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Von Alphatieren, einem verpatzten Date und der Geschichte vom wütenden Schwein
„Spring niemals über ein wütendes Schwein!“
Der Oberleutnant starrte mich an. Dann hielt er mir seinen Zeigefinger unter die Nase.
Ich betrachtete den Finger, nickte und schwieg. Was hätte ich auch sagen sollen?
Doch er schien zufrieden zu sein und überließ mich wieder meinen Gedanken. Verstohlen betrachtete ich, wie der Oberleutnant sich wieder auf seine Kiste setzte und seinen Blick inwärts richtete. Eine Minute verstrich, ohne dass etwas geschah. Dann seufzte ich.
Den Abend hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
Verdrossen und auf meiner Unterlippe kauend betrachtete ich die Landschaft.
Links befand sich eine langgezogene Hügelkette. Die Sonne linste über den mit Wiesen und Äckern bestellten Grat und überzog die einzelnen Kuppen mit einem rot-goldenen Tuch. Je tiefer meine Augen den Hang hinab folgten, desto dunkler wurden die Schatten, bis sie in der Nähe der Straße eine nachtschwarze Qualität gewannen. Rechts ragte die Silhouette eines Waldes empor, dessen silbrige Stämme sich wie die Perlen einer Kette entlang der Straße aufreihten. Die Straße selbst zog sich staubig von Ost nach West. Seit Stunden folgten wir ihr in Kolonne – zwölf Militärfahrzeuge mit unserem Pritschenwagen als Schlusslicht.
Es war falsch, einfach falsch. Der Tag hätte komplett anders verlaufen sollen.
Abermals dachte ich an Annika und daran, wie ich mit ihr den Abend hatte verbringen wollen: Essen bei Kerzenschein und danach ein, oder zwei Runden Rouletteficken – eine ihrer speziellen Ideen, mit denen sie mich mal wieder überrascht hatte. Das Ganze funktionierte folgendermaßen: Jeder wettete auf ein Zimmer, fing dann mit Küssen und Fummeln auf der Wohnzimmercouch an und überließ es dem Zufall, wo das Ganze endete. Zum Gewinnen gab es nichts. Verlieren konnte man jedoch auch nicht. Jedenfalls hatten wir uns zwei lange Monate weder gesehen, noch gehört. Nur hin und wieder war ein Brief von ihr eingetrudelt. Alles in allem also nicht gerade viel um eine Beziehung am Laufen zu halten.
Ich seufzte und blickte zum Oberleutnant. Er saß rechts von mir und hatte den Rücken gegen eine der olivfarbenen Kisten gelehnt, die fast die gesamte Ladefläche in Anspruch nahmen. Nicht zum ersten Mal überlegte ich, was sich darin befinden mochte.
Gern hätte ich meinen Begleiter gefragt, aber mir war es lieber, wenn er mich in Ruhe ließ. Zudem, wer weiß, ob ich aus seiner Antwort schlau geworden wäre. Spring niemals über ein wütendes Schwein, also ehrlich, der Kerl brauchte dringend eine Auszeit.
Der Wagen holperte durch ein Schlagloch, woraufhin ich wieder nach draußen starrte.
Es war das erste Mal, dass ich rückwärts sitzend auf einer Straße fuhr. Es kam mir vor, als ob ich in die Vergangenheit blickte. Ob nun Baum oder Strauch, geliebter Mensch oder verpasste Gelegenheit, alles schrumpfte und verschwand.
Als mir der Anblick der davoneilenden Straße zuwider wurde, konzentrierte ich mich wieder auf das Innere des Wagens. Ich besah mir die Plane, die an Streben befestigt war und das Dach sowie Seitenwände bildete. Sie war alt, abgenutzt und hatte an mehreren Stellen Löcher. Hätte es geregnet, wir wären bis auf die Haut nass geworden.
Auf Kniehöhe endete die Plane an metallenen Seiteklappen. An der Rückseite hatte man die Seitenplane weggelassen, so dass nur die knapp einen Meter hohe Metallklappe die Sicht auf die Landschaft einschränkte. Ich fand es ungewöhnlich, dass wir auf der Ladefläche saßen. Was mich abermals darüber nachdenken ließ, was sich in den Kisten befinden mochte.
Plötzlich bemerkte ich, wie der Mann aus seiner Brusttasche eine Packung Zigaretten kramte. Von dem Verlangen angesteckt, klopfte ich ebenfalls meine Taschen ab, bis mir einfiel, dass die Schachtel Camel sich mit meinen normalen Klamotten, versteckt hinter einem Busch befand. Fragend blickte ich ihn an, doch nachdem er sich eine angesteckt und den Rauch genüsslich durch die Nase geblasen hatte, steckte er seine Zigaretten wieder weg.
Mist. Mehr Mist, als an einem Tag möglich scheint, möchte man meinen.
Ich betrachtete die rötlichen Staubwolken, die unser Wagen aufwirbelte.
Wie schnell wir wohl fuhren? Ob ich es riskieren konnte abzuspringen? Und was dann? Würden sie halten und mich wieder einsammeln, oder einfach weiterfahren?
„Junge, Du solltest wissen, dass der Truppenübungsplatz, zu dem wir fahren, verflucht ist. Trotzdem würde ich es mir zweimal überlegen, ob ich aus einem fahrenden Auto springe.“
Wieder wusste ich nichts zu sagen. Es war fast unheimlich, mit welcher Präzision der Oberleutnant meine Gedanken erriet. Seltsamerweise schien er jedoch nicht zu ahnen, dass er sich den Platz auf der Ladefläche mit einem Zivilisten teilte. Aber vielleicht war es ihm auch egal. Jedenfalls sagte er nichts und saß die meiste Zeit mit geschlossenen Augen da und schien zu meditieren.
Der Abend war so befremdlich, dass ich es kaum noch aushalten konnte. Ich hatte das Gefühl an der Kante eines bodenlosen Abgrundes zu sitzen. Ein unüberschaubares, gähnendes Loch, über dem die Beine baumelten. Fast glaubte ich zu spüren, wie mein Blut, Augenblick für Augenblick, zur Tiefe hin absackte.
Zuerst würde ich ein leichtes Prickeln an den Fußsohlen spüren, dann würden die Waden schwerer werden und das Kribbeln zunehmen. Wie eine Horde Ameisen zöge das Gefühl meine Beine hinauf. Zentimeter für Zentimeter ein Pieksen und Stechen. Als Nächstes wären die Beine dran. Wie zwei Mehlsäcke würden sie taub an mir hängen und dem saugenden Druck des Abgrundes langsam nachgeben. Dann, wenn der Scheitelpunkt erreicht wäre, würde ich ganz langsam vornüberkippen.
Arrivederci - ein Sprung von einem fahrenden Laster war nichts dagegen.
Ich schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden.
Was immer mich an diesem Abend noch erwartete, ich musste schleunigst Halt finden, um das Kommende heil zu überstehen.
Ich überlegte, wie ich in den Schlamassel geraten war und gelangte zu dem Schluss, dass alles mit einem unschuldigen Anruf begonnen hatte.
„Hey, ich bin wieder da. Hast Du heute Abend Zeit? Ja? Wie wäre es, wenn Du mich abholst?“
Vier Briefe, zwei Monate Auslandseinsatz und dann so was! Als ob sie nur ein paar Tage Urlaub auf den Kanaren gemacht hätte. Typisch. Aber auch beneidenswert. Probleme. Stress. Hektik. Allesamt Begriffe, die für sie nicht existierten.
Damit war sie das genaue Gegenteil von mir. Meine erste Stressattacke bekam ich, wenn morgens der Wecker klingelte.
„Klar. Ich meine natürlich hole ich Dich ab. Ich ... wie geht‘s Dir denn. Bist Du heil angekommen?
„Ja alles paletti. Du, ich hab nicht viel Zeit, wir reden später. Sei einfach um vier da. Ich warte am Tor auf Dich.“
„Okay ist gut, ich ...“, aber da hatte sie schon aufgehängt.
Mit den restlichen Worten auf den Lippen starrte ich für drei oder vier Sekunden den Telefonhörer in meiner Hand an. Dann, von einem Moment zum anderen, fiel ich in mein gewohntes Verhaltensmuster zurück: Ich putzte.
Zuerst nahm ich mir das Bad vor. Als ich damit fertig war, wälzte ich meine Kochbücher, sortierte verdorbene Lebensmittel aus dem Kühlschrank und sortierte nach dem Einkauf neue wieder ein. Ich öffnete eine Flasche Wein, ließ ihn dekantieren, stellte Kerzen auf den Tisch und legte CDs von Miles Davis bereit. Anschließend rasierte ich mich, zog mich um, nahm jedes Zimmer noch mal in Augenschein und korrigierte hier und dort ein paar Details: ein staubiges Bild hier, das sie in Ausgehuniform beim Gelöbnis zeigte und ich mit einem nassen Lappen abwischte. Dort ein übervoller Aschenbecher, den ich ausleerte. Am Ende musste ich wie gewohnt zum Auto hetzen und mich durch den Verkehr fluchen. Schließlich stand ich vor der Kaserne - zu spät und wie immer ohne Blumen.
Kaum, dass ich bei der Wache am Tor ankam, stand sie plötzlich vor mir. Komplett in Tarnfleck und geschultertem G36.
Ich starrte sie an. Ich hatte nicht mit Schminke, oder einem Sommerkleid gerechnet, aber immerhin doch ausgehbereit. Doch bevor ich meine Überraschung überwinden und etwas sagen konnte, führte sie mich schon in die nahegelegene Wachstube.
Drinnen roch es nach kaltem Kaffee und Schuhcreme. Ich sah einen Tisch, auf dem mehrere halbvolle Kaffeebecher standen. Daneben lagen verstreut ein paar Männermagazine. Von den Heften erkannte ich den Hustler sowie den Playboy, der Rest war mir unbekannt. Mehr Ablenkung hatte der Raum nicht zu bieten. Es gab noch zwei Stühle, ein Waschbecken, in dem sich noch mehr schmutzige Kaffeetassen stapelten, eine Kommode mit einem scheinbar vielbenutzten Wasserkocher und ein Feldbett, in dem eine junge Frau schlief - ebenfalls in Tarnfleck.
„Warte kurz, ich muss schnell was regeln, dann habe ich für Dich Zeit.“
Sie ging zu der schlafenden Frau und rüttelte sie an der Schulter. Als sie sich murrend umdrehte, flüsterte Annika ihr etwas ins Ohr und deutete dann auf mich. Die Frau auf dem Feldbett nahm mich in Augenschein, seufzte und ließ sich rücklings ins Bett fallen.
„Scheiße, das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder?
Abermals flüstern.
Ich setzte mich auf einen Stuhl, blickte auf meine Hände und sah dann zu den beiden Frauen hinüber. Die eine hatte sich in dem Feldbett halb aufgerichtet. Die andere, in der Hocke kniend, redete auf sie ein. Ich betrachtete die Kaffeebecher, in denen graubrauner Schlamm vor sich hin trocknete. Schließlich nahm ich eine der Zeitschriften in die Hand und blätterte darin herum. Überall nackte Brüste, gepaart mit verschiedensten Gewehrläufen. Bei einem Bild hatte eine Frau den Mund auf die Mündung einer Waffe gelegt, während der Lauf zwischen den Brüsten hinunter zur Scham führte. Angeekelt nahm ich das Bild in Augenschein.
Was sollte daran lustvoll sein? Symbolisierte die Waffe das Spiel mit dem Feuer? Aber wozu sich dann den Lauf in den Mund schieben? Ich untersuchte die Details auf dem Foto, blieb jedoch unschlüssig. Irgendwie ging von dem Bild eine Drohung aus. Vielleicht lautete ja die Botschaft: Fick mich, oder ich bring mich um?
Erneut hörte ich ein Murren. Dann stand die Frau plötzlich auf, schlüpfte rasch in ihre Stiefel und zog die Jacke an, die über einer Stuhllehne gehangen hatte.
„Dafür bist Du mir einen Gefallen schuldig.“
Ein letzter Blick auf mich, in dem gleichermaßen Verachtung wie Unmut mitschwang und wir waren allein.
„Tut mir leid. Man hat mich in letzter Sekunde zur Wache verdonnert. Ich fürchte wir müssen einfach das Beste draus machen“, sie blickte auf die Zeitschrift in meinen Händen.
„Da ist wohl einer auf Entzug, was?“
Ich spürte, wie ich rot wurde, und legte die Zeitschrift hastig weg. Wie immer fiel mir nichts ein, wenn man mich verspottete. Selbst bei meiner Freundin blieb ich stumm wie ein Fisch. Zum Glück waren in unserer Beziehung die Rollen klar aufgeteilt. Schlagfertigkeit und Spontaneität fielen in ihre Rubrik. Waschen, Kochen, Bügeln in die meine.
„Also was ist? Willst Du weiter stumm rumsitzen und Dir Pornohefte reinziehen, oder kommst Du zu mir?“ Sie setzte sich auf das Feldbett und klopfte mit der Hand auffordernd neben sich.
Als ich aufstand, knarrte der Stuhl laut über den Boden.
Es mochte eine Stunde vergangen sein, als die mürrische Frau von vorhin in die Wachstube gestürzt kam.
„Los zieht euch sofort an, der Alte steht draußen!“
Der Alte war Oberleutnant Schick.
Schick gehörte zu dem Typ von Menschenschindern, die normalerweise nach ihrer Schulzeit eine Lehramtskarriere anstrebten. Für diesen Typus Mensch war soziales Geschick gleichbedeutend mit Disziplin. Ich kannte diese Sorte Mensch. Damals, zu meiner Schulzeit, gab es einen Sportlehrer namens Hoffmann. Der Prototyp eines jeden Schinders.
Jede Doppelstunde Sport begann mit einem 15-minütigen Aufwärmtraining, das immer gleich aussah. Man lief ohne Pause die jeweilige Spielfeldbegrenzung ab; bei schlechtem Wetter das Hallenrechteck des Fußballfeldes, bei gutem Wetter das Oval der Aschenbahn auf dem Sportplatz. Die Richtung, in die man lief, ergab sich nach dem Mehrheitsprinzip, und da die meisten Menschen instinktiv Linkskurven zu bevorzugen schienen, ging es immer gegen den Uhrzeigersinn.
Es gab jedoch immer ein paar Unverbesserliche, die gerne gegen den Strom schwammen und in „verkehrter“ Richtung ihre Runden drehten. Anfangs gehörte ich selbst dazu, wobei das nichts mit Rebellion zu tun hatte. Ich bevorzugte einfach die andere Richtung, jedenfalls kam es mir nicht in den Sinn, dass es eine falsche und eine richtige Richtung gab.
Eigentlich dachte ich an überhaupt nichts. Ich versuchte nur die fünfzehn Minuten durchzuhalten. Sport zählte, damals wie heute, nicht zu meinen Stärken.
Ich lief also los und hielt mich, wie im Straßenverkehr, rechts auf der Innenseite der Bahn und zählte meine Schritte. Dabei versuchte ich meine Atmung gleichmäßig zu halten und blickte zu Boden.
Einatmen – zwei Schritte laufen – Ausatmen – zwei Schritte laufen.
Wenn ich hörte, dass mir jemand entgegenkam, sah ich auf, betrachtete lachende, schwitzende oder stumpfe Gesichter und hielt mich möglichst rechts um niemanden im Weg zu sein. Waren die Läufer vorbei, starrte ich wieder zu Boden.
Zwei Schritte laufen – Einatmen – zwei Schritte laufen – Ausatmen.
Es war wichtig im Takt zu bleiben. Denn nichts fürchtete ich mehr wie Seitenstechen. Vor allem Seitenstechen war der Grund, warum ich Sport hasste. Das allseits verachtete Aufwärmtraining war mir dabei sogar noch das Liebste am Sportunterricht. Hier war es immerhin möglich, einen Takt zu halten. Bei Mannschaftssportarten gab es keinen Rhythmus. Ständig musste man Ball, Gegner und die eigenen Mitspieler im Auge behalten. Mal stand man herum, mal hetzte man los. Doch so, oder so, immer war es hektisch und immer stand ich nach kürzester Zeit am Seitenrand und schnappte nach Luft und hielt mir die Rippen.
Als ich meine dritte Runde begann, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Der neue Sportlehrer lief, ganz im Gegensatz zur Tradition sich irgendwo faul hinzufläzen, die Runden der Schüler mit und geradewegs auf mich zu.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie ein Geisterfahrer. Es war allerdings weniger der Umstand, dass ich auf Kollisionskurs mit meinem Lehrer war, was mich erschreckte. Es war mehr die Unaufhaltsamkeit, die er dabei ausstrahlte. Wie die Bugwelle eines Ozeanriesen staute sich seine Autorität vor ihm auf. Deutlich spürte ich die Aggression, die von ihm ausging. Auch wenn sein Gesicht auf seltsame Art leer und ausdruckslos blieb.
Ich wechselte die Bahn. Doch augenblicklich änderte auch der Lehrer seine Richtung und kam erneut auf mich zu. Wieder wechselte ich, doch der Sportlehrer korrigierte abermals seine Schritte.
Das Ganze kam mir so absurd vor, dass ich stehen blieb und grinste. Was sollte das alles?
Doch die Situation war nicht lustig, wie ich gleich erfahren sollte.
„Lauf gefälligst weiter! Oder Du bekommst einen Verweis!“
Der Lehrer hatte nicht geschrien, aber die Worte waren so laut gewesen, dass sie als Echo in der Halle tönten.
Einen Moment lang wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Der Lehrer hatte weder seinen Lauf noch seine Richtung gestoppt und gleich würde er mich über den Haufen rennen. Dennoch trabte ich wieder los und sprang im letzten Moment zur Seite. Der Lehrer lief an mir vorbei, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Verwirrt nahm ich meine Runde wieder auf, bis sich das Spiel wiederholte. Diesmal versuchte ich erst gar nicht auszuweichen, sondern sprang gleich zur Seite und erneut lief der Lehrer stumm an mir vorbei. Das Ganze ereignete sich Runde für Runde bis zum Schluss.
Ich hatte mich an das „zur Seite springen“ schon so sehr gewöhnt, dass ich gar nicht mitbekam, wie der Lehrer plötzlich seinen Arm ausstreckte. Mitten im Sprung prallte ich mit voller Wucht dagegen.
Ich stürzte zu Boden und schlug mit dem Rücken auf. Der Schmerz war so heftig, dass mir die Luft wegblieb. Doch einen Moment später wurde ich schon wieder in die Wirklichkeit zurückgerissen.
Schweigend hatte der Lehrer ein Büschel Haare gepackt und mich auf die Beine gezogen. Ich heulte auf, griff nach seiner Hand, doch vergebens. Er lief einfach los, mit mir an seiner Seite.
Ich schnappte nach Luft, stolperte, schaffte es aber trotzdem mitzuhalten. Das brennende Reißen und Ziehen an Haaren und Kopfhaut ließ mir gar keine andere Wahl. Ich hatte Tränen in den Augen und der Rotz lief mir aus der Nase, aber ich rannte.
Anfangs hörte ich ein paar Schüler lachen, aber als Runde auf Runde folgte, verstummten sie.
Die Tortur nahm kein Ende. Mein Gesicht brannte. Dunkle Flecken schwirrten vor meinen Augen und in meiner Brust tobte ein Seitenstechen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Aber es gab kein Erbarmen. Der Lehrer lief noch einmal die kompletten fünfzehn Minuten mit mir durch. Diesmal jedoch in der „richtigen“ Richtung.
Am Ende ließ er meine Haare einfach los, woraufhin ich augenblicklich zu den Toiletten rannte. Noch während ich über der Kloschüssel kniete und mein Mittagessen auskotzte, wurde mir bewusst, dass ich zwei wichtige Lektionen des Lebens gelernt hatte. Erstens schwimm nicht gegen den Strom und zweitens erkenne das Alphatier.
Oberleutnant Schick war das Alphatier. Das wusste ich, noch bevor ich ihn gesehen hatte. Und als Annika meine Kleidung nahm und aus einem schmalen Fenster warf, so dass sie versteckt hinter einem Busch landete, dachte ich mir nur: Schwimm nicht gegen den Strom.
Gehorsam nahm ich also die olivfarbenen Tarnflecksachen entgegen und zog mich um. Kurz darauf stand ich in Reih und Glied mit den Soldaten des 4. Drohnen-Infanterieregiments und lauschte Oberleutnant Schicks Worten. Er eröffnete uns, dass zur Eingewöhnung an einen zivilen Alltag eine einwöchige Truppenübung auf dem Militärgelände „Wilder Wald“ angesetzt war.
Kurz darauf fand ich mich, zusammen mit Oberleutnant Schick, auf einem Pritschenwagen wieder und fragte mich, wann es jemanden auffallen würde, dass ich, abgesehen von Schick, der einzige männliche Soldat des ganzen Zuges war.
Als ich aus meinen Erinnerungen auftauchte, war es stockdunkel. Ich blinzelte mit den Augen und starrte nach draußen, doch außer dem kleinen Lichtfleck, den die Rücklichter des Autos aus der Dunkelheit stanzten, war nichts zu erkennen. Es war schlichtweg finster. Keine Sterne, kein Mond, keine Straßenbeleuchtung. Es war so dunkel, dass ich nicht einmal zu sagen vermochte, ob wir uns auf freier Flur, oder in einem Wald befanden.
Auch innen, auf der Ladefläche, war es finster. Ich hielt versuchsweise meine Hand vor die Augen, aber ich konnte sie selbst dann nicht erkennen, als ich mir an die Nase faste.
Plötzlich flammte ein Feuerzeug auf und ich sah, wie sich der Oberleutnant eine Zigarette anzündete. Kurz darauf breitete sich wieder Dunkelheit aus, die nur von der rötlich glimmenden Zigarette unterbrochen wurde.
„Stehen Sie auf Geistergeschichten, Gefreiter? Sie sind doch Gefreiter?“
Ich schluckte. Mir war klar, dass ich irgendwann auffliegen musste, meinte aber zu wissen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für die Wahrheit war.
„Ja. Ich meine, ich steh auf Geistergeschichten. Wer nicht?“
Die Worte hingen in der Luft und ich konnte förmlich spüren, wie mich der Oberleutnant anstarrte und den Zivilisten in mir witterte. Ein verhängnisvolles Schweigen breitete sich aus, während die Zeit sich bis zur Unkenntlichkeit zu dehnen schien. Ich beobachtete, wie die Zigarette ein paar Mal aufglimmte, wobei dass das Gesicht meines Gegenübers rötlich aufleuchtete. Seine Augen blickten mich unverwandt an.
„Mein Junge, Sie sind nicht der Erste, der sich beim Militär verirrt hat.“
Da war sie wieder, diese unheimliche Fähigkeit mit einem schlichten Satz beim Gesprächspartner Entsetzen auszulösen. Ich starrte Schick an und überlegte, ob ich ihm alles gestehen sollte. Wie hieß es doch so schön? Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.
Doch Schick sprach weiter und verlängerte meine Galgenfrist.
„Wussten Sie, dass jeder Mensch in seinem Leben nur eine bestimmte Anzahl an Lektionen machen kann?“
Ich schüttelte den Kopf. Gleich darauf wurde mir bewusst, dass Schick die Bewegung unmöglich hatte sehen können. Doch er fuhr fort, ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten.
„Es sind genau drei! Nicht mehr und nicht weniger. Wann und wo wir diese machen, liegt nicht unserer Hand. Sicher ist nur, dass sobald wir die dritte Lektion gelernt haben, alles Weitere feststeht. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich das eigene Schicksal nicht mehr ändern.“
Die Zigarette glimmte ein letztes Mal auf, dann warf er den glühenden Stummel in die Nacht hinaus.
„Meine dritte Lektion lernte ich hier auf dem Truppenübungsplatz. Das war vor über zwanzig Jahren. Damals war ich Offiziersanwärter, und wie es nun mal so ist, hatte ich jede Menge blödes Zeug im Kopf: Heldenmut, Tapferkeit, Ehre, Unbesiegbarkeit …“
An dieser Stelle unterbrach sich Schick und kramte erneut seine Zigaretten hervor. Erst nachdem er sich abermals eine angesteckt und den Rauch in einer dicken Wolke ausgeblasen hatte, fuhr er fort.
„Damals sollten wir Gefechtsszenarien trainieren. Den ersten Tag begannen wir mit einem Orientierungsmarsch, um einen Überblick über das Gelände zu bekommen. Sechs Stunden durchstreifen wir in mehreren Trupps Wälder und Wiesen. Erkundeten strategische Orte, prägten uns markante Landschaftsmerkmale ein und legten Routen für Patrouillengänge fest. Am Abend bauten wir das Lager auf: pro Zelt zwei Mann - die berühmten Dackelgaragen. Außerdem legten wir eine zentrale Feuergrube und die Stellungen für die Wachposten an. Am Ende tarnten wir alles so weit ab, dass man auf zehn Schritt Entfernung nicht ein Zelt ausmachen konnte.
Natürlich war das alles nur Training und in den Magazinen steckten Platzpatronen, aber es bedeutete mehr als einfach nur Krieg spielen. Damals glaubten wir an das, was wir taten. Doch das sollte sich bald ändern.
Noch in dieser Nacht versuchten die Ausbilder sich in das Lager einzuschleichen. Das erste Mal, als die Nachtwache zur ersten Schicht gerade Stellung bezog. Das zweite Mal kamen sie kurz vor Morgengrauen. Ein paar Mann sorgten mit einer Menge Radau für die nötige Ablenkung, während die Ausbilder sich von der Rückseite des Lagers heranschlichen. Beide Male kam der Feind keine hundert Meter weit.“
Schicks Zigarette leuchte hell auf, als er kräftig daran zog. Seine Augen starrten in die Ferne einer längst vergangenen Zeit. Plötzlich räusperte er sich und sah mich mit einem Blick an, den ein Metzger für eine Rinderhälfte übrig haben mochte. Dann schnippte er die Asche samt Glut von seiner Kippe und es wurde wieder dunkel.
„Wir hatten also einen erfolgreichen ersten Tag und eine erfolgreiche erste Nacht hinter uns gebracht. Doch mit dem Licht des nächsten Tages änderte sich das.
Es begann damit, dass zwei Kameraden von ihrem Wachposten zurückkehrten, als sie ihr Zelt in Fetzen fanden. Ein Schlafsack hing, wie mit einem Messer zerschlitzt, an einem niedrigen Ast. Der ganze übrige Kram war verschwunden.
Natürlich gab es erstmal einen gewaltigen Anschiss. Es hagelte für den ganzen Zug disziplinarische Maßnahmen. Der Leutnant meinte, wenn uns unsere Schlafplätze so egal wären, dass wir nicht besser darauf achtgaben, dann könnten wir auch ganz darauf verzichten. Erst wenn wir den Wert einer richtigen Schlafstatt erkannt hätten, bekämen wir unser Zeug zurück. Bis dahin mussten wir mit dem vorlieb nehmen, was der Wald zu bieten hatte.
Damit waren die Leute von der letzten Wachschicht natürlich bei uns unten durch. Vielleicht ging deshalb die Frage nach dem Übeltäter unter. Den meisten genügte es zu wissen, dass irgendwelche Tiere das Zelt verwüstet hatten. Wie ein Tier es jedoch geschafft hatte unbemerkt ins Lager zu kommen, blieb unbeantwortet.
Doch im Laufe des Tages verloren sich alle Fragen. Schon am Morgen begann die Tortur, die sich zum Abend hin zu einer einzigen Schinderei auswuchs. Als wir endlich schlafen durften, störte uns nicht einmal mehr der bucklige Waldboden. Selbst als es in der Nacht zu regnen anfing, wachte niemand von uns auf, und falls doch, dann kroch man einfach unter ein paar Zweige und schlief weiter.
Verwüstet wurde in dieser Nacht nichts. Aber einige klagten über schlechte Träume, die sich alle auf verblüffende Weise ähnelten. Träume von einer borstigen Kreatur, die einem den stinkenden Atem ins Gesicht blies.
Da man jedoch nichts entdeckte, ließ man die Wachen diesmal in Ruhe. Als es jedoch später am Tag hieß, dass man die Stellung wechseln und das Lager an einem anderen Ort aufschlagen würde, atmeten alle erleichtert auf.
Zu Beginn der neuen Nacht waren wir mindestens 30 Kilometer vom vorherigen Standort entfernt und die Zelte wurden glücklicherweise wieder ausgegeben. Diesmal geschah nichts. Ein neuerlicher Scheinangriff von den Ausbildern wurde von den Wachen vorbildlich entdeckt. In nicht einmal zwei Minuten war das ganze Lager auf den Beinen und in den jeweiligen Stellungen. Die Gewehre feuerten und die Hülsen der Platzpatronen spritzten über die Köpfe der Verteidiger in die Dunkelheit davon. Alles verlief nach Vorschrift und das Selbstvertrauen kehrte zu uns zurück.
Die folgenden Tage waren gespickt mit Theorie und Praxis der Waffenkunde. Wir schossen mit präparierten Panzerfäusten auf Fahrzeugattrappen. Wir lernten die Präzision eines MGs zu lieben, nur um es anschließend zu verfluchen, wenn man zusätzliche acht Kilo auf einem Patrouillengang zu schleppen hatte. Alles in allem funktionierte die Maschinerie jedoch wieder reibungslos, bis eine Patrouille auf ihrer Runde das Wildschwein erspähte.
Ich sage das Wildschwein, weil man damals und später immer wieder ein und dasselbe Tier gesehen hatte. Es war unverwechselbar. Sowohl was seine Größe, als auch was seine Hässlichkeit betraf. Und es hatte nicht den geringsten Respekt vor uns!“
An dieser Stelle unterbrach sich der Oberleutnant erneut. Unruhig rutschte er auf seiner Kiste hin und her und ich wartete darauf, dass er sich wieder eine Zigarette ansteckte. Doch er tat es nicht. Die Minuten verstrichen und das Schweigen gewann eine ähnliche Konsistenz wie die uns umgebende Dunkelheit. Dann, als ich mich räuspern wollte, um den Oberleutnant aus seinen Gedanken zu reißen, begann er plötzlich weiter zu erzählen.
„Da war also das Schwein und hier eine unsere Patrouillen. Zuerst wollten sie im respektvollen Abstand an dem Schwein vorbeigehen, doch als sie näher kamen, änderten sie plötzlich ihre Meinung. Keine Ahnung, wer von den Kindsköpfen die Idee hatte, aber einer packte schließlich das MG aus und zielte auf das Schwein. Sie hatten zwar nur Platzpatronen dabei, aber sie dachten wohl, dass der Heidenlärm ausreichen würde, um dem Tier eine gehörige Portion Angst einzujagen. Es reichte nicht.
Im Gegenteil, sie machten das Schwein wütend. Kaum hatten sie eine Salve abgefeuert, da kam das Schwein auch schon angerannt. Die Jungs schafften es gerade noch so wegzukommen, aber das MG ließen sie dabei natürlich liegen.
Es war legendär! Einen größeren Anschiss habe ich seit damals nicht mehr gehört. Die Trottel von der Patrouille mussten jedenfalls erneut losziehen um das verlorengegangene MG zurückzuholen. Und damit sie keinen Scheiß bauten, sollte ich sie begleiten. Bis heute frage ich mich, wie ich zu dieser Ehre gelangte.
Was ich aber weiß ist der Gesichtsausdruck, den der Leutnant bekam, als die Helden, trotz Anschiss und aschfahler Gesichter, auf echter Munition beharrten. Nur für den Fall, dass das Schwein erneut angreifen sollte.
Natürlich bekamen sie nichts. Nichts, außer einem weiteren Anschiss, versteht sich. Also zogen wir mit Gewehren los, die außer Lärm keinen Schaden anrichteten.
Wir brauchten nicht ganz eine Stunde um den Ort zu erreichen, wo sie glaubten, das MG liegengelassen zu haben. Doch da war nichts. Alles, was wir fanden, war ein aufgewühlter Boden. Damit hätten wir es eigentlich belassen können. Doch dann überkam mich plötzlich die naive Vorstellung, die Mission müsse erfolgreich beendet werden.“
Schick unterbrach sich und gab eine Reihe unverständlicher Laute von sich. Die ich erst nach einer Weile als Lachen interpretieren konnte.
„Mission! Gott, was war ich damals doch für ein blödes Arschloch! Na, jedenfalls wollte ich von den Leuten wissen, wo sie das Schwein gesehen hatten und ging dann in die angezeigte Richtung davon. Ich musste nicht weit gehen, als ich eine Stelle entdeckte, wo der Boden erneut aufgewühlt war. Dort entdeckte ich einen schmalen Pfad, der sich in einen lichten Wald hineinschlängelte.
Ich gab meinen Kameraden ein Zeichen, dass ich mich umsehen wollte, und ging weiter.
Ich weiß noch, wie verdammt mutig ich mich damals gefühlt hatte. Heute kann ich über so viel Dummheit nur noch den Kopf schütteln. Jedenfalls brauchte ich dem Pfad nicht lange zu folgen, als ich zwischen den Bäumen einen alten Bunker entdeckte.
Ich schlich mich vorsichtig heran und hielt mein Gewehr bereit. Langsam, Schritt für Schritt, näherte ich mich dem Gebäude. Weit und breit war nichts von einem Schwein zu sehen. Ich umrundete einmal den Bunker und stellte fest, dass es mehr eine befestigte Stellung war. Ein mit Mauern gesichertes MG-Nest mit schmalen horizontalen Schießscharten, mit denen man das Gelände nach allen Seiten absichern konnte. Oben drauf ein Deckel aus massivem Stahlbeton.
Ich drehte eine weitere Runde und blickte immer wieder durch die Schießscharten in das Innere. Nichts, kein Schwein. Das Gebäude war leer.
Ich überlegte, ob ich es damit gut sein lassen sollte, als mir ein markanter Geruch auffiel. Aus dem Inneren des Gebäudes wehte ein muffiger Gestank, woraufhin ich beschloss, den Innenraum zu untersuchen. Also ging ich zum Eingang und zwängte mich an Zweigen und Ästen vorbei, die das Gebäude umwuchert hatten.
Drinnen war es duster. Ich brauchte einen Moment, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewohnt hatten, dann sah ich mich im blassen Licht, das durch die Schießscharten fiel, um.
Viel gab es jedoch nicht zu sehen. Es gab weder die üblichen Müll- und Scherbenhaufen vergangener Festivitäten, noch eine marginale Ausstattung, die als Einrichtung durchgehen konnte. Lediglich ein paar Zweige und halbvermoderte Blätter, die der Wind, oder irgendetwas anderes, zu einem Haufen zusammen getragen hatte, lagen in einer Ecke.
Als ich mich dem Haufen näherte, wurde der Wildgeruch stärker. Es schien, als ob ich das Lager des Schweins entdeckt hatte, aber von dem verlorengegangen MG fehlte jeder Spur.
Ich fluchte und wollte das Gebäude gerade wieder verlassen, als ich plötzlich, keine zwei Meter von mir entfernt, das Schwein stehen sah.
Bis dato hatte ich mir unter einem Schwein immer ein haarloses blass-rosa Tier vorgestellt. Ein nettes schmackhaftes Ferkel mit Schlappohren und Ringelschwanz. Das Vieh vor mir hatte damit so viel Ähnlichkeit, wie eine handelsübliche Rennpappe aus dem Osten zu einem Monstertruck.
Es hatte nicht nur zentimeterlange drahtige Borsten und unterarmlange Hauer. Sondern es war auch so groß, wie eine Harley Davidson.
Mir wurde plötzlich bewusst, wie lächerlich ich in diesem Moment mit meinem Gewehr aussehen musste, das lediglich Platzpatronen ausspucken konnte. Mir war klar, dass ich irgendwie an dem Vieh vorbei musste, wenn ich hier herauswollte. Versteckmöglichkeiten gab es keine und die Schießscharten waren zu schmal, als dass ich mich hätte hindurchquetschen können. Hilflos starrte ich also das Schwein an, das meinen Blick auf eine Art und Weise erwiderte, wie ich es noch bei keinem Tier erlebt hatte. In diesen Augen, die vor Bosheit nur so funkelten, lag ein Ausdruck von solcher Verachtung, wie es keinem Tier zustand.
Hier stand ich. Ein Mann, ein Soldat in bester körperlicher Verfassung. Trainiert für Krieg und Schlachten. Und dort ein Tier, das auf all das spuckte.
Mein Gott, wenn ich daran denke, wie mich diese Augen angestarrt haben, dann spüre ich noch heute, wie in mir die Scham aufsteigt. Ich glaube, es war diese verletzte Eitelkeit, die mich dazu brachte, dass ich mein Gewehr hob und auf das Schwein feuerte. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn ich es nicht getan hätte.“
„Was passierte dann?“
Der Oberleutnant schwieg. Dann nach einer Minute, oder so, sprach er weiter.
„Der Lärm war ohrenbetäubend. In dem Raum vervielfachte sich der Lärm. Jeder einzelne Knall explodierte als zigfaches Echo an den Wänden. Es war so laut, dass es in den Ohren schmerzte.
Doch anstatt das Schwein zu verscheuchen, wurde es wütend. So richtig wütend.
Es riss sein Maul auf und zeigte mir seine Hauer, mit denen es mich gleich aufspießen würde. Dann rannte es auf mich zu.
Das war der Moment, wo mir bewusst wurde, was es heißt in einer Situation zu sein, in der es um Leben und Tod ging. Sämtliche Möglichkeiten, die man im Leben hat, schrumpften plötzlicher zu einer letzten Verbleibenden zusammen. Entweder man tat das Richtige und überlebte, oder ... eben nicht.
Das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel, war: Springen, oder stehenbleiben. Ersteres war gefährlich, Letzteres tödlich. Also sprang ich.“
„Und dann, was ist dann passiert?“
„Ich bin hier, also habe ich überlebt.“, der Oberleutnant schnaubte.
„Das Mistvieh hat mich dennoch erwischt. Mitten im Lauf blieb es stehen und schnappte mit seinem Maul nach oben. Das verdammte Schwein hatte sich an dem Tag nicht nur das MG unter den Nagel gerissen, sondern sich auch meine Familienjuwelen einverleibt!“
Der Oberleutnant schwieg. Ich glaubte zu spüren, wie sein Blick auf mir lastete, wagte es aber nicht die Stille zu unterbrechen. Als jedoch die Minuten verstrichen und Schicks Schweigen immer tiefer wurde schien, faste ich mir ein Herz. Schwer schluckte ich den Kloß hinuter, der sich in meinem Hals breit gemacht hatte, und fragte: „Wieso erzählen Sie mir so eine Geschichte?“
Schick holte seine Zigaretten hervor. Dann, als er eine brennend zwischen den Lippen hatte, schaute er mich mit einem langen Blick an. Er ballte eine Hand zur Faust und klopfte energisch gegen die Wand der Fahrerkabine. Sekunden später hielt der Wagen an.
„Zeit auszusteigen Junge.“
Ich starrte in das von der Glut der Zigarette rötlich schimmernde Gesicht. Ich hörte wie die Türen von Fahrer und Beifahrer aufgingen und wieder zuschlugen. Schritte ertönten, dann leuchteten zwei Taschenlampen in den Laderaum. Ich wandte mich geblendet ab, als die Verriegelung der Metallklappe gelöst wurde. Kurz darauf kletterte jemand auf die Ladefläche und zwei kräftige Hände legten sich auf meine Schultern. Mir wurde bewusst, dass der Moment der Wahrheit gekommen war.
„Was ..., was haben Sie mit vor?“
„Ich werde Dir eine Lektion ersparen, Junge. Nicht mehr und nicht weniger.“
Ich landete unsanft auf der Straße und schaute nach oben zu Schick.
„Komm gut nach Hause und merk Dir: besser ein halber Mann, als gar keiner.“
Ich sah wie seine Zigarette aufglühte. Dann schnippte er sie in die Dunkelheit der Nacht davon.
Fahrer und Beifahrer stiegen wieder ein und der Motor erwachte zum Leben. Der Wagen nahm Geschwindigkeit auf und reihte sich erneut an das Ende der Kolonne ein.
Ich stand da und starrte den Rücklichtern nach, bis sie in der Ferne verschwanden.
Rechts von mir erahnte ich einen namenlosen Wald, in dem der Wind leise in den Wipfeln der Bäume spielte. Auf der anderen Seite spürte ich die Leere von Feldern und Wiesen.
Ich drehte mich um und begann einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sorgsam ertastete ich mir den Weg über Kies und Schotter der Straße. Es vergingen Stunden, bis die Schwärze der Nacht verblasste und die Sonne den Horizont grau zu färben begann.