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Vom Mut, den man nicht hat
Mein Blick pendelt im Sekundentakt zwischen der Armbanduhr und der Flucht der Straße hin und her. Gleich wird die Straßenbahn um die Kurve gerattert kommen – klein zuerst, doch irgendwie unaufhaltsam, bis sie dann schließlich vor mir stehen bleibt.
Ich hoffe, dass die Bahn nicht kommen wird, sie wird ein klein wenig Verspätung haben und der Bus, in den ich noch umsteigen muss, wird selbstverständlich schon weg sein und ich gehe dann zwangsläufig wieder nach Hause, denn ich kann ja nichts dafür, dass die Bahn so langsam um die Kurve gefahren ist.
Während ich noch bei diesem Gedanken verbleibe und beinahe schon wieder zu Hause bin, rattert sie doch noch rechtzeitig um die Kurve und hält nur wenige Augenblicke später, leise quietschend, vor mir an.
Die Türen öffnen sich und ich steige ein. Ich beziehe einen Platz, der von der nächsten Türe am weitesten entfernt ist. Prüfend, ob ich den richtig gewählt habe, blicke ich mich um – und setze mich hin.
Ich sitze immer am Fenster, wenn ich mit dem Bus oder mit der Bahn unterwegs bin. Ich beobachte gerne die Menschen, die durch die Stadt laufen. Ich sehe sie zwar nur ein kurzen Augenblick, aber dafür völlig ungestört und für mich ganz alleine. Sie drehen sich nur selten nach mir um, oder blicken höchstens zufällig Richtung Bahn. Ich versuche immer, die Gedanken der Menschen zu erraten - nur heute klappt das nicht, meine eigenen Gedanken kehren immer wieder zu dem einen Punkt zurück, wegen dem ich überhaupt eingestiegen bin.
Ich rufe mir den Abend ins Gedächtnis zurück, an dem meine Eltern mich ins Wohnzimmer riefen. Jedes Wort hat sich in mein Hirn eingebrannt und ich zweifle nicht daran, dass es für immer dort bleiben wird. Die dünne Stimme meiner Mutter, die sie immer bekommt, wenn sie gleich weinen muss und im Gegensatz dazu die rauhe Stimme meines Vaters, der versucht, sie daran zu hindern.
Junge, sagt er zu mir – er wird noch Junge sagen, wenn ich fünfzig Jahre alt bin, schießt es mir in diesem Moment durch den Kopf, ich weiß es noch ganz genau – wir mussten auf den richtigen Zeitpunkt warten, dass verstehste doch, oder? Für uns is das auch nicht leicht, oder meinste?
Meine Mutter weint nun doch und versichert mir zwischen Schluchzern und Schniefern immer wieder, dass sie mich ja trotzdem lieb hätten und es sich doch nichts ändern wird.
Junge, wir hamm hier die Adresse von ihm. Geh mal hin, wenn du dir sicher bist. Es wird schon alles wieder werden.
Ich krame in meiner Tasche und hole den kleinen Zettel heraus, den mir mein Vater gegeben hatte. So sehr sich jedes Detail des Abends meinem Gedächtnis unentrückbar eingeprägt hat, desto schlechter scheine ich mich an die Adresse erinnern zu können, die jemand, der einmal mein Vater gewesen war, und es plötzlich nicht mehr sein soll, und bei dem ich mich nur an eine rauhe Stimme erinnere, mit unleserlicher Schrift darauf gekritzelt hat. Ich lese sie ein paar Mal, lasse den Zettel wieder in meiner Manteltasche verschwinden, nur um ihn wenige Augenblicke wieder hervorzuholen – einfach um noch ein letztes Mal sicher zu gehen.
Die Straßenbahn hält ruckend an und ich stehe auf, weil ich aussteigen muss. Der kalte Abendwind schlägt mir entgegen, und mein Blick bleibt auf den Boden gerichtet, um den Bus – der bestimmt schon weg ist – nicht sehen zu müssen. Als ich dann doch schaue, weil ich schauen muss, sehe ich sofort die leuchtende Sechs auf schwarzem Grund. Zischend öffnen sich die Türen, ich steige ein, suche meinen sicheren Platz und blicke sofort wieder aus dem Fenster hinaus.
Es ist bereits dämmerig geworden und die Straßenlaternen werfen einen grauen Schatten auf den Schotterweg, den ich entlang gehe. Wieder halte ich den Zettel in der Hand, denn meine Gedächtnis scheint mich endgültig verlassen zu haben, denn ich muss ständig hinsehen, um die Hausnummer nicht zu vergessen.
Und plötzlich, ohne dass ich es wollte, stehe ich vor dem Haus. Ein paar Mal noch vergleiche ich die Zahlen, aber so sehr ich auch wünschte, dass sie verschieden wären – sie sind es nicht.
Nun also ist es soweit, denke ich mir. Leise spreche ich all die Sachen, die ich sagen will, vor mich hin. Machen sie Sinn? Sind sie verständlich? Habe ich überhaupt ein Recht, hier zu stehen und zu klingeln und zu sagen: Hey, ich bin dein Sohn, hast du das gewusst?
Meine Hände zittern und schwitzen, und der Zettel beginnt sich in meiner Hand langsam aufzulösen. Durch die Milchglasscheibe der Tür versuche ich ins Haus zu blicken. Ich atme tief durch. In meinen Gedanken sehe ich meinen Finger, wie er den runden Knopf betätigt und erstaunt von mir selbst sehe ich mich klingeln
Einen Moment lang überlege ich, einfach wegzulaufen. Erst die schweren Schritte, die sich der Tür nähern, bringen mich zurück zum Haus Nr. 19 und langsam nimmt der schwarze Schemen durch die Milchglasscheibe Kontur an.
Geschämt habe ich mich, als ich vor ihm stand, und nur herum gedruckst habe, und schließlich ziemlich rot angelaufen bin. Feige fühle ich mich, weil ich nicht den Mut gehabt habe, mehr zu sagen als ein leises „äh ... hmm ...“ und ein krächzendes „ich bin ...“, bevor ich mich leise entschuldigend abgewandt habe und weggelaufen bin. Wütend bin ich auf mich und auf meine Eltern und auf den Vater, der im Haus Nr. 19. sitzt, und vermutlich irritiert ist von dem seltsamen Jungen, der eben bei ihm geklingelt hat. Traurig bin ich, weil ich es bin, der immer wieder eine Adresse vergisst, die man auf einen kleinen Zettel geschrieben hat, von dem nur noch Fetzen übrig geblieben sind. Verlassen fühle ich mich, weil es inzwischen dunkel geworden ist und ich alleine mit dem Bus und der Bahn nach Hause fahren muss.
Es macht nichts, sage ich mir immer und immer wieder, es spielt doch keine Rolle, es ist egal, ob ich jetzt etwas gesagt habe, oder nicht. Die letzten siebzehn Jahre habe ich nichts gesagt – welche Rolle spielt da noch der heutige Tag?
Was sind diese paar Wochen, die er nun mit mir verpasst, im Gegensatz zu den Jahren, die ich verpassen musste.