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Vom Zauber des Widerstandes
Ich saß im Salon und las die Zeitung: als stetiges Schreien mir immer mehr zu Bewusstsein kam; ein wimmerndes, helles Klagen war das, auf der Straße vor meinem Haus; es musste wohl schon eine gewisse Zeit gejammert haben, bevor es den Artikel, den zu lesen ich auf meinen Diwan mich bequemt hatte, aus meiner Konzentration verdrängte, - oder vielmehr jene erbärmliche Glosse einfach hinwegsprengte! Denn plötzlich erhob sich dieses kindliche oder katzenhafte, karge Jammern zu gühendem Trotz, ach! es erstrahlte in großartiger Gleichmütigkeit, in heroischer Selbstaufgabe, der Schrei war tatsächlich das Triumphgeheul des zum Tode verurteilten Helden, ja, des dem Untergang Geweihten, der alle körperliche Notwendigkeit durch die Erhabenheit seines Geistes überwunden hatte, der einzig wahre Widerstand! -um gleich darauf ärmlich zu erkalten, und dies möchte ich sagen, dass es mir recht bemitleidenswert schien, und hilfsbedürftig, wenn es so starr wimmernd vom Winde an meine Fensterscheibe getragen ward.
Nun lebte ich damals in der Innenstadt, die Bequemlichkeit hatte mich sicherlich hierhin getrieben, denn die Wege hier sind außerordentlich kurz; alle Boutiquen, Bibliotheken und Restaurants befinden sich an eben jener Hauptstraße, an deren feinster Adresse ich mich für, bis dahin, unbestimmte Zeit einquartiert hatte. Es muss dies einleitend bemerkt werden, damit kein falscher Eindruck entsteht.
- Ich war also durchaus hingerissen von diesem fahlen Jammer, den irgendein Wesen dort unten veranstaltete, und man hätte auch durchaus ein Gefühl von Verantwortung für dieses Etwas empfinden können, was immer es sein mochte, Katze oder Kind oder Märtyrer, hielte man sich die Brutalität vor Augen, das Unrecht, das notwendigerweise begangen werden musste, um dem Opfer ein derart erschütterndes Wehklagen zu entäußern. Die zentrale Lage meiner Wohnstatt aber brachte es mit sich, dass um diese Uhrzeit, es war am späten Nachmittag, noch unzählige Menschen auf der Straße ihren Geschäften nachgingen; ich sehe es mir an, dieses vermeintlich irre Treiben und Wuseln, wenn ich gelegentlich bei Cognak und Zigarre am Fenster zu stehen pflege, und mich in die allgemeine Formelhaftigkeit der Welt verliebe... - Ich stand also nicht auf, ich wollte nicht helfen, unten waren ja genug Leute, die in einem Notfalle hätten helfen können – schon mehrmals nämlich habe ich, vom Fenster aus, Menschen von ihrem Fahrrad auf die nackte Straße fallen sehen, weil sich ein Reifen in den Straßenbahnschienen verkeilt hatte; sie lagen also ein wenig da, vom Schrecken lahm und steif, und begannen dann meist, die Knie oder Ellbogen selbstvergessen reibend, wieder aufzustehen. Und spätestens jetzt waren auch schon mehrere Umstehende zu ihrer Rettung geeilt, die ihnen ihr Fahrrad aufhoben und ihnen die Hand auf die Schulter legten und so fort...meines Heldentums hat dort unten noch nie jemand bedurft. – Aber nun erscholl es wieder, der heilige Schrei, dieser absolut reine, gewinnende Trotz! Doch er wurde leiser, er bewegte sich fort, die Straße herunter!
Ich legte die Zeitung neben mich auf den Boden. Ich faltete sie nicht, ich warf sie einfach hin, sprang auf und rannte in die Diele. Meine Wahl fiel auf das Paar rotbraune Slipper, die ich vorletztes Jahr im Süden gekauft hatte. Ihr elastischer Körper schloss sich sofort schmeichelnd um meine Füße, und dergestalt versorgt eilte ich die Treppe herunter, zum Eingangsportal und heraus auf die Straße, wo ich horchend nach dem Klagen forschte: und da fing ich es auf, wie es den dröhnenden Verkehrslärm überschwebte, es flog mir von der linken Seite zu, es flirrte durch die ungezählten Körper der drängenden Passanten mir entgegen! Also war es noch da, ganz nah bei mir, nur einige dutzend Meter Bürgesteig, voller stumfgesichtiger Bürger, deren witzlose Einheitsgarderobe einen Wall graublauer Trübsal vor mir auftürmte, den zu überwinden mir gelinden Ekel einflößte... - Dennoch bahnte ich mir ruhig und gefasst meinen Weg, schob so manchen zügig zur Seite, während das traurige Gewimmer stärker, erhabener wurde und wieder anhob zu dem Ton, der mich wie einen Besessenen, ich gebe es zu, auf die Straße getrieben hatte, in diese Situation, die mir so lächerlich und merkwürdig erscheint, dass ich sie hier festhalten muss. Dieser Ton erzeugte eine solche Sehnsucht in mir, einen solch unbedingten Willen, dieses von heldenhaftem Widerstand und wahrhaft triumphierendem Rebellentum erfüllten Wesens ansichtig zu werden -
Dann sah ich die Quelle des Heldensanges, direkt vor mir erschien sie plötzlich hinter dem Körper einer beleibten Frau in braunem Pelzmantel, den ich freundlich murmelnd beiseite schob: Es war ein kleines, blondes Kind, kaum zwei oder drei Jahre alt, das von einem Erwachsenen getragen wurde, einer Frau in einem dunkelgrauen Pullover. Das Kind jammerte und versuchte sich dem unbarmherzigen Griff des dünnen, sehnigen Armes zu entziehen, doch die Frau, die übrigens ihr ganz kurzes, grau meliertes Haar in einer scheußlich strengen, akkuraten Weise frisiert trug, schob sich ernsten, unbeugsamen Blickes weiter auf dem von Menschen überquellenden Bürgersteig. Das Kind war wieder in sein monotones Gewimmer verfallen, es wehrte sich kraftlos und ohne jeden Nachdruck; und wenn ich nicht gewusst hätte, dass es dieses Menschlein war, dessen Triumphschrei mich auf so unerklärliche Weise, zu so ganz ungewohnter Zeit, auf diese gottvergessene, ordinäre Straße getrieben hatte: so hätte ich mich abgewandt, wäre in meine Wohnung zurückgekehrt, und hätte mich weiter dem Studium meiner hochgeschätzten Wochenzeitung gewidmet; denn diese feiste, rotgeschwollene Erscheinung und sein erbarmungswürdiges Gewinsel riefen in mir nichts weiter hervor als höhnische Abscheu.
Doch es war das Kind, ganz ohne Zweifel, es war dieser wulstige, schmollende Mund, aus dem jener Schrei des Prometheus erschollen war, der mein Herz zutiefst ergriffen und in süßeste Wollust versetzt hatte. Die beiden bewegten sich auf eine Ampel zu, und es gab mir Gelegenheit, zu ihnen aufzuschließen und neben ihnen zum Stehen zu kommen. Das Kind heulte und schlug schwächlich um sich, und traf die Frau an ihrem harten, mageren Kinn, worauf diese den Kopf zu dem Kleinen neigte, und es auf eine fürchterliche Weise anzischte: ob es nun endlich still sein wolle! worauf das Kind plötzlich, mit einem Ausdruck, als hätte es in letzter Minute einen verwegenen Plan zu seiner Rettung entdeckt, wild und hilfesuchend um sich blickte, bis sein Blick den meinen traf –
Ich muss auch hier etwas vorausschicken: es war mir mit kleinen Kindern noch nie sehr gut bestellt gewesen, und ich versuche, wenn irgend möglich, ihre Gesellschaft zu vermeiden. Sie sind mir auf eine seltsame Weise zuwider, einerseits scheinen sie mir unbedarft, unschuldig und dumm, und wenn sie mich ansehen, mir direkt in die Augen blicken, dann läßt ihr fröhlich naiver, vertrauensseliger Ausdruck mich vor Zärtlichkeit erst lächeln; wenn sie dieses Lächelns aber gewahr werden, wandelt der Ausdruck der weichen, unschuldigen Augen sich unvermittelt zu spöttischer, leichter Überlegenheit, die so rein und selbstbewusst mir aus den zart gezeichneten Gesichtchen entgegenstrahlt, dass ich beschämt zu Boden blicken muss.
Wie anders war es aber mit diesem hier! Alles, was mir aus den wässrigen, rotgeränderten Augen entgegenschlug, war Verzweiflung, Einsamkeit und Resignation, es traf und erschütterte mich in einem solchen Maße, dass ich auch hier meinen Blick abwenden musste. Was sollte ich tun? War denn dieses Kind tatsächlich in Not, oder hatte es sich einfach in unmäßiges Selbstmitleid verloren, weil es vielleicht, gegen seinen Willen, von seinem Lieblingsspielplatz heimgezerrt wurde? Ich nahm mich zusammen und versuchte meine Stimme zu erheben, die Frau zur Rede zu stellen, mich nach dem Grund für diesen Auftritt zu erkundigen - doch es waren nur krächzende, stimmlose Laute, die ich artikulierte, die mithin im staubigen Geknatter des Straßenverkehrs untergingen, und die zu ignorieren ich der Frau, so schändlich sie sich auch verhalten mochte, nur schwerlich übelnehmen konnte -
Die Ampel schlug auf grün, und ruckartig setzte sich die Frau mit dem Kind auf dem Arm wieder in Bewegung, und sie hatte schon die halbe Straße überquert, als ich merkte, dass ich wie angewurzelt stehengeblieben war, und von den anderen Fußgängern in ihrer Kleinlichkeit unsanft gestoßen wurde. Ich sah den beiden hinterher, fing noch einmal den Blick des Kindes auf, das mich voller Enttäuschung und traurigem Verständnis von seinem Gefängnis aus betrachtete, und eben als sie von der Menschenmenge auf der anderen Straßenseite verschluckt waren, da hob es wieder an – ein Ton von überirdischem Frieden und trotziger Freiheit von allem zu erwartenden Leid, der meinen Körper heiß durchflutete und mich köstlich bebend an der Ampel erglühen ließ...