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Vom Mut, den man nicht hat

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17.08.2004
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Vom Mut, den man nicht hat

Mein Blick pendelt im Sekundentakt zwischen der Armbanduhr und der Flucht der Straße hin und her. Gleich wird die Straßenbahn um die Kurve gerattert kommen – klein zuerst, doch irgendwie unaufhaltsam, bis sie dann schließlich vor mir stehen bleibt.

Ich hoffe, dass die Bahn nicht kommen wird, sie wird ein klein wenig Verspätung haben und der Bus, in den ich noch umsteigen muss, wird selbstverständlich schon weg sein und ich gehe dann zwangsläufig wieder nach Hause, denn ich kann ja nichts dafür, dass die Bahn so langsam um die Kurve gefahren ist.

Während ich noch bei diesem Gedanken verbleibe und beinahe schon wieder zu Hause bin, rattert sie doch noch rechtzeitig um die Kurve und hält nur wenige Augenblicke später, leise quietschend, vor mir an.

Die Türen öffnen sich und ich steige ein. Ich beziehe einen Platz, der von der nächsten Türe am weitesten entfernt ist. Prüfend, ob ich den richtig gewählt habe, blicke ich mich um – und setze mich hin.

Ich sitze immer am Fenster, wenn ich mit dem Bus oder mit der Bahn unterwegs bin. Ich beobachte gerne die Menschen, die durch die Stadt laufen. Ich sehe sie zwar nur ein kurzen Augenblick, aber dafür völlig ungestört und für mich ganz alleine. Sie drehen sich nur selten nach mir um, oder blicken höchstens zufällig Richtung Bahn. Ich versuche immer, die Gedanken der Menschen zu erraten - nur heute klappt das nicht, meine eigenen Gedanken kehren immer wieder zu dem einen Punkt zurück, wegen dem ich überhaupt eingestiegen bin.

Ich rufe mir den Abend ins Gedächtnis zurück, an dem meine Eltern mich ins Wohnzimmer riefen. Jedes Wort hat sich in mein Hirn eingebrannt und ich zweifle nicht daran, dass es für immer dort bleiben wird. Die dünne Stimme meiner Mutter, die sie immer bekommt, wenn sie gleich weinen muss und im Gegensatz dazu die rauhe Stimme meines Vaters, der versucht, sie daran zu hindern.

Junge, sagt er zu mir – er wird noch Junge sagen, wenn ich fünfzig Jahre alt bin, schießt es mir in diesem Moment durch den Kopf, ich weiß es noch ganz genau – wir mussten auf den richtigen Zeitpunkt warten, dass verstehste doch, oder? Für uns is das auch nicht leicht, oder meinste?

Meine Mutter weint nun doch und versichert mir zwischen Schluchzern und Schniefern immer wieder, dass sie mich ja trotzdem lieb hätten und es sich doch nichts ändern wird.

Junge, wir hamm hier die Adresse von ihm. Geh mal hin, wenn du dir sicher bist. Es wird schon alles wieder werden.

Ich krame in meiner Tasche und hole den kleinen Zettel heraus, den mir mein Vater gegeben hatte. So sehr sich jedes Detail des Abends meinem Gedächtnis unentrückbar eingeprägt hat, desto schlechter scheine ich mich an die Adresse erinnern zu können, die jemand, der einmal mein Vater gewesen war, und es plötzlich nicht mehr sein soll, und bei dem ich mich nur an eine rauhe Stimme erinnere, mit unleserlicher Schrift darauf gekritzelt hat. Ich lese sie ein paar Mal, lasse den Zettel wieder in meiner Manteltasche verschwinden, nur um ihn wenige Augenblicke wieder hervorzuholen – einfach um noch ein letztes Mal sicher zu gehen.

Die Straßenbahn hält ruckend an und ich stehe auf, weil ich aussteigen muss. Der kalte Abendwind schlägt mir entgegen, und mein Blick bleibt auf den Boden gerichtet, um den Bus – der bestimmt schon weg ist – nicht sehen zu müssen. Als ich dann doch schaue, weil ich schauen muss, sehe ich sofort die leuchtende Sechs auf schwarzem Grund. Zischend öffnen sich die Türen, ich steige ein, suche meinen sicheren Platz und blicke sofort wieder aus dem Fenster hinaus.

Es ist bereits dämmerig geworden und die Straßenlaternen werfen einen grauen Schatten auf den Schotterweg, den ich entlang gehe. Wieder halte ich den Zettel in der Hand, denn meine Gedächtnis scheint mich endgültig verlassen zu haben, denn ich muss ständig hinsehen, um die Hausnummer nicht zu vergessen.

Und plötzlich, ohne dass ich es wollte, stehe ich vor dem Haus. Ein paar Mal noch vergleiche ich die Zahlen, aber so sehr ich auch wünschte, dass sie verschieden wären – sie sind es nicht.

Nun also ist es soweit, denke ich mir. Leise spreche ich all die Sachen, die ich sagen will, vor mich hin. Machen sie Sinn? Sind sie verständlich? Habe ich überhaupt ein Recht, hier zu stehen und zu klingeln und zu sagen: Hey, ich bin dein Sohn, hast du das gewusst?

Meine Hände zittern und schwitzen, und der Zettel beginnt sich in meiner Hand langsam aufzulösen. Durch die Milchglasscheibe der Tür versuche ich ins Haus zu blicken. Ich atme tief durch. In meinen Gedanken sehe ich meinen Finger, wie er den runden Knopf betätigt und erstaunt von mir selbst sehe ich mich klingeln

Einen Moment lang überlege ich, einfach wegzulaufen. Erst die schweren Schritte, die sich der Tür nähern, bringen mich zurück zum Haus Nr. 19 und langsam nimmt der schwarze Schemen durch die Milchglasscheibe Kontur an.


Geschämt habe ich mich, als ich vor ihm stand, und nur herum gedruckst habe, und schließlich ziemlich rot angelaufen bin. Feige fühle ich mich, weil ich nicht den Mut gehabt habe, mehr zu sagen als ein leises „äh ... hmm ...“ und ein krächzendes „ich bin ...“, bevor ich mich leise entschuldigend abgewandt habe und weggelaufen bin. Wütend bin ich auf mich und auf meine Eltern und auf den Vater, der im Haus Nr. 19. sitzt, und vermutlich irritiert ist von dem seltsamen Jungen, der eben bei ihm geklingelt hat. Traurig bin ich, weil ich es bin, der immer wieder eine Adresse vergisst, die man auf einen kleinen Zettel geschrieben hat, von dem nur noch Fetzen übrig geblieben sind. Verlassen fühle ich mich, weil es inzwischen dunkel geworden ist und ich alleine mit dem Bus und der Bahn nach Hause fahren muss.

Es macht nichts, sage ich mir immer und immer wieder, es spielt doch keine Rolle, es ist egal, ob ich jetzt etwas gesagt habe, oder nicht. Die letzten siebzehn Jahre habe ich nichts gesagt – welche Rolle spielt da noch der heutige Tag?

Was sind diese paar Wochen, die er nun mit mir verpasst, im Gegensatz zu den Jahren, die ich verpassen musste.

 

Hi Malachy,


Textzeug (fast nur Satzzeichenfehler):

...kommen – klein zuerst, doch irgendwie unaufhaltsam, bis sie dann schließlich vor mir stehen bleibt.

Ich hoffe, dass die Bahn nicht kommen wird, sie wird ein klein wenig Verspätung haben und der Bus, in den noch umsteigen muss,
da fehlt ein "ich"

Die dünne Stimme meiner Mutter, die sie immer bekommt, wenn sie gleich weinen muss und im Gegensatz dazu die rauhe Stimme meines Vaters, der versucht, sie daran zu hindern.

– er wird noch Junge sagen, wenn ich fünfzig Jahre alt bin, schießt es mir in diesem Moment durch den Kopf, ich weiß es noch ganz genau –

So sehr sich jedes Detail des Abends meinem Gedächtnis unentrückbar eingeprägt hat, desto schlechter scheine ich mich an die Adresse erinnern zu können, die jemand, der einmal mein Vater gewesen war, und es plötzlich nicht mehr sein soll, und bei dem ich mich nur an eine rauhe Stimme erinnere, mit unleserlicher Schrift darauf gekritzelt hat.
Vor Bindewörtern kannst du Beistriche setzen - der ganze Satz liest sich dann flüssiger.

Zischend öffnen sich die Türen, ich steige ein, suche meinen sicheren Platz und blicke sofort wieder aus dem Fenster hinaus.
Unmöglich, da er sich noch immer in der Straßenbahn befindet. Du könntest einen Satz hinzufügen, in dem beschrieben wird, wie er die Straßenbahn verlässt.

...Zettel in der Hand, denn meine Gedächtnis scheint mich entgültig verlassen zu haben, denn ich muss ständig...
endgültig

Habe ich überhaupt ein Recht, hier zu stehen und zu klingeln und zu sagen: Hey, ich bin dein Sohn, hast du das gewusst?

Meine Hände zittern und schwitzen, und der Zettel beginnt sich in meiner Hand langsam aufzulösen.

Ich atme tief durch und in Gedanken sehe ich meiner Finger den runden Knopf betätigen und erstaunt von mir selbst sehe ich mich klingeln
Der Satz liest sich holprig. Ich würde ihn in mehrere aufteilen, etwa so: "Ich atme tief durch. Im Gedanken sehe ich meinen Finger den runden Knopf betätigen. Erstaunt von mir selbst sehe ich mich klingeln."

Einen Moment lang überlege ich, einfach wegzulaufen.

Niemand kennt mich hier ja und sehen tut mich erst recht keiner.
kannst du streichen, wirkt völlig deplaziert

Erst die schweren Schritte, die sich der Tür nähern, bringen mich zurück zum Haus Nr. 19 und langsam nimmt der schwarze Schemen durch die Milchglasscheibe Kontur an.

Geschämt habe ich mich, als ich vor ihm stand, und nur herum gedruckst habe, und schließlich ziemlich rot angelaufen bin.

Wütend bin ich auf mich und auf meine Eltern und auf den Vater, der im Haus Nr. 19. sitzt, und vermutlich irritiert ist von dem seltsamen Jungen, der eben bei ihm geklingelt hat.

...der immer wieder eine Adresse vergißt, ...
vergisst

Was sind diese paar Wochen, die er noch warten muss, im Gegensatz zu den Jahren, die ich habe warten müssen.
Gelungener Schlusssatz


Deine Geschichte habe ich mit großer Spannung auf das Ende gelesen. Zuerst dachte ich, dass ihn die Eltern in ein Heim schicken, war dann aber überrascht, dass er seinen richtigen Vater besuchen soll.
Ich muss zugeben, dass sie mir gefallen hat.


Gruß,
131aine

 

Ach ja, die vielen tollen Kommaregeln, die ich alle nicht beherrsche :)

Vielen Dank zunächst für die Mühe, die du dir gegeben hast, all die kleinen Fehler zu markieren.

Freut mich, wenn dir die kleine Geschichte gefallen hat. Ich bin froh, dass man beim Lesen nicht sofort merkt, wohin er fährt und warum :)

liebe Grüße
Malachy

 

Hallo Malachy,

deine Geschichte hat mir sehr gefallen. Ich hab zwar schon etwas früher geahnt, dass dein Prot. seinen Vater besuchen soll, aber du hast trotzdem alles sehr schön spannend aufgebaut.
Ohne, dass du explizit erwähnst, dass er total verwirrt ist, kommt diese Verwirrung trotzdem sehr gut rüber. Das hast du wirklich sehr schön gemacht.

Mein einzig wirklicher Kritikpunkt betrifft den letzten Satz. Er passt für mich nicht richtig dazu. Immerhin scheint deinem Prot. gar nicht klar gewesen zu sein, dass seine vermeintlichen Eltern nicht seine leiblichen sind. Insofern passt dieses Warten von deinem Prot. für mich nicht. Er hat schließlich auf nichts gewartet und der leibliche Vater auch nicht.

LG
Bella

 

Hi Bella,

Danke erstmal für deine überwiegend positive Kritik.
aber ich muss dir unumwunden recht geben - der letzte Satz passt logisch absolut nicht. Zugegeben, mir ist das nicht aufgefallen :)

Ich habe mir jetzt Gedanken gemacht, ihn einfach wegzulassen - aber dann ist das Ende zu abrupt und gefällt mir nicht mehr.

Ändern werde ich ihn aber auf jeden Fall, wenn mir etwas passendes eingefallen ist.

liebe grüße
Malachy

 

Hi Malachy,

dein Text ist sehr stimmungsvoll und ich fand ihn wirklich gut zu lesen. Mir war eigentlich auch klar, dass der Junge zu seinem Vater oder zu seinen leiblichen Eltern fährt.
Du hast die Gefühle, besonders die Irritation wirklich gut dargestellt, hat mir gefallen. :thumbsup:
Zu dem letzte Satz: ich finde ihn sehr stark, es wäre schade, wenn er wegfällt. Ist es vielleicht einfacher, den Prot von Anfang an wissen zu lassen, dass seine Eltern nicht leiblich sind? Ich denke nicht, dass das die Furcht und Verwirrung auf dieser Fahrt ändern würde, bin mir aber nicht sicher.

Hat mir sehr gut gefallen.

Gruß,

Ronja

 
Zuletzt bearbeitet:

Zitat von Bella:
Mein einzig wirklicher Kritikpunkt betrifft den letzten Satz. Er passt für mich nicht richtig dazu. Immerhin scheint deinem Prot. gar nicht klar gewesen zu sein, dass seine vermeintlichen Eltern nicht seine leiblichen sind. Insofern passt dieses Warten von deinem Prot. für mich nicht. Er hat schließlich auf nichts gewartet und der leibliche Vater auch nicht.
Stimmt, das ist mir gar nicht aufgefallen, als ich den Satz belobigt habe :bonk:
Notiz an mich: Beim nächsten Mal das Hirn einschalten :D

ABER:

Zitat von Felsenkatze:
Zu dem letzte Satz: ich finde ihn sehr stark, es wäre schade, wenn er wegfällt. Ist es vielleicht einfacher, den Prot von Anfang an wissen zu lassen, dass seine Eltern nicht leiblich sind? Ich denke nicht, dass das die Furcht und Verwirrung auf dieser Fahrt ändern würde, bin mir aber nicht sicher.
Felsys Bemerkung kann ich nur zustimmen - der letzte Satz ist einfach zu schön, um ihn zu streichen

 

Wie ich oben schon schrieb, fällt es mir zu schwer, den Satz komplett zu streichen. Den Jungen von Beginn an wissen zu lassen, dass er nicht bei seinen leiblichen Eltern wohnt, schwächt leider die Irritation ab, die ihn befällt, weil er alles ganz plötzlich und unverhofft erfährt.

Ich glaube, das wird es "einfacher" den letzten Satz umzuändern.

 

Zum "letzten" Satz:
Vielleicht könntest du dieses "warten" in "unwissenheit" abändern. Dadurch müsstest du gar nicht viel abändern und der schöne satz (ich fand ihn übrigens auch schön, nur nicht ganz passend) kann bleiben.

 

Ich habe lange über die "Unwissenheit" nach gedacht und war nicht ganz 100prozentig glücklich damit, aber ich konnte sie dann doch irgendwie noch mit der verlorenen Zeit für den Jungen verbinden.

Ich habe den "letzten Satz" (klingt ja herrlich pathetisch :) ) jetzt einmal umgeändert und gleichzeitig versucht ihn, von der Struktur her, zu erhalten...

liebe Grüße
Malachy

 

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