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Von der Mitte bis zur Südvorstadt
Der raue Asphalt glänzte und am Horizont sah es so aus, als sei das dreckige Schwarz der Nacht vom Silber des Morgens überzogen. Wie von einer scharfen Klinge wurden so Himmel und Erde getrennt, die Erde, rau und schmutzig, der Himmel, undurchsichtig, grauschwarz und verrauscht.
Eine Schneeflocke schwebte hin und her auf den letzten zehn Zentimetern, die es noch zu fallen gab, bevor sie auf der Spiegelfläche des Asphalts erstarb, in der ihr Tanzen zu einer innigen Umarmung in sich selbst schmolz.
Aus der schwarzen Welt, die der Asphalt bot, waren Riesen emporgewachsen die das Licht nahmen, das der Nachthimmel der Stadt zurückgeben wollte. Und in die Häuserschlucht drang nur das gleißend gelbe Strahlen der Laterne, das tausend kleine Tode starb, als eine Gruppe Menschen daran vorbeiging. Einer trat die Lampe aus, versenkte die Gasse im Dunkel und das Rot des Blutes auf der Straße dieses schmutzigen Hinterhalts wurde in der Nacht weggewaschen.
Der Körper der jungen Frau lag ein letztes Mal im Scheinwerferlicht, wurde fotografiert von allen Seiten und doch konnte das Modell seine Starren nicht von der nackten Straße abwenden. Die trüben Augen reflektierten den kalten Asphalt und ließen sich nicht stören, von den feuchten Schuhen in Plastebeuteln, die so nah neben dem Kopf aufsetzten, dass der Luftzug die Wimpern sanft schwingen ließ.
Dann wurde der Körper angehoben von zwei Männer, gekleidet in stattliche schwarze Anzüge, als hätten sie sich zurecht gemacht, dem Mädchen eine letzte Ehre zu erweisen, bevor sie in der grauen Kiste ihren Platz fand und aufgeladen wurde um ihre letzte Reise anzutreten.
„Er hat es wieder getan.“
Die Augen des Kommissars wirkten müde und traurig und wie zur Unterstreichung seiner Miene schlürfte er einen heißen Schluck Kaffee aus einem Pappbecher ohne Deckel. Beide Hände wärmten sich daran, doch als der Leichenwagen auf die Fußgängerzone der Hainstraße einbog, fröstelte der junge Mann erneut und wandte sich zu seiner Kollegin um. Sie schüttelte den Kopf, wandte ihren Blick von der Stelle ab, auf der das graue Auto eben gestanden hatte und verfolgte dessen Fahrt durch den frühmorgendlichen Berufsverkehr. Es war als hätte die Welt vor Trauer das schwarze Tuch der Nacht durch ein graues ausgetauscht, nur damit die Menschen auch sahen, welche Grausamkeit unter ihnen weilte. Und die Bäckerin die am Morgen die Leiche des Mädchens gefunden hatte, hatte dies bereits erkannt und wimmerte immer noch am Rande der Szenerie, wo die Rettungsassistenten ihr einen Tropf angelegt hatten.
„Wir müssen schauen was unsere Auswertungen ergeben, ich denke ich melde mich gegen Mittag bei euch.“
Die Stimme des alten Gerichtsmediziners klang bedrückt und tatsächlich senkte er den Kopf, als er an Alexander, dem zuständigen Kommissar des Falls und seiner Kollegin Christina, einer Fallanalytikerin, die seit die ersten beiden Morde geschehen waren, in Leipzig lebte, vorbeiging.
„Viel Erfolg“ sagte der Kommissar und klopft dem Vorbeigehenden auf die Schulter. Dieser schaute noch einmal auf und schnaufte geräuschvoll, dann stieg er in den silbernen Van und fuhr langsam durch die Fußgängerzone davon.
„Machen wir uns auch auf den Weg“, sagte Christina und tippte ihren Kollegen an. Alexander nickte und suchte dann in seinem Mantel nach der Fernbedienung für den Passat. Die Rückleuchten blinkten auf und ein letzter Blick über die Schulter verriet dem erfahrenen Beamten, dass die Bäckerin die gleiche Hilfe bräuchte, die Christina und er in Anspruch genommen hatten, seitdem sie den Fall betreuten.
Die Mordserie die Leipzig seit dem Dezember erschütterte, war durch die Medien gegangen, wie die Pest durch die Geschichte. Sie hatte die Menschen mitgerissen, sie forderten Vergeltung und klagten an, doch auch das Einschalten einer Sonderkommission hatte ihnen noch keine Befriedigung verschafft. Die blutigen Verbrechen schufen blutige Rachegelüste.
Alexander und Christina kannten jeden der Schauplätze des nächtlichen Schauertheaters, das nur zwei Akteure beschäftigte und das nur über die Rezension in der Presse Kontakt zu einem Publikum erhielt. Während der Mörder immer der gleiche war, inszenierte er sein Stück mit wechselnden Komparsen, immer junge Mädchen, jedes Mal ein neues Schneewittchen. Die Lippen blutrot, die Augen eisblau, die Haare Ebenholz, so sollten sie im Schnee ihre Ruhe finden und den ewigen Schlaf zelebrieren im Sarg aus Kälte und Eis. Doch dieses Mal war die Rechnung nicht aufgegangen, der Schnee verhüllte die Nacht nicht genug, er schmolz, noch bevor jemand den Kokon aufbrechen konnte, den der Mörder als Sarg vorgesehen hatte.
„Vielleicht bricht seine Vision jetzt zusammen.“ Christina dachte eher laut, als dass sie sich über ihre Analysen unterhalten wollte. Sie war ein Profiler, untersuchte die Fälle mithilfe genauer operativer Analysen der Indizien und Spuren am Tatort. Seit dem dritten Mord hatte Christina die wiederkehrenden Verhaltensmuster genauer deuten können, ein sozio-ökonomisches Bild des Täters war erstellt.
Er müsste sorgfältig und anpassungsfähig sein denn er hatte es bei den ersten leichen immer geschafft ein wiederkehrendes Bild zu schaffen. Eine junge Frau, an der kein Tropfen ihres eigenen Blutes, dafür aber eine Menge Kunstblut klebte, sorgfältig angezogen und eingepackt in ein Iglu aus Schnee. Der Täter musste also trotz spontanem Beginn einer nächsten Inszenierung alles richtig machen denn man sah keine Kampfspuren, es schien, als überwältigte er die Frauen nicht. Außerdem schätzte Christina ihn eher intelligent ein, er war wenig impulsiv und agierte strategisch. Wahrscheinlich war das Medieninteresse eine Art Bestätigung, die er erfahren wollte, erfahren musste, weil er in seinem Privatleben die Erfüllung nicht fand. Er musste äußerst intelligent sein, aber konnte kein Lehrer oder Universitätsdozent sein, dazu lebte er wahrscheinlich zu zurückgezogen. Und dann war da noch die Art des Mordens…
„Dasselbe Vorgehen wie immer, es ist definitiv euer Täter.“
Alexander und Christina kamen gerade aus der Pause, als das Telefon am Arbeitsplatz des Kommissars klingelte. Professor Langer hielt seine Versprechen, man konnte die Uhr nach seinen Anrufen stellen. Nun war es zwei nach zwölf.
Christina sah ihren Kollegen nicken und setzte sich auf die Alexander zugewandte Seite des großen Tisches, der ihr gemeinsames Büro in der Mitte teilte. Er wiederum saß mit dem Rücken zum Fenster an seinem Arbeitsplatz und rückte seinen Stuhl schräg, damit er das Licht, das ihm über die Schulter schien, ausnutzen konnte um das Gespräch mitzuschreiben. Er drückte den Stift verkrampft auf und Christina sah, dass seine Fingerkuppen sich hell färbten. Nachdem er aufgehört hatte, das Papier zu quälen, wechselte Alexander noch einige Worte mit dem Gerichtsmediziner und knallte dann den altmodischen Hörer in die Station.
„Wieder Stickstoff, wieder Kunstblut , wieder keine Kampfspuren.“
Das war alles, was Christina wissen musste. Entweder war es, wie bereits befürchtete, der Kokonmörder. Oder es war ein Trittbrettfahrer? Christina überlegte kurz. Wäre es möglich dass jemand den Medienrummel für sich nutzen wollte, die Gefahr durch die SOKO vernachlässigte und die Taten des Kokonmörders nachspielte? Das konnte nicht sein, es waren keine Informationen über den genauen Tathergang veröffentlicht worden. Nur der Täter selbst konnte wissen, dass das Einflößen von Stickstoff zum Tode führte und dass kein echtes Blut vergossen wurde.
Während Christina den Zettel mit den Notizen abschrieb, telefonierte Alexander mit dem SOKO-Team und gab mal wieder die Anweisung zu allen Kostümläden, Requisitenausstattern und sonstigen Läden zu fahren, in denen der Täter das Kunstblut gekauft haben könnte. Insgeheim wusste er, dass dies nichts brachte, nicht nur gab es hunderte von Online-Shops und Ebay-Anbieter die Kunstblut führten, auch selbst anrühren konnte man es aus einem Gemisch aus Lebensmittelfarbe, Gelatine und vielleicht noch Kakao. Die genaue Zusammensetzung des Präparats, das der Täter benutzte, war immer anders, hieß dies, verschiedene Hersteller oder eigenes Mischverfahren?
Hinzu kam, dass Faschingszeit war, schoss es Alexander durch den Kopf und während er seine Anweisungen gab, sackten seine Schultern nach unten. Die Euphorie darüber, dass dieser Mord scheinbar unvollkommen war, legte sich, die standen doch nur wieder am Anfang. Mit jeder neuer Tat hoffte man bei der Auswertung der Videobänder von Faschingsausstattern bekannte Gesichter zu erkennen. Insgeheim war dies eine Sackgasse, das wusste Alexander, eine Sackgasse, die ihm jedoch die Vorwürfe der Untätigkeit vom Hals hielten. Es wurde jemand gesucht, es gab Anhaltspunkte und das hieß, dass man etwas gegen den Täter in der Hand zu haben schien.
Christina kopierte in ihrem Computerprogramm die meisten Angaben vom letzten Reiter in das Eingabefeld des neuen. Sie hatte selten so viele Seiten einer Arbeitsmappe gebraucht. Zu viele Seiten, zu viele Morde ohne Lösung des Falls. Es gab keine neuen Erkenntnisse. Sie hoffte dass ihr Plan aufgehen würde und druckte den am Vormittag vorbereiteten Text für den Pressesprecher aus.
Albrecht Simon war aufgeregt und als er Christina, die Profilerin, die man zur SOKO Schneewittchen hinzugezogen hatte, auf sich zukommen sah, atmete er noch einmal tief durch und straffte seine Haltung.
„Hebe unbedingt hervor, dass der Täter ungenau arbeitet und dass die Leiche diesmal in keinem guten Zustand gefunden wurde. Der Täter muss sich persönlich“, Christina suchte nach dem passenden Wort, fand aber kein besseres, „provoziert fühlen.“
Abrecht nickte und blätterte dabei in der Mappe die ihm Christina gegeben hatte, während sie ihm mit eindringlichem Blick die wichtigsten Infos zusammenfasste. Dann atmete er durch und verschwand hinter dem Vorhang auf der Bühne, vor der die Journalisten und Fotografen schon warteten. Christina folgte ihm und nahm neben ihm Platz. Das machte den jungen Kommunikationswissenschaftler noch mehr zu schaffen. Der Reiz der von Christina ausging war, dass er so gar keine persönliche Beziehung zu ihr aufbauen konnte, egal wie oft er mit ihr über die Kriminalfälle sprach. Immer blieb sie strikt beim Thema, immer gab sie ihm kühl die Informationen die er benötigte, doch in ihren Augen sah er, dass es in ihr loderte und sie selbst vor Abscheu vor den grausamen Taten darauf brannte, den Mörder zwischen den Händen zu zerquetschen. Arbeitete sie noch objektiv genug? Er schätzte schon, sie hatte eine Strategie gefasst und wollte den Täter reizen hatte sie gesagt. Er würde ihr dabei helfen. Dann trat er näher ans Mikro.
Abrecht Simon verkündete die Informationen, die er hatte. Erst fasste er die vergangenen Fälle zusammen, erzählte von der ersten Leiche, gefunden vor einem Souvenirladen in den Promenaden des Rathauses. Dort war ein Gehsteig überdacht und als die Verkäuferin den Laden aufschloss, hatte sie zuerst geflucht über den Winterdienst, der ihr die geschobenen Schneemassen einfach vor der Tür abgeladen hatte. Doch in diesem Haufen war mehr als nur der Schnee der vergangenen Nacht…
Die Leiche des zweiten Falles fand man ebenfalls unter einer Überdachung, sie nur wenige Meter weiter vor einem Steakrestaurant im Salzgäßchen gegenüber vom Naschmarkt. Nachdem der diensthabende Restaurantleiter den Schneehaufen entdeckt hatte, rief er direkt bei der Polizei an. Im Team seien die Morde Gespräch gewesen, sagte er, einer der Kellner kannte das erste Opfer des „Kokonmörders“.
Danach hatte der Täter noch viermal zugeschlagen. Immer legte er die Leichen in der Innenstadt ab. Am Eingang zum Speck’s Hof auf der Grimmaischen Straße, vor dem Eingang des neuen Karstadt-Einkaufspalastet gegenüber des Petersbogens (hier hatten Kinobesucher der Spätvorstellung die Polizei informiert als sie auf dem Heimweg den Schneehauen fanden), dann im Vorraum der Sparkasse am Markt, und vor einem Currybude in der Grimmaischen, direkt in der Nähe des Augustusplatzes, wo die Bauarbeiter des neuen Unigebäudes auf den sargförmigen Schneehaufen aufmerksam wurden.
Dieses Mal, schloss Simon an detailliert den derzeitigen Stand der Ermittlungen wiederzugeben, hatte die Leiche zu nah an einem vorherigen Tatort gelegen. Die Abstände waren immer recht gleichmäßig gewählt. Zwar hatte der Täter in der Vergangenheit auch schon zweimal die belebte Grimmaische Straße genutzt, aber der Abstand der beiden Sarkophage aus Schnee waren weit genug auseinander auf der großen Straße verteilt. Auf der Hainstraße jedoch waren es nur etwas einhundert Meter, die den fünften und den letzten Fundort trennten. Hier, vor dem Lieferanteneingang des Backdiscounters, hatte ein Schneehaufen gelegen, kleiner als die letzten, nicht sorgfältig aufgeschichtet. Die Bäckerin, die früh den Laden öffnete, hatte ein Stück einer fellbesetzten Kapuze aus dem Schneehaufen schauen sehen, dann hatte sie sofort die Polizei informiert und einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie dachte an einen Mord, nicht zuerst dann den Kokonmörder aber sofort nachdem die Beamten die Leiche gesehen hatten, wussten sie, dass hier niemand seine Tat unter dem Mantel des derzeit berühmtesten Mörders Deutschlands vertuschen wollte.
Etwa gegen sechs Uhr war dies geschehen, dann rückten Polizei und Spurensicherung an und schon vor wenigen Stunden hatten diese ersten Informationen. Die Leiche sei diesmal nicht, wie bei den vergangen Malen, mit Stickstoff eingehüllt und getötet worden, diesmal hatte man der Frau zwar oral Stickstoff verabreicht, aber die Konservierung der Leiche war eher schlampig vollzogen worden. Nachdem Albrecht dies gesagt hatte, biss er sich auf die Zunge, schaute zu Christina, diese nickte aber, also fuhr er fort. Die Leiche war zu warm bevor der Täter sie mit dem Schnee bedeckt hatte, außerdem gab es zu wenig Schnee und so war der Kokon fast vollständig abgetaut, noch bevor die Polizei eingetroffen war. Auch die Kleidung des Mädchens war diesmal nicht sorgfältig angezogen worden, teilweise wurde sie einfach unter die Leiche gelegt worden. Albrecht äußerte die Vermutung Christinas, dass der Täter bei der Präparation gestört worden war. Noch während Albrecht seine Notizen ordnete und weitere Verfahrensweisen der Polizei erklären wollte, verlangten die ersten Journalisten ungehalten nach der Beantwortung von Fragen.
Wer das Mädchen sei, wollte einer wissen, und Albrecht antwortete, diese Informationen wird man noch nicht preisgeben, bis man nicht die Angehörigen informiert hätte. Ein anderer wollte den Ermittlungsstand zu den anderen Morden erfahren, gab es schon Vernehmungen, hätte man Zeugen? Auch hier antwortete Albrecht wahrheitsgemäß, keine Zeugen der Tat selbst, Vernehmungen von Kommilitonen und Arbeitskollegen der toten Frauen, jedoch keine Verdächtigen. Ob man den Täter in Leipzig vermutete, wollte der freie Redakteur der LVZ in der ersten Reihe wissen, der jede Pressekonferenz verfolgte; Albrecht antwortete, man müsse sich an Frau Kämmerer wenden.
Dann schrak Albrecht auf, seine Augen weiteten sich und sein Kopf fuhr herum zu Christina. Sie sah ebenfalls verunsichert aus, ihre Augenbrauen formulierten ihr Missbefinden und erst auf ihr Nicken hin, wandte sich Albrecht den Presseleuten zu und bat sie, den Namen der Ermittlerin nicht abzudrucken.
„Wie konntest du meinen Familiennamen ausplaudern!?“
Christina ging mit schnellen Schritten voraus und Albrecht konnte trotz Mühe kaum Schritt halten. Es war, als flögen die Pumps, die sie zusammen mit ihrem Hosenanzug nur zu bestimmten Anlässen wie Pressekonferenzen trug, mit ihr über den matten PVC-Boden.
„Es tut mir leid, ich …“ doch weiter kam der Pressesprecher nicht, der Fahrstuhl nahm die Profilerin mit nach oben und er schlug wütend gegen die verschlossene Tür.
Am nächsten Morgen schlug die Kälte der vergangenen Nacht Christina mit voller Härte entgegen. Sie schloss die Tür ihrer Wohnung in der Körnerstraße ab, zog ihre Handschuhe an und suchte die Straße nach Alexanders Auto ab. Er stand noch nicht mit seinem Wagen am Bordstein, also verharrte sie am Hauseingang. Eine Schneeflocke wurde von ihrer Körperwärme angezogen, und landete auf ihrer Lippe. Schnell schmolz sie und Christina fuhr mit der Zunge über die Stelle, an der der kleine Kristall zu einem Wassertropfen geworden war. Dann zog ein Auto ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Ein roter und kantiger Volvo, kein neues Modell, eher ein Kandidat für die Abwrackprämie, fuhr aus Richtung Bernhard-Göring-Straße langsam die holprige Körnerstraße entlang. Als er auf Höhe von Christinas Doppelhaushälfte war, blieb er vor dem modernen Haus mit der Baustelle daneben fast stehen und der Fahrer stierte förmlich durch das Fenster, um die junge Frau genauer zu betrachten. Der Volvo, dessen Motor ungleichmäßige Geräusche machte hielt und der Mann darin machte Anstalten, die Scheibe herunterzukurbeln.
„Christina?“ rief der Fahrer zum Hauseingang rüber und die junge Beamtin rollte mit den Augen. Bestimmt einer von der Zeitung, wie damals, der Berliner U-Bahn-Mörder-Fall. Sie hatte ein kleines Loft in der Stadt und ständig wurde sie unten beim Bäcker von Journalisten abgefangen, die scheinbar intern Adressen von nicht-öffentlichen Auskunftsstellen sammelten und weitergaben.
Christina versuchte den roten Wagen zu ignorieren und tatsächlich schien es zu klappen, denn nachdem der Fahrer noch einmal zu ihr rüber gerufen hatte, kurbelte er die Scheibe wieder hoch und bald kam das Auto wieder in Bewegung. Christina musterte den Volvo genau. Leipziger Nummernschild, L-P 9. Keine Initialen, auch kein Geburtsjahr. Auf der Heckscheibe das Länderkennzeichen und neben dem Nummernschild ein Aufkleber in Form eines X. Es war eine Art Männchen, das erkannte Christina an dem Punkt der scheinbar zwischen den Ärmchen des V hing. Unter den vermeintlichen Beinen stand etwas in schwarzer Schrift, aber alles in allem war der Aufkleber zu klein, um aus der Entfernung Aufschluss zu geben. D
Die Profilerin beschloss im Büro der Herkunft des Stickers auf die Spur zu gehen wenn sie einmal eine Pause hatte. Wahrscheinlich konnte sie dadurch auf eine Presseagentur oder Redaktion schließen und diese aufgrund der privaten Belästigung in die Schranken weisen. Aus ihren Überlegungen gerissen wurde sie durch ein Hupen das einem Auto an der Kreuzung zur Göring-Straße ausging. Dann rollte auch schon Alexander um die Kurve in die Toreinfahrt unter Christinas Schlafzimmer hinein, und sie stieg ein.
„Warum hast du ihn denn nicht wenigstens gefragt, was er wollte?“
Alexander schüttelte den Kopf und fuhr dem roten Volvo nach. Er hoffte das Auto an der Kreuzung zur Karli noch zu erwischen, danach gab es kaum noch eine Chance, da der Verkehr rege war und die Straße zu schmal war um etwaige Straßenbahnen zu überholen, wenn, wie jetzt, überall Autos parkten.
„Scheiße.“ murmelte er, als er das beschriebene Auto weder links, noch rechts, noch geradezu sah und noch mehr nervte ihn, dass Christina sich nicht mühte.
„Es ist doch nichts dabei, er wollte Infos, er hat sie nicht bekommen, jetzt ist er weg.“
„Aber er weiß wo du wohnst, das ist Mist!“
Christina wusste auf was Alex hinaus war. Sie jedoch glaubte nicht, dass der Kokonmörder sein strategisches Vorgehen vernachlässigen würde, um eine Fahnderin einzuschüchtern. Deswegen ließ sie Alexander weiterhin glauben, dass sie der Meinung war, ein Journalist sei ihr auf den Fersen.
„Ich habe schon eine Spur, ich finde raus zu welcher Pressestation er gehört und kläre das!“
Christina erzählte Alexander von dem Aufkleber, doch auch der erfahrene Kommissar kannte das Motiv trotz häufigem Kontakt zur Presse nicht. Aber Alexander war immer noch aufgebracht. Es war nicht gut, wenn zu viele Leute wussten, wo jemand wohnte, der in einer Sonderkommission zu tun hatte. Es war sogar gefährlich. Und Alexander wusste, wie gefährlich.
Es war vor zwei Jahren gewesen, als seine Frau während Alexanders Raucherpause anrief. Es war am Nachmittag, sie hatte wohl gerade Feierabend.
Was hast du denn, wollte er fragen, hatte dabei gegrinst und sich auf ihre Stimme gefreut. Doch er kam nicht dazu, irgendetwas zu sagen. Ob er die Kleine abgeholt hätte, hatte sie unsicher gefragt, warum er ihr darüber nicht Bescheid gegeben hatte. Alexander hatte sofort einen Kloß im Hals gespürt. Wahrscheinlich, so erklärte er später, hatte sein Herz versucht, ihn zu ersticken. Auch das Wimmern am anderen Ende der Leitung hatte gezeigt, dass seine Frau genauso gut wie er gewusst hatte, was passiert war. Der Erpresser hatte seine Drohung wahr gemacht. Seit Wochen schrieb er an jedem Montag und an jedem Donnerstag Briefe und forderte, dass Alexander die Arbeit an einer Serie von Rauben einstellte. Es gab erhöhte Sicherheitsbestimmungen, doch Alexander wollte nicht, dass er von dem Fall abgezogen würde, er sah sich kurz davor die Diebe zu fassen. Doch die Betreuer in dem Kindergarten seiner Kleinen hatten die strikten Anweisungen nicht befolgt. Alexander war damals wie ferngesteuert aus dem Polizeigebäude im Peterssteinweg gegangen, hatte den Weg zum staubigen Parkplatz gegenüber gesucht und geweint. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig gewesen. Es waren seine Kollegen, die die Suchaktion in Gang setzen mussten, ihn bedrängten, wieder in das Gebäude zurückzugehen und eine Anzeige zu machen. Alles in allem hatte die junge Familie Glück im Unglück. Die kleine Celina wurde einen Tag später auf dem Hauptbahnhof gefunden, der Täter hatte sie einfach ausgesetzt, weil ihm ganze Sache zu heiß geworden war. Das Mädchen trug einen Brief bei sich, auf dem gestanden hatte „Sicherheit ist relativ.“. Das wusste Alexander nun. Doch Ende gut alles gut. Nur die Alpträume blieben.
Bis zur Ankunft in der Wache hatte Christina nicht mehr mit Alexander geredet. Er war furchtbar aufgebracht und sie war beleidigt gewesen, immerhin hatte dieser Typ ja vor ihrem Haus gestanden und nicht vor seinem. Von Alexanders Erfahrungen wusste sie nicht.
Christina kam zu ihrem Schreibtisch und schaltete ihren Rechner an. Noch bevor sie ihre Mails abrufen wollte, öffnete sie ihren Internetbrowser und setzte sich auf ihren Ledersessel. Sie starrte gebannt auf den Bildschirm, während sie geistesabwesend den Fleck mit einem Küchenkrepp wegwischte, den sie beim Hinsetzen und gleichzeitigem Abstellen der zu vollen Kaffeetasse fabriziert hatte. Sie konzentrierte sich erst dann auf die volle Kaffeetasse und die Papiere die darunter in Mitleidenschaft gezogen wurden, als sie sich mit dem heißen Getränk bekippte. „Shit“, fluchte sie und verwünschte diesen Tag von dem ersten Augenaufschlag auf.
Christina schmiss das tropfende Küchentuch in den Papiermüll und verfluchte sich dafür, doch ihre Gedanken rotierten und Flüche fuhren ihr quer durch das Sprachzentrum, so rasend schnell, dass sie nicht wusste ob sie sie nun ausgesprochen hatte oder nicht.
Dann kehrte Ruhe ein, zumindest in Christinas Körper, nicht jedoch in ihren Gedanken. Nach was sollte sie suchen? Logo, Presse, Journalist, Agentur, privat … Auf eine Logobeschreibung hin würde Google sicherlich nichts ausspucken. Recherche war nie Christinas liebstes Fach gewesen, sie setzte gern auf Beweise, soziologische Fakten und auf weibliche Intuition. Nun sah sie sich etwas auf verlorenem Posten. Trotzdem probierte sie es. „Männchen Logo Leipzig“. Sie hoffte das Logo war überhaupt von einem Unternehmen aus Leipzig und Umgebung, ansonsten würde sie wohl nie herausfinden, wer ihr dort aufgelauert hatte. Christina ging die Vorschläge der Suchmaschine durch und schüttelte mit dem Kopf. Weder Bücherlei, noch Bartagamen-Männchen, noch die Webseite der Universität konnten wir weiterhelfen. Weiter versuchte sie es mit „PR Agentur Männchen“, schüttelte dann wieder den Kopf, als sie die Pressemitteilungen überflog.
„Männchen“, sagte sie und schlürfte einen Schluck Kaffee. „Männchen.“
Grübelnd scrollte sie durch die Suchergebnisse. Im Hinterkopf hatte sie immer, dass auch der Täter versucht haben könnte, mit ihr Kontakt aufzunehmen, so absurd die Idee auch war. „Männchen X Leipzig“. Nichts außer einer Uni-Pressemitteilung und einer obszönen Werbedruck-Reklame. „Logo X Leipzig“. Wieder nichts brauchbares, außer der Blue Lions Onlineshop. In der Bildersuche Jusos, Games Convention, Universität, kein Journalistenbüro, kein Faschingsausstatter, nichts. Es war denkbar, dass jemand von der Universität der Täter war, vielleicht ein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Doch warum sollte sie jetzt durch einen Sticker auf einem Auto Erfolg haben, wenn Alexanders Team seit Tagen dabei war, unter Hochdruck Mitarbeiter und Bekannte der Opfer zu befragen und die naturwissenschaftlichen Institute nach Zugängen zu Stickstoff zu durchforsten? Auch sie kamen doch einem etwaigen Umkreis des Täters nicht näher. Dass Christina eine Information hatte, die beträchtlich hätte helfen können, sah sie nicht. Ein Anruf hätte sie zu dem Besitzer des Volvos geführt, auf dessen Kennzeichen er zugelassen war. Doch Christina hatte diese so wichtige Information ignoriert und übergangen. Ein fataler Fehler.
Dann kam Alex ins Büro, schaltete seinen Rechner ein, verharrte vor seinem Schreibtisch und blickte Christina an.
“Hey tut mir leid ich… schlechte Erfahrungen weißt du.“
Mit diesen wenigen Worten wollte er die angespannt Situation aufheben, Christina stieg dankbar darauf ein. Er hatte Recht gehabt, verdammt.
„Tut mir auch leid.“ sagte sie und lächelte beschwichtigend. Dann ging sie rüber auf Alex Seite des Schreibtischs und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder. „Irgendwie hattest du ja auch Recht.“
Alexander wusste, dass seine Kollegin den Ernst der Lage realisierte. Es waren so viele junge schöne gestorben, warum sollte eine Polizeibeamtin mehr Glück haben? Er schnaufte und schob den Gedanken bei Seite. Seine Bedenken wollte er Christina nicht zeigen und so öffnete er schnell seinen Mail-Ordner um ein geeignetes Gesprächsthema anschneiden zu können.
„Ach guck“, sagte er hörbar erleichtert, „die Mail von der naturwissenschaftlichen Fakultät und zusätzlich die Rechercheergebnisse vom Müller.“
„Die Faschingsläden?“ fragte Christina und war froh sich wieder in die Arbeit stürzen zu können auch wenn das Ergebnis am Nachmittag eher ernüchternd sein sollte. Wieder kein Stammeinkäufer auf den Überwachungsvideos, keiner der Verdachtsmomente hatte sich bestätigt. Und auch der Abteilung für Chemie der Universität fehlte nicht ein Milliliter Stickstoff. Am Abend verabschiedeten sich Alexander und Christina missmutig. Es hatte wieder begonnen zu graupeln und mit dem nächsten Schnee könnte der nächste Mord kommen. Daraufhin folgte der vermehrte Druck der Öffentlichkeit und letztendlich würde irgendjemand dafür den Kopf hinhalten müssen. Christina sah sich schon mit gepackten Koffern am Bahnhof in Leipzig stehen. Auf in eine neue Stadt, auf zu einem neuen Glück – dabei hatte sie Leipzig und ihre neuen Kollegen doch so lieb gewonnen.
Am nächsten Morgen bog Alexander wieder wie gewohnt von der breiten Einbahnstraße ein in die Querstraße und fuhr in Christinas Auffahrt vor. Sie stand noch nicht an der Treppe und so klingelte er ihre Handynummer an. Dann drehte er das Radio ein wenig lauter und betrachtete, wie die dicken Schneeflocken, die die ganze Nacht über gefallen waren, auf seiner Windschutzscheibe einen Sichtschutz errichteten. Bald wurde es dunkler und nachdem die zweite und dritte Lage Schnee die Windschutzscheibe undurchsichtig gemacht und auch ein zweites Anklingeln kein Ergebnis gebracht hatte, beschloss Alexander aus dem Auto auszusteigen und Christina wenn nötig persönlich aus dem Bett zu klingeln.
Als er die Klingel betätigte, wurde ihm schon vor dem Gong ein wenig weich in den Knien. Er hatte nach dem letzten Gespräch immer wieder an die Ereignisse am Morgen gedacht, nun, da seine Frau seine Ängste beschwichtigt hatte holten sie ihn ein wie tollwütige Hunde. Obwohl er alle Operationen eingeleitet hatte, die nötig waren, um den Täter zu finden, hatte dieser nun mal noch keinen Fehler gemacht und wenn die Gerichtsmediziner nichts fanden, konnte man das nicht Alexander in die Schuhe schieben. Trotzdem verspürte er schaurige die Gewissheit: Christina würde nicht öffnen. Er hätte schon am Vortag alle Anstrengungen daran setzen müssen, das Kennzeichen zu ermitteln oder dem Sticker auf den Grund zu gehen. Nachdem er sich darüber im Klaren war, eilte er zum Auto zurück, griff mit zitternden Händen in die Mittelkonsole und wählte die Nummer seiner Leitstelle.
„Hallo? Er hat sie! … Na der Kokon-Mörder Christina!“
Dann legte Alexander auf. Niemand würde mit diesen Informationen viel anfangen können aber Alexander wollte den Kollegen auch zuvor kommen. Schuldgefühle plagten ihn. Er suchte im Kofferraum des Wagens nach dem Wagenheber, fand einen und ging hinten um Christinas Doppelhaushälfte herum. Dann schlug er die gläserne Terassentür ein, griff durch das Loch und öffnete die Tür. Als er eintrat, bot sich ihm ein Bild des Chaos.
Als stünde er in einem Nebel sah Alexander das sonst aufgeräumte Wohnzimmer durch einen grauen Schleier. Der kleine Couchtisch bildete den Mittelpunkt des Durcheinanders das hier vorherrschte. Er war abgeräumt, die Unterlagen und Zeitschriften lagen mit umgeknickten Seiten auf dem Boden verstreut, alles war mit Fußspuren übersät und auch der Tisch selbst stand völlig schräg und viel zu nah an der ausgezogenen Ledercouch. Zwischen deren Kopf- und Rumpfteil klaffte eine Lücke, eine berüchtigte Falle, die einen schnell zu Fall brachte. Doch auch Stifte und Visitenkarten lagen hier verteilt, waren wohl vom Schreibtisch nahe der Terrassentür herüber gestoßen worden. Alexander wollte raus aus diesem Raum, er stellte sich immer wieder Kampfszene vor, sah vor seinem inneren Auge den schrecklichen Ausgang. Christina, die über die Couch zu entwischen versuchte und sich unter Schreien das Knie verdrehte, auf den Tisch stürzte und sich den Kopf aufschlug. Es raubte ihm den Atem, Alexander ging zurück zu kaputten Hintertür, drückte sich panisch an die beschädigte Scheibe und schluchzte lautlos, dann tat er das einzig richtige, rief die Spurensicherung und die Wache an und legte sich mit dem Gesicht in Richtung Schnee auf die harten Dielen der Terrasse.
Eine halbe Stunde später war Christinas winziges Grundstück versperrt. Überall parkten Autos und Einsatzwagen, die Männer der Spurensicherung wateten umher wie weiße Bären, die nach Nahrung suchten, die Polizisten sprachen nicht viel. Irgendwann betraten alle das große verwüstete Wohnzimmer und zogen sich in den Flur zurück. Nachdem die Beamten auch in die Küche vorgedrungen waren entschieden sie, Alexander den Zugang zu verwehren, kamen wortlos wieder heraus und beobachteten, wie er apathisch aus dem Milchglas der Vordertür schaute.
Jeden Moment wird das Telefon klingeln, dachte Alexander. Jeden Moment wird ein Kollege anrufen und sagen dass man sie gefunden hat, eingepackt einen Schneehaufen vor irgendeinem Leipziger Denkmal. „Sie haben uns ein Denkmal gebaut“, klang es in seinem Kopf immer und immer wieder und er war wütend und konnte doch nichts machen. Er wusste, was in der Küche war, er wusste es. Blutspuren. Sicher überall. Der Täter hatte wieder Fehler gemacht. Er musste Christina verwunden, er hätte sonst keine Chance gehabt. Durchschaut hatte sie ihn, sicher auf ihn eingeredet. Und jemand der solche Aufmerksamkeit wie dieser Täter forderte, der würde niemand Fremdes reden lassen. Mein Gott, Christina hatte es doch selbst gesagt, warum hatte sie denn nichts tun können? Sie kannte doch das Täterprofil in- und auswendig, wieso konnte sie ihn denn nicht aufweichen? Tränen verschleierten Alexanders Blick. Er wischte sich die Augen und kehrte sich um zu seinen Kollegen, deren Blicke ihn scheinbar durchbohrten.
„Ich hatte nichts gesagt aus Angst, sie würden uns abziehen von dem Fall.“ sagte er nach einer Weile und die Polizisten nickten betreten.
„Hätte ich bloß erzählt dass er gestern versucht hat mit ihr Kontakt aufzunehmen, hätte ich es bloß erzählt, mein Gott!“ Dann wandte er sich wieder um zu seiner Milchglasscheibe, aber auch durch dieses trübe Muster hatte die Welt dort draußen immer noch so viele Ecken und Kanten.
„Wir müssen nach einem Logo suchen!“
Alexander schreckte auf und beendete das betretene Schweigen. Da war er wieder, der Kommissar, der selbst in gefährlichen Situationen einen klaren Kopf behalten konnte, da war er wieder, der Kommissar mit der höchsten Quote gestellter Verbrecher Leipzigs.
„Wir suchen ein Zeichen, ein X mit einem Kopf, als wäre es ein Männchen, Moment!“ Alexander stürmte zurück ins Wohnzimmer, kramte auf dem Schreibtisch nach einem Blatt Papier, nahm einen Stift aus seiner Brusttasche und kritzelte los. Er malte das X mit dicken Armen und Beinen, setzte einen Kopf zwischen die Arme und deutete an, wo die Schrift wäre.
„Das, das und nichts anderes suchen wir jetzt!“ schrie er fast vor Aufregung und hielt jedem der Beamten seine Skizze in Sekundenbruchteilen vor die Nase. Dann ging er zum Schreibtisch zurück und durchsuchte die Ablagen. „Können wir das nochmal sehen?“ fragte eine Kollegin und mit Alexander fuchtelte bloß mit der Hand und nickte. Dann bekam er das Telefonbuch zu schnappen. Er suchte und G wie Gewerbeamt. Noch bevor er wählen konnte, kam die Polizistin wieder, diesmal ließ sie den Notizzettel bestimmt auf den Schreibtisch fallen.
„Das ist das Logo vom Lukullust!“ sagte sie und hatte sofort Alexanders vollste Aufmerksamkeit. Seine Augen fixierten sie und so begann sie alles zu erzählen, was sie über das Lukullust wusste.
„Es handelt sich um eine Art Erlebniskochschule, die kochen verschiedene internationale Gerichte, machen Brunchveranstaltungen mit Livekochen. Wir hatten dort mit der Schicht mal eine Weihnachtsfeier.“
Das war nicht was Alexander hören wollte.
„Das hilft uns überhaupt nicht weiter, scheiße, das ist das einzige, was uns näher zum vermeintlichen Täter führen könnte.“
„Der Kokonmörder?“ fragte aus dem Hintergrund ein Polizist, er wusste nur an welchem Fall Alexander und Christina arbeiteten, den Zusammenhang zwischen Entführer und Kokonmörder konnte er sich jedoch nur denken. Alexander nickte und der Beamte trat auf ihn zu.
„Im Lukullust gibt es Kurse zum sogenannten molekularem Kochen, dabei werden zum Beispiel Desserts in Stickstoff gefroren und wenn man sie dann isst, kribbelt einem die ganze Zunge.“ Um seine Aussage zu verdeutlichen, formte der Polizist mit seiner Hand eine aufplatzende Mousseportion. Alexander verstand sofort.
„Alle Einsatzkräfte sofort mir nach!“ rief Alexander und die beiden Polizisten verstanden schnell. Sie griffen die abgestellten Funkgeräte und riefen Verstärkung an, dann stiegen sie in ihre Autos und fuhren stadteinwärts Alexanders Wagen nach.
In der Arthur-Hoffmann-Straße verlangsamte Alexander seine Fahrt, nicht jedoch seinen Puls. Er hatte Hoffnung, dass er Christina doch noch lebend finden würde und er wollte es jetzt nicht vermasseln. Sein Telefon klingelte im Sekundentakt, es war die Wache, die hatten von seinem Alleingang gehört, wollten Erklärungen. Doch Alexander wollte nicht erklären.
An der Kreuzung zu Körnerstraße bremste Alexander, blinkte nach rechts und stieg, sein Auto auf der Straße parkend, aus. Er deutete den Fahrern der folgenden Einsatzwagen an, die Straße zu versperren, indem er einen Halbkreis um die Kreuzung herum andeutete. Dann lockte er die mitgefahrenen Polizisten zu sich.
„Wir nähern uns von hier, wo ist das Restaurant?“
Die blonde Polizeiobermeisterin war Alexanders größte Stütze im Moment. Sie kannte sich hier aus, kannte das Erlebnisrestaurant und vielleicht auch mögliche Fluchtwege.
„Dort, vor der Kirche auf der rechten Seite, befindet sich das Restaurant. Es gibt sicher über den Hinterhof noch eine Fluchtmöglichkeit, deswegen sollten wir nah an der Häuserfront entlanglaufen und den Eingang auch von Seiten der Kirche umzingeln.“
Mit einem Nicken wies Alexander einen der jüngeren Polizisten an, andere Kollegen per Funk zu informieren. Dann motivierte er seine Leute.
Langsam pirschten sich die Polizisten von der rechten Seite an das rote Haus an. Mit einer hektischen Bewegung deutete Alexander drei seiner Mitstreiter an, sie sollten ihn überholen und von der anderen Seite Straße und den Ausgang bewachen. Sie duckten sich tief und krochen so vor der Tür des Restaurants vorbei. Es gab eine große Scheibe von der aus man vom Inneren der Räumlichkeit auf die Straße gucken konnte. Hinter der Scheibe standen Tische und auf einem Podest Herd und Spüle, Küchenschränke und sicherlich auch Menschen, Alexander wollte kein Risiko eingehen. Als alle seine Männer in Position waren, zog er wieder den Rat der Kollegin zur Hilfe, die das Logo erkannt hatte und nun eine seiner wichtigsten Ansprechpartner war.
„Wenn du jetzt reingehst, musst du zuerst eine Treppe hochgehen, dann kommst du auf etwa Fensterkantenhöhe. Dort ist hinter dem Geländer eine Tischreihe, und weiter im Raum sind Herd, Spüle und solche Sachen.“
Während sie ihm die Anordnung der Merkmale des Raumes aufzählte, fasste Alexander den Plan erst allein reinzugehen. Er wollte so tun, als wolle er sich informieren, wollte schauen ob er Christina sehen konnte. Doch dann zweifelte er. Würde der Mörder sie an so einem öffentlichen Raum behandeln? Er war sich nicht sicher, steckte trotzdem die Waffe hinten in seinen Hosenbund bis sie auf seinem Steiß ruhte und ging dann durch die grün-gerahmte Tür.
Die ganze Situation war Alexander nicht geheuer, er fühlte sich unsicher, hatte Angst seine Kollegen ins Lächerliche zu ziehen, was, wenn dieser Aufkleber rein garkeinen Aufschluss über den Mörder gab. Was, wenn der Mörder überhaupt nicht der Mann im roten Volvo war? Auf der anderen Seite ging es darum Christina zu retten, die nicht nur eine Kollegin, sondern auch eine Freundin geworden war. Also ging Alexander selbstbewusst die Treppen nach oben und schaute erst einmal durch die Scheibe, da er auf dieser Etage niemanden sah. Man sah die sechs Polizisten nicht, die links und rechts neben der Tür saßen, gut so.
Etwas gehetzt kam ein junger Mann die Treppe von der Galerie nach unten und stellte sich Alexander vor.
„Hi, Martin mein Name, ich bin hier einer der Köche.“
„Hallo, Sven mein Name“, log Alexander, „ich bin durch einen Aufkleber auf einem Auto aufmerksam geworden auf dieses Restaurant und dachte ich schau mir das ganze mal näher an.“
„Naja, wie Sie sehen, sind wir nicht nur ein Restaurant, zwar richten wir auch Veranstaltungen aus und organisieren jeden Sonntag ein Brunch, aber unter Erlebnisgastronomie verstehen wir auch, dass die Leute bei uns Kochen lernen können.“
Martin zeigte auf den Herd und Alexander beobachtete aufmerksam seine Hand. Keine Verletzungen. Aber auf den Aufkleber auf einem Auto war er auch nicht angegangen.
„Ach und die Kochkursteilnehmer bekommen dann statt einem Michelin-Stern einen Aufkleber?“ spaßte Alexander, während er selbst fieberhaft überlegte, wie er zum Thema kommen könnte. Martin lachte.
„Ja, so ähnlich, schön dass die Leute uns freiwillig bewerben. Um was für einen Wagen handelte es sich denn?“
Alexander sah einen Lichtblick und hatte scheinbar das Interesse des Kochs geweckt.
„Ein alter Volvo“, sagte er wie beiläufig und streifte dabei mit dem Koch zusammen auf das Kochfeld zu, „so rot wie diese Möbel hier.“ fügte Alexander dann hinzu.
„Ach schau an, der Herr Krämer!“ sagte der Koch und schüttelte erfreut den Kopf.
„Sie kennen Ihn? Also jeden ihrer Absolventen meine ich?“ Alexanders Ohren waren spitz wie die Zähne einer Fledermaus.
„Er hat einmal einen Nuklearkochkurs bei uns mitgemacht und nun holt er sich regelmäßig Stickstoffampullen, da ihn die Röstaromen krank machen würden, sagt er. Er kauft uns so sehr viel von dem Zeug ab, da er scheinbar nur noch damit kocht. Er ist völlig verrückt, desinfiziert regelmäßig sein Auto mit Essigsäure, hat er mal erzählt. Komischer Typ.“
Das reichte Alexander. Blitzschnell zog er seine Marke aus der Lederjacke und gab sich zu erkennen.
„Geben Sie mir alle Informationen, die Sie zu diesem Mann haben, Name, Adresse, Wohnort, einfach alles.“
Alexanders Anweisungen brachten den Koch ins Stammeln und so suchte er im Büro unter den Augen des Kommissars eine ganze Weile nach den entsprechenden Unterlagen. Nach scheinbar endlos langen Minuten fand Martin den Teilnehmerbogen des Gesuchten. Er arbeitete für eine private Schule als Lehrer, unterrichtete also Auszubildende. Er war Ende 40, alleinstehend oder geschieden und war über eine Firmenfeier hergekommen. Jetzt musste Alexander nur noch hoffen, dass die angebende Adresse stimmte und dass es noch nicht zu spät war.
„Sie kommen bitte mit.“ sagte er noch im Gehen und betrat die Stufen nach draußen. Der Koch folgte gehorsam. Er vergaß sogar den Laden abzuschließen als er zwischen die Polizisten draußen unter dem Sims trat. Dann nahmen ihn zwei der Beamten mit zu ihren Einsatzfahrzeugen auf die Arthur-Hoffmann-Straße, verfrachteten ihn auf die Rücksitzbank und fuhren mit ihm zur Dienststelle. Martin fragte sich, ob man denken würde, er wäre ein Schwerverbrecher. Doch die größte Triebsamkeit ging von den restlichen Polizisten aus, die in ihre Autos sprangen und dem Auto, in das der vermeintliche Sven gestiegen war, hinterherfuhren.
Die auf dem Auskunftsbogen angegebene Adresse war direkt um die Ecke. Es war ein Haus in der Schenkendorfstraße. Alexander und seine Kollegen rasten die Arthur-Hoffmann-Straße mit Blaulicht nach oben, rasten an dem kleinen Park vorbei, und sorgten dafür, dass alle Fußgänger und Fahrradfahrer stehen blieben und nach ihnen schauten. Alexander knitterte mit festem Fingerdruck das Papier der Selbstauskunft. Das Adrenalin pumpte durch seine Adern, so kurz davor zu sein machte ihn fertig, es war nicht wie bei jedem anderen Fall, diesmal hing scheinbar mehr als nur ein Leben vom Finden des Täters ab. Alexander fühlte ich allein aber bärenstark. Kurz vor dem Abzweig zur Karl-Liebknecht-Straße hielt er sein Auto vor einer Feuerwache an. Alles war so durchschaubar gewesen, der Täter wohnte direkt um die Ecke des Lukullus, konnte zu Fuß die Stickstoffbehälter abholen und auch in die Innenstadt brauchte er nicht lang von hier aus. Alexanders Herzschlag verdoppelte sich noch einmal als er den roten Volvo auf der anderen Straßenseite stehen sah. Es war soweit.
Als Alexander ausstieg, beäugte er zuerst den Volvo und sah die glatte Liegefläche hinter dem Kombidach. Das Fahrzeug war fast ausgerüstet wie ein Leichenwagen, warum hatte man denn bloß nicht nach solchen TÜV-Eintragungen suchen lassen? Langezeit waren die Beamten davon ausgegangen, die Morde fänden vor Ort statt, doch die Vernunft hatte sie belehrt dass dies nicht sein konnte. Trotzdem hatten sie nie einen Anhaltspunkt für einen Ort gehabt, an dem einer der Morde verübt worden sein könnte. Nun wusste Alexander, wo die Leichen getötet wurden und wie sie zum Fundort gekommen waren.
Alexander bekam Gänsehaut, als er durch das große Tor schritt. Seine Schritte hallten in dem Durchgang und als er im Innenhof des Hauses angekommen war hörte er die Schritte der Tausendschaften, die hinter ihm her sein mussten, ihm den Rücken stärkten. Sein Blick fiel jedoch schon auf die Wohnung im Hinterhaus und er nahm an Geschwindigkeit auf, als er über den Hof immer näher an die Eingangstür des Hinterhauses gelangte. Von der Täterwohnung aus konnte man direkt auf einen begrünten Spielplatz gucken, vor dem Haus stand eine Bank.
„Bingo“, murmelte Alexander und das tat er immer, wenn er nervös war und mit sich selbst sprach. Der weiße Türrahmen war blutverschmiert, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen war, wusste Alexander noch nicht. Ein Kinderwagen lag quer vor der Treppe nach oben. Hier war noch niemand langekommen, der mögliche Anhaltspunkte für eine Gewalttat hätte sehen könnten. Der Wagen versperrte den Weg nach oben und die zweite Wohnungstür hier unten.
„Auf drei!“ rief Alexander und zählte ungeduldig aufwärts. Dann stemmte er sich gegen die Pressholztür um die alles sich nun drehte und fiel mit dieser scheppernd zu Boden, während die Männer hinter ihm vor Angst erstarrten und mit den Läufen ihrer Waffen genau auf eine weiße Wand zielten. Alexander stützte sich mit den Armen auf dem Boden ab, blickte nach links und rechts und hievte sich dann wieder nach oben. In dem Moment sah er einen Schatten durch das Zimmer hinter der angewinkelten Tür auf rechts von sich huschen.
„Sch!“ machte er und presste sich an die Wand, die gegenüber der ehemaligen Eingangstür war. Nun musste es schnell gehen. Er ging drei Schritte zur Seite und trat die weiße Wohnungstür mit einem Ruck vollständig auf. Dann sah er, dass nur noch eine Gardine aus dem Fenster wehte.
„Schnell, er ist hinten raus!“ schrie Alexander noch und hörte wie seine Kollegen im Flur durch die Hintertür raus stürmten. Dann vernahm er Schreie und dumpfe Schläge. „Wir haben ihn!“ Der Täter war gefasst. Als letztes sah Alexander Christina in dem sterilen, abgedunkelten Raum mit den vielen Kühlbehältern.
„Alex!“ stöhnte sie und sah durch einen dunklen Schleier des Gesichtes ihres liebsten Kollegen. Dieser trat näher und legte ihr eine Hand auf die Stirn, streichelten ihr sanft die dunklen Haare aus dem Gesicht.
„Alles wird gut.“
Als Alexander das sagte, war er wieder da, der Kloß in seinem Hals. Alles wird gut, hatte er gesagt und glaubte es diesmal wirklich. Als seine Kollegen draußen den Kokon-Mörder abführten und er Christina anblickte, sah er deutlich, warum er sich damals dafür entschieden hatte diesen Job zu machen. Sie war gefesselt und auf Drogen gesetzt, ihre Pupillen waren riesig und ihr Körper gezeichnet. Niemand, der ein so starker Mensch war wie Christina, sollte in eine solche Lage gebracht werden. Niemand. Mit diesem Gedanken legte er geistig den Fall ad Acta. Dann band er Christina los.