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Von der Unfreiheit
Hadschi Daud, ein alter Mann, grau sein Bart, schwarz seine Kleider, war auf der Grenze zu einem Land, dessen Fürst sich rühmte, ein Freund der Wissenschaft und der Dichtung zu sein. Dort erfüllte ihn die Zuversicht, denn wo man die Wissenschaft ehrt, ist es dem Derwisch ein leichtes, seinen Hunger zu bezwingen - und der Held unserer Geschichte war ein sehr hungriger Derwisch. Durch eine Schlucht schreitend, dachte er daran, wie er letztes Mal an seine Nahrung kam - vor vier Tagen. Aber bald würde er eine Stadt erreichen, und bestimmt wieder essen, tröstete er sich. Und so sollte es auch geschehen. Die Wachen am Tore hielten ihn nämlich an: "Halte ein, Derwisch. Halte ein und lobe den Allmächtigen! Der erhabene Fürst Salman Abu Rahman ibn Hodscha, das Schwert des Glaubens, der Beschützer der Schwachen, hat befohlen, den nächsten Sufi, den wir Wächter erblicken, in seinen Palast zu führen, wo dieser Glückliche die Wonne erfährt, mit ihm zu speisen. Dieser Glückliche bist du, Derwisch. Dafür, dass du von seinem Tische essen wirst, will der erhabene Fürst einen Rat von dir. Willst du den Handel annehmen, oder sollen wir dich Unwürdigen aus seinen Ländereien mit Fußtritten und Stockhieben vertreiben?" Hadschi Daud aber gedachte seines Hungers, lobte den Allmächtigen, und sagte zu, obschon er tief in seinem Herzen wusste, dass er nicht weise war, und schon gar nicht ein Sufi. Nicht jeder Derwisch war das, als was er galt.
Die Wachen also führten ihn zum Fürsten. Auf dem Wege hatte Hadschi Daud Zeit zu staunen, wie wohlhabend die Stadt doch war, mit Palmen und Zypressen im Garten vor einem jeden Haus, doch schon balde musste er dies vergessen, denn er erlebte die Pracht des Palastes. Säulen so hoch, dass sie scheinbar in den Himmel ragten, und so stämmig, dass zwei Mann sie nie umfassen könnten, seltene Pflanzen, die überall standen, Hallen, in denen man Pferde reiten konnte, Springbrunnen, so kunstvoll angefertigt, dass man kaum glaubte, dass eine Menschenhand sie schuf - das alles zeigte sich dem staunenden Blick des Derwisch, und der wähnte sich glücklicher als jeder Sultan, denn er wanderte, und konnte vergleichen. Dann aber wurde er in den Speisesaal geführt. Am entfernten Ende eines langen, aus Elfenbein geschnitzten Tisches saß der dicke Fürst in Kleidern aus Seide mit seinem dünnen, schwarzen Bart auf einem Berge weicher Kissen, umgeben von Musikanten, die aus Flöten, Trommeln und anderen Instrumenten die angenehmsten Klänge zu gewinnen wussten. Der Tisch vor ihm verbog sich nahezu vor der Last all der Essenssachen, deren Vielfalt unserem Derwisch vollends den Atem raubte. Und da wird er reinbeißen dürfen? Majestätisch erhob sich darüber ein junges Kalb, der, verlockend riechend, schmackhaft hergerichtet, seine wohldurchbratenen Beinen gegen die Decke aus Onyx richtete, auf welcher in güldener Schrift die heiligen Suren des Koran sich mit den kunstvollen Versen der Dichtermeister vermischten. Neben dem Fürsten setzte man Hadschi Daud, welcher sodann, vom Hunger übermannt, seine staubigen, wunden Hände in einen Teller voll Reis versenkte, und sich satt zu essen begann.
Der Fürst aber erkannte an der Farbe des Turbans auf dem Haupte Dauds einen Hadschi, und sprach: "Ich grüße dich, ehrenwerter Sufi, und sehe, dass du bereits gar Mekka aufgesucht hast, obschon du ein armer Mann bist, und die Gewänder eines Derwisch trägst! Ich bin ein Fürst. Reich und machtvoll, wie es sich gehört. Die Feinde fürchten mich, die Schmeichler loben mich, die Glechgültigen respektieren mich zumindest. Doch mir, bei all meiner Macht, ist es unmöglich, die Kaaba zu küssen, den fünften Glaubenspfeiler zu erfüllen! Wie kann es dazu kommen? Sage mir! Wie kommt einer nach Mekka? Dies soll der Rat sein, den du mir schuldig bist!". Da verschluckte sich Hadschi Daud vor Verwunderung, denn es war eine seltsame Frage, die der Fürst ihm stellte. Dazu bedurfte es nicht irgendeiner Weisheit - und dieser Fürst musste es auch wissen. Vielleicht war es ein Gleichnis, welches Hadschi Daud aber auch nach langem Denken nicht verstehen konnte. So sprach er, als ob der Fürst es ernst gemeint hätte: "Mein edler Fürst, wenn ich jetzt eine Pilgerfart nach Mekka machen wollte, so würde mich mein Weg nach Westen führen. Ich würde durch Berge und Wüsten gehen, in den Städten aber würde ich anhalten, denn dort bekäme ich Almosen, und könnte essen und trinken, so wie hier. Denn gelobt sei der Allmächtige, dass es auf Erden solch edle Männer gibt wie dich. Angenehmer wäre es mir aber mich einer Karavane anzuschließen, und die Welt mit denen zu bereisen, die ohnehin irgendwohin gehen müssen." "Ha!", lachte Fürst Salman sarkastisch, "Ich könnte zehn Karavanen ausrüsten! Man würde mich auf einer Sänfe tragen, vor mir Tänzerinnen, hinter mir Sänger. Ich würde essen und trinken, so viel ich lustig bin. Und in jeder Stadt würde ich mir die besten Häuser kaufen können, die mir als Herberge dienen würden, um sie beim Weiterziehen den Armen zu überlassen!"
Da machte Hadschi Daud große Augen, und verstand noch weniger. "Warum aber brichst du nicht auf?", fragte er, in der Hoffnung, der Fürst würde sein Gleichnis auflösen, oder doch etwas verständlicher machen. Eine Furcht begann an ihm zu nagen, so wie er an seinem Hühnerbein nagte - er hatte Angst, das, was er gerade gegessen hatte, mit seinen Knochen bezahlen zu müssen! Wen schert es dann, dass er sich die Weisheit nie angemaßt hatte, die er nicht besaß. Er hatte eben zu hastig zugestimmt. Stockhiebe wären womöglich die angenehmere Alternative. Der Fürst aber beachtete seine Spannung nicht, und sprach: "Rund um mein Fürstentum sind Feinde. Noch sind sie freundlich, denn sie fürchten mich. Aber will ich ziehen durch ihr Land, werden sie nie die Möglichkeit verpassen, mir meine Siege, meine Größe heimzuzahlen. Sie werden mich töten oder, gar schlimmer, gefangennehmen und dazu missbrauchen, ihnen mein Fürstentum Untertan zu machen, und damit alles, was ich im Leben geschaffen habe, zu vernichten! Kann ich das erlauben, Derwisch?" Ungläubig schaute ihn Hadschi Daud an. Oft hungerte und durstete er, oft wurde er von bösen Menschen geschlagen, aber nie hatte er derartige Schwierigkeiten auf seinem Wege. Er verspürte Mitleid, und dachte fiebernd nach, was er ihm nun raten konnte. Dann sprach er einfaches, denn er wusste nichts weises zu sagen. Vielleicht aber war das Einfache weise. "Wenn ich nicht gerne gesehen bin, irgendwo, dann meide ich den Ort. Wenn man mir auflauern will, auf der großen Straße, gehe ich auf kleinen Nebengassen, oder gar durch die straßenlose Landschaft. Das will ich dir raten." Der Fürst aber seufzte sprach: "Für dich ist es wahrlich nicht schwer, Heiliger. Nichts ist wesentlich für dich, außer Gott. Ich habe aber eine Ehre, die ich nicht besudeln darf. Fürsten schreiten nicht durch Nebengassen! Und selbst wenn ich das könnte, wäre damit nichts erreicht. Nicht nur kann ich die nachbarlichen Fürstentümer nicht betreten. Ich könnte nicht einmal dieses hier verlassen!" So tragisch und selbstbemitleidigend war des Fürsten Tonfall, das Hadschi Daud nun zu wissen meinte, dass ihm seine Worte nur wenig bedeuteten. Vielmehr wolle der reden und verstanden werden, dachte er, denn er kannte solche Leute. Hadschi Daud aber wollte weiteressen. Da sich beides so wundervoll vertrug, stachelte er den Fürsten zum sprechen an: "Warum? Du hast doch Beine, und mehr als das - du hast Kamele und Pferde."
Der Fürst spürte zwar die selbe Falschheit in Hadschi Dauds Stimme, wegen der er mit seiner Umgebung kaum noch redete, sprach aber dennoch, den Derwisch schief anblickend: "Weil ich eine Verantwortung habe. Schau dir an! Schaue, aus dem Fenster. Siehst du das Reichtum meiner Untertanen? Siehst du, wie gut gepflegt die Straßen sind, und die Häuser? Siehst du die Wachen, die starken und mutigen, die Ordnung erhalten und den Schwachen helfen? Dies alles schuf Gott durch mich! Als ich meinen Vater beerbt habe, war mein Land arm, schwach und zahlte den Feinden Tribut. Ich hatte fünfzig Soldaten und zehn Pferde. Heute habe ich zwanzigtausend Soldaten und es sind die Feinde, die mir Tribut zahlen! Ich aber kann nicht zulassen, dass es sich wieder umkehrt." Nun aber fiel Hadschi Daud das Sprechen leicht, denn seine Antworten ergaben sich aus den Worten des Fürsten. Er sprach mit vollem Munde: "Vertraue dein Land doch einem Bruder an! Du wirst es ja nicht ewig bewachen können!" Daraufhin aber funkelte Zorn in den fürstlichen Augen. Er sprach grimmig, denn er traute dem Derwisch nicht mehr: "Was hat er dir gegeben, aufdass du mir solchen Tand sprichst? Was haben die seinen dir bezahlt? Gibt es auf Erden noch jemanden, der nicht verschworen ist, gegen mich?" Da spuckte Hadschi Daud die Speisen, die in seinem Munde waren, aus, denn er hatte Angst und ein Bedürfnis, seine Unschuld zu beteuern: "Ich bin nicht verschworen! Deine Wachen hatten mich am Tore angehalten und zu dir geführt! Ich wusste nicht einmal, ob du einen Bruder hast!"
Der Fürst aber erklärte: "Mein Bruder hasst mich, da, obwohl er älter ist, mein Vater mich zu seinem Erben bestimmte. Er war sichtbar unzufrieden mit diesem Beschluss, ich aber machte ihn zu meinem Berater und gab ihm ein Gut. Trotz all dem spricht er ohne Respekt zu mir, will nicht knien vor meinem Thron! Wenn ich also ihn zu meinem Statthalter mache und nach Mekka aufbreche, wird er seine Macht festigen und sich zum Fürsten ausrufen, lügend, ich sei tot. Wenn ich aber zurückkehre, wird er mich tatsächlich töten lassen!" Wieder schlug die Angst des Derwisch sich in Mitleid um, und er sprach: "Gibt es denn niemanden in deinen Ländereien, dem du vertrauen kannst? Weh dir! Welch grausames Schicksal!" Und wieder musste der Fürst lachen, wegen der Reden Hadschi Dauds. Sein Lachen weitete sich aus und wollte nicht aufhören. Große Tränen rollten seine Wangen runter, und blieben in seinem Barte hängen. Es war mühevoll, aber er konnte einige Worte hervorwürgen: "Vertrauen?...Nein, ich vertraue niemandem...Wie hätte ich es sonst so weit gebracht?...Würde man mich betrügen können, wäre ich das letzte nichts!" Dann aber wurde sein Tonfall wieder zorngetrübt: "Würde ich besseres von den Menschen erwarten, wäre alles äußerst schlecht gegangen. Nie habe ich einen ehrlichen Menschen getroffen. Kennst du einen, Derwisch?"
Hadschi Daud wollte dem wiederum nicht glauben. Es konnte doch nicht sein, dass die meisten Menschen, die er traf, vorwiegend gut und aufrichtig waren, jene welche der Fürst kannte aber allesamt widerwärtige Bösewichte seien. So beschloss er, es dem Fürsten zu erklären: "Alle Menschen, die ich treffe, sind im Grunde vertrauenswürdig. Manche Menschen irren sich oder sind unverstanden, aber keiner ist böse. Und wenn einer Groll gegen einen anderen hegt, wenn einer böse scheint, so hat das einen Grund, den wir oftmals nicht kennen. Wenn einer ein Dieb oder ein Räuber ist, so braucht er die Güter, die er begehrt. Warum sie nicht ihm überlassen, wenn es ihn so danach reizt? Die Erde ist reich! Keiner wird hungern müssen! Jeder deiner Wächter ist ein ehrlicher Mann für mich, denn sie haben sich nie hinterhältig gezeigt, so kurz ich die eben kenne. Am besten aber kenne ich mich unter allen Menschen in deinem Fürstentum, und kann dir sagen, dass ich immer richtig und aufrichtig handle." "So?" sprach der Fürst empört "Bist du es nicht, der sich verpflichtet hat, mir zu erklären, wie ich nach Mekka pilgern kann? Gestillt ist dein Hunger. Willst du mir nun den Rat verweigern? Ein Betrüger bist du, und keinem kann man trauen!" "Verweigern wollte ich dir nichts!" rief Hadschi Daud, denn entgegen dem, was der Fürst meinte, kannten auch Derwische Ehre "Vielmehr bist du es, der du nicht nach Mekka pilgern willst, und nun nach Entschuldigungen suchst! Kümmere dich nicht um dein Land, in den Monaten, die du fort sein musst! Du weisst es genau, nicht du alleine bist von Allah befähigt, zu regieren. Dein Land nicht verfallen, und wenn, dann werden andere Länder reich werden, und die sind nicht minder schön. Ich rate dir, lass das alles sein, was du da hast, und werde Derwisch, nach meiner Art - dann siehst du die Welt und die Menschen, und wirst glücklicher, als du es je gewesen bist! Du hast ein Seil, ein Stab und ein Umhang - geh hinaus!"
Einen anderen würde die Tapferkeit unseres Helden beeindrucken können, nicht aber diesen Fürsten! Ihn beleidigte diese Aufrichtigkeit nur. Still hörte er sich die Rede Hadschi Dauds an, ohne seinen Zorn, ohne irgendein Gefühl deutlich zu machen. Nur hatte er aufgehört, die Apfelsine zu schälen, die er in den Händen hielt. Dann sprach er: "Fürwahr, ich wäre glücklicher, wäre ich ein Derwisch wie du - aber ich kann keiner sein. Ich nämlich bin ein Anständiger. Ich arbeite, wie auch die Bauern es tun, und werde für meine Arbeit entlohnt. Du, Derwisch, bist aber die Pestillenz der Menschenwelt. Du, Parasit, arbeitest nichts. Du lässt dich von den Bauern und Handwerkern, von denen die Arbeiten und sich Gefahren aussetzen, ernähren. Mal singst du irgendwo, mal tanzst du, aber ist das Arbeit? Fürwahr, ein jeder wäre glücklicher, würde er seine Pflicht und Berufung verwerfen - doch tut es jeder, verhungern alle, weil keiner die Felder bestellt. Bettlerei und Diebstahl ist vollends einerlei! Daher sei mir nicht böse, aber ich lasse dich einsperren, wie einen Dieb eben." Gesagt, getan - der Fürst klatschte seine Hände, und schon eilten Wachen herbei, die Hadschi Daud in den Kerker warfen. Dort verblieb er acht Monate in Gesellschaft wahrer Sufis und großer Dichter, die vor ihm allesamt ebenso eingesperrt wurden. Man ernährte sie pünktlich, sodass manch einer deren Lage gar beneiden könnte.
Ein Mann, der mit Hadschi Daud in einer Kammer saß, bemerkte einst: "Was den Fürsten plagt ist Neid. Jene, die freier sein können, als er, lässt er einsperren. Als ob man damit einen unfrei machen könnte!" Dann aber, als der neunte Monat anbrach, wurden all die Gefangenen entlassen. Der Fürst ist einer Meuchlerhand zum Opfer gefallen, und sein Nachfolger hatte keine Freude am Geschwätz. So wurden alle aus dem Kerker geholt, und an die Staatsgrenze geführt, aufdass sie nicht im Fürstentum betteln konnten - wie Hadschi Daud, der ausspuckte und seines Weges ging, die Grenzen ignorierend.