfes. Man macht das ja nicht alle Tag, aber dann herrschte Stille, feierlich. Für einen sehr kurzen Moment verweilte der Raum in Totenstille, um schließlich - was er nicht mehr hörte - wieder gestört zu werden, durch den entschlossenen Ruck mit dem die schwere Metalltür von den Bediensteten geöffnet wurde, die in seine Zelle stürmten.