Von Steinen und vom Einen
(1)
Da fragte die schöne Jugendliche den jungen Mann: „Warum streust du deine Steine über die Welt?“
„Du bemerkst mich?“, fragte er erschrocken zurück.
„Ja, schon eine ganze Zeit. Ich finde immer wieder auf meinen Wegen ein paar Steine, schöne musst du wissen, und ich folge ihnen, suche nach der Quelle, woher sie kommen, wem sie gehören, warum sie verstreut herum liegen?“, erzählte sie.
„Das kann nicht sein! Zulange schon hat niemand mehr zu mir gefunden, geschweige denn gerufen oder auch nur einen meiner Steine wahrgenommen auf den Wegen!“, rief der junge Mann.
„Du siehst mich doch hier, hier vor dir und hörst mich mit dir reden, oder nicht?“, beruhigte sie ihn.
„Wie meine Steine. Aber das muss nichts heißen. Auch meine Steine könnten Einbildungen sein, wie du eine sein könntest. Vielleicht ist nur die Welt real, meine Steine und du hingegen etwas Eingebildetes, aus mir entsprungen, der eingebildeten Einbildung, blind vor Einbildung.“, seufzte der junge Mann.
„Du bist lustig, wenn du so daherredest.“, kicherte die schöne Jugendliche.
„Findest du?“
„Ja wirklich. Ich versichere dir, dass deine Steine ebenso nicht eingebildet sind wie du keine Einbildung bist, denn ich bilde mir nicht ein, Einbildungen nachzuforschen, denn ich bin Naturforscherin, musst du wissen, ohne eingebildet klingen zu wollen.“
„Die Sprache ist schon etwas Lustiges.“, lächelte der junge Mann.
„Und noch so viel mehr!“, freute sich die schöne Jugendliche.
„Ein Meer ist sie, mit Inseln, auf denen ich singen und tanzen konnte, damals jedenfalls…“, meinte der Mann, plötzlich mit trauriger Stimme.
„Erzählst du mir von diesen Inseln?“, fragte freundlich das Mädchen.
„Zu oft schon habe ich es getan, ich werde dessen müde, sehe keinen Sinn mehr darin. Was ist es schon, erzählen können? Ich will es dir sagen: Es ist etwas, dass geliebt und gehasst wird, dass einen träumen lässt und auf den Boden der Realität schleudert, wie es die Wellen manchmal mit Booten tun, die gerade noch freudig auf dem Wasser getanzt haben. Ich habe das oft gesehen, von der Insel aus, wie Boote umhergeschleudert wurden, lass es durch Poseidons pulsierende Lunge oder durch Greifen und Furien geschehen sein. Egal, ich nahm mir das Holz zur Brust, formte es zu neuen Booten, die vielleicht in der Lage hätten sein können, zwischen Inseln hin und her zu fahren, zum festen Land, zurück auf See, im rechten Maß und mit glücklichen Menschen an Bord. Ja, für sie wollte ich Boote bauen aus dem Treibholz, die Planken und Masten, die das Meer immer wieder her brachte zu meiner Insel. Ich baute drauf los, was baute ich drauf los! Es ging mir leichter von der Hand als man es sich vorstellen kann. Sie sprachen zu mir, all die Teile, und ich mit ihnen. Wir verbanden uns und wurden eins, sie durch mich und ich durch sie. Jaja, das war schon schön. - - Doch was soll ich sagen? All diese Boote: sie scheinen der Menschen Geschmack nicht zu sein.“
Da sagte das Mädchen: „Doch du bist nicht mehr auf dieser Insel. Du bist hier, zwischen den Bergen, in diesem Steinbruch. Hier habe ich dich gefunden.“
Da schaute der Mann sich eine Weile um. „Und wenn dies nur eine Illusion ist?“
„Nein, denn deine Boote habe ich gesehen. Einige sind schon fertig gebaut, und sie sind wundervoll anzusehen, keine Frage. Viel Liebe steckt in ihnen, das sieht man. Ich suchte dann weiter den Strand ab, fand mehrere von ihnen, in den unterschiedlichsten Formen. Auf ihnen standen Namen, sie klangen wie die Melodie des Windes, wenn du mich fragst. Bewegend, singend. Und ich suchte weiter, und fand andere Boote, größere. Und noch größere, Schiffe, ja!“
„Schiffe?“, fragte der Mann. „Da musst du dich versehen haben. Schiffe habe ich nicht gebaut.“
„Oh doch!“, rief die schöne Jugendliche. „Sie sind zwar noch nicht fertig, es sind erst die Grundgerüste dort am Strand, wo ich die Steine auch fand. Von diesen Schiffen der Zukunft führten mich die Steine hierher, vom Strand durch den Wald zu diesem Steinbruch. Und glaube mir, die Schiffe könnten Meere befahren, wenn sie fertig gebaut werden würden.“
„Wie kommst du denn darauf?“, seufzte der Mann. „Ich habe früher geträumt auf der Insel, weißt du, von solch schönen Schiffen mit großen Segeln. Und es kam eine goldene Zeit, da wusste ich sogar: Jetzt ist die Zeit reif, Boote sind Vorzeichen von größeren Schiffen – und es zerfetzte mich, schleuderte mich… ich weiß auch nicht, wie ich das sagen soll.“
„Doch, das weißt du. Du glaubst nur im Moment nicht daran. Das ist es.“, sagte die schöne Jugendliche.
„Was meinst du damit?“
„Lass mir dir ein Beispiel geben: Manche Menschen sehen Steine auf den Wegen dieser Welt liegen. Und sie gehen weiter. Andere, so wie ich, sehen in ihnen mehr. Sie gehören zu etwas Größerem. Es sind Fragmente, wenn man so will. Doch was für Fragmente? Gehören sie zu einem Mosaikbild? Sind es Bruchstücke, die ein Bildhauer vom Block trennte, um die Figur aus dem Steinblock zu befreien? Sind es vielleicht sogar beides, also Bruchstücke vom Block, die wiederum selbst zu einem Mosaikbild zusammengefügt werden können?“
„Und was glaubst du?“
„Ich glaube, dass beides zutrifft, dass beides stimmt und stimmen kann. Denn sieh dich um: Was du hier, zwischen den Bergen, in diesem Steinbruch, schon für Werke aus den Blöcken gemeißelt hast! Was andere niemals für möglich gehalten haben, hat hier Form angenommen, tritt der Welt vor die Augen und macht Menschen sehend, denn was sie sehen, was ich sehe, dass ist klasse! Es ist ungewöhnlich, keine Frage, du wendest Methoden an, die manch anderer erst spät in seinem Leben und viele nie anwenden werden. Und selbst die Splitterstücke, die mal so eben nebenher abfallen, selbst sie sind noch Gedichte von Steinen. Und ob du es glaubst oder nicht: diese Steingedichte sind bis zum Strand hin geflogen, bis zu den Schiffen. Mal eben so nebenher geschaffen. Und ich traute meinen Augen kaum, als ich sie fand, doch mein Herz jubelte innerlich und machte Sprünge! Ich liebe Steine, musst du wissen, aber nicht alle. Doch diese, als ich diese sah: da verband mich das Gefühl, dass es Zeichen eines Schaffenden sind, der dabei ist, etwas zu realisieren. Was genau, das konnte ich nur ahnen, denn ich hatte ja durch die halbfertigen Schiffe am Strand eine Idee, wie sie vollkommen aussehen werden. Zugleich aber sah ich sie eben auch als Teile etwas noch nicht Fertigem, denn ich folgte ihnen und folgte ihnen und fand schließlich dich, hier im Steinbruch, dich an neuen Herausforderungen messend, wie sie diese Blöcke eben darstellen.“, erzählte die junge Frau.
Der junge Mann war indes etwas älter geworden, während er der schönen Frau zugehört hatte.
Dann sagte er: „Deine Sprache macht mich sehend, ich danke dir. Sie inspiriert mich, macht mir Mut. Und macht mich träumend, nein, vorstellend. Ich möchte etwas probieren, mich ausprobieren. Denn ich sehe nun diese Werke im Steinbruch, und die Steine, die du mir gezeigt hast auch. Zu den Schiffen noch hingehen, sie zu vollenden, nicht mehr halbfertig am Strand liegen lassen, sie fahrend machen, seetüchtig und tragend, dass sie auch diesen Werken des Steinbruchs tragen können, ihnen einen festen Untergrund, ob auf See, Meeren oder in Häfen, zu geben. Ich spüre, wenn jene halben Schiffe zu Schiffen werden, dann sind sie es und die Statuen hier, die Reisen auch über große Ozeane zusammen glücklich und geeint antreten können, so wie wir geeint hier und glücklich nun zusammen sind. Was geträumt worden war wurde zur Resignation an diesem Ort. Doch ich mag diesen Ort nun sehr gerne, weil du hier warst und wir zusammen. Nun soll von diesem Ort der Weg hin zu den Schiffen führen, auf dass endlich zu dem werden, wozu sie bestimmt sind. Gehen wir zusammen nun auch diesen Weg?“
„Wenn du möchtest, ja.“
„Doch um eines möchte ich dich bitten. Sprich mit mir, wenn ich nicht spreche, denn ich möchte sehen, was ich sonst nicht sehe.“
„Was meinst du?“
„Lass mich es so sagen: Auf der Insel habe ich nicht viel gesprochen, war mit mir und schuf so fort. Vertieft war ich, und so vertieft, dass nicht immer noch zu sehen war, dass ich doch lebe.“
„Ich melde mich bei dir, wenn ich dich zu vertieft zu spüren glaube.“
„Auf dann, auf dann zum Strand! Uns erwartet die Zukunft!“
(2)
Da waren das Mädchen und der junge Mann ein paar Schritte gegangen, und der Waldrand erschien vor ihren Augen. Da sprach sie: „Ist es nicht wundervoll, du siehst den Wald mit seinen dichten Wuchs vor deinen Augen wieder auftauchen. Riechst du auch schon seine betörenden Gerüche, all die Bilder deines Lebens, die wieder in die Seele steigen? Der Ranken winken? Der Äste ehrenstilles neigen? Vogelsänge deines Hofstaats? Ach, wie freue ich mich schon darauf, mit dir durch traumgefüllte Landschaften zu wandern, hin zum Sonnenuntergang am Strand. Du glaubst gar nicht, wie glücklich sich mein Herz in meinem Busen hebt und senkt, vollen Pulses springen will in diese unsre Waldfühlwelt.“
Sie nahm seine Hand und wollte weitergehen, da merkte sie, dass er nicht ging und drehte sich herum. „Was ist denn, Lieber? Komm, lass uns weitergehen, bevor wir noch zu Salzsäulen erstarren. Es wartet unsere Zukunft, sagtest du. Nun wollen wir sie doch nicht warten lassen, oder doch?“
Der junge Mann indes schaute in sich hinein und schwieg eine Weile. Sie rüttelte an seinem Arm: „Wachst du? Träumst du?“
Dann sagte er, langsam hinaustretend: „Was, was… war das?“ Er schaute das Mädchen an: „Du glaubst es nicht, was gerade eben mir vor innern Augen blitzgestaltig, licht und klar, sekundenlang erschienen ist! Es waren…-“
„Komm, gehen wir. Erzähle es mir auf dem Weg.“, meinte das Mädchen mit geneigtem Kopf. Sie legte ihre Hand in seine, wie sie zuvor es schon getan hatte. Der junge Mann gab dem Ruck des Gehens nach, erzählte zugleich, was er sah: „Glühenden Mondes Nacht ist es, aber es grummelt. Zugleich auch feuchte Düfte, nur die Distel auf der salzigen Erde färbt sich schwarz und blättert. Was ist mit ihr, der starken Blume, das Bild für unmöglich gehaltene Wirklichkeit? Das Bild, welches mir an manchen Orten zeigte sich, mit dem im Sinn ich hin zu einer morgendlich-ruhigen Wasserspiegelfläche…“
„Aua! Aua! Aaahh!“, rief das Mädchen plötzlich.
„Was ist?“, fragte erschrocken der Mann.
„Dieser blöde Stein, sieh dir diesen alten hässlichen Stein an! An diesem verdammten Ding habe ich mir meinen Zeh gestoßen! Schmerzhafte Stolperfallen, ich liebe sie, wie ich sie liebe, ha!“
„Tut es sehr weh?“, fragte er.
„Es geht schon wieder.“, meinte sie. „Schmerz entsteht, Schmerz vergeht. Aber in Zukunft passe ich auf diese alten, ja klassischen Stolperfallen auf. Vor diesen in den Weg gelegten Steinen muss man auf der Hut sein, wenn man das Ziel erreichen will, unser Ziel, du verstehst?“
„Nicht so ganz.“ gestand der Mann.
„Egal, wir trödeln hier um Triviales herum. Reine Zeitverschwendung, wenn du mich fragst. Wollen wir weiter?“
„Oder sollen wir rasten? Ich weiß nicht, warum, aber seit wir den Steinbruch verlassen haben, sind meine Kräfte spürbar gesunken. Meine Beine wackeln und die Hände sind zittrig wie Aale. Merkwürdig, nicht wahr?“
„Okay“, gab das Mädchen nach. „Lass uns dort vorne auf der Schwelle zwischen Wald und Flur rasten." Sie zog ihn weiter. "Du wirst deine Kräfte behutsam beisammenhalten müssen bei den Aufgaben, die am Strand dich erwarten. Wie ich mich schon freue! Stelle mir gerade vor, wie du um deine Schiffe gehst, sie begutachtest, hier und da nachflickst, was während der Abwesenheit die witternde Zeit ihnen zugefügt hat. Dann zum rauschenden Wasser hingehst und, auf Treibgut wartend, Ausschau hältst, nach dem Stoff, aus dem die Schiffe werden. Und schließlich nach Vollendung davor stehen und sagen wirst: ‚Wie gut, dass es so geworden ist.’“
„Ein Geisterschiff zu bauen?“, fragte der Mann.
Das Mädchen stutzte auffällig, sagte danach schnell: „Wie kommst du denn darauf? Eine Fregattenflotte wird es werden, die goldene Steine in Häfen bringt. Unsere Steine bringt das Schiff in die Häfen der Welt. Reisen werden sie auf großen Meeren, sicher getragen von deinem Werk.“
„Die Botschaft hör ich wohl, allein…- Ein Werk ist doch viel mehr als das.“
„Das mag sein, aber alle Werke haben einmal angefangen, Werk zu werden.“
„Was ist denn deiner Meinung nach mein Werk?“
„Die Segelschiffe.“
„Und was die Werke, die zum Werk werden?“
„All die Fragmente der Welt, die geeint werden wollen zum Ganzen.“
„Kannst du mir da Beispiele geben?“
„Das Treibgut der See oder die Steine, die mich zu dir und uns zu ihr zusammenführen. Einen ist doch was Schönes, oder? Endlich ergibt sich wieder Sinn, vieles wird übersichtlicher, das Gefühl der Einheit und das der Freiheit: beides zusammen auf der Reise mit deinem Schiff.“
„Warst du denn glücklich, als du meine Steine gefunden und sie bei dir geeint hast in der Tasche?“ Er deutete auf die Steinsäcke auf ihrem Rücken.
„Und wie! Du glaubst gar nicht, wie mir das geholfen hat. Es ist unglaublich intensiv, immer noch, sie bei mir zu spüren.“
„Und du bist dir da ganz sicher?“
„Ja doch, ja!“
Da schwieg der Mann eine Weile und dachte nach. Dann sagte er: „Dann kann ich nicht zurückgehen zum Strand, nicht jetzt. Ich bleibe im Steinbruch.“
„Nein!“, rief das Mädchen aus. „Komm, bitte, wir wollen doch weiter.“
Der Mann atmete ein paar Mal ruhig ein und aus: „Ich kann nicht mit dir gehen zum Strand. Denn siehe: Es sind Fragmente und Fracks der Vergangenheit, die ich in solcher Zukunft aufsuchen würde. Stünde ich am Strand und würde bei den Wellen warten auf die Planken, die das Meer, an Inseln vorbei, zum Strand brächte, so verginge doch die Gegenwart in Hoffnung auf noch mehr Bruchstücke der Vergangenheit, und mit jedem einzelnen damit auch die Zukunft, denn das Meer ist weit und breit und geduldig – und ich ein Mensch, der viel Zeit schon seines Menschenlebens dem Meer in Einsamkeit gegeben hat.“
„Was redest du da nur? Geht es dir gut?“
„Mir ging es, glaube ich, selten besser als in diesem Moment.“, lachte der Mann.
„Warum das denn?“
„Weil ich viele Steine und Steinsäcke nicht mehr trage.“
„Sondern?“
„Die Idee des Steinhauers.“
„Und die wäre?“
„Eine Heimat zwischen den Bergen.“
„Ich meine die Idee.“
„Das Bildnern in dieser Heimat.“
„Ich verstehe so langsam gar nichts mehr.“
Da sagte der junge Mann zum Mädchen: „Ich bedanke mich bei dir. Der Abstand durch unsre kleine Reise tat mir sehr gut. Ich hoffe, du vertraust mir, dass ich meinen Weg zurück gehe, zurück in die Zukunft, und Bildnern will.“
Er gab dem Mädchen einen Kuss auf die Wange und ging zurück. Als er ein paar Schritte entfernt war, glaubte er, einen grellen Schrei, greifenhaft, vernommen zu haben. Doch er ging lächelnd weiter. Er kam am Stein vorbei, an dem das Mädchen sich gestoßen hatte. „Du warst ihr Stein des Anstoßes, du, die sich spiegelnde Frucht auf dem Morgensee.“, schmunzelte der Mann und gedachte eines großen Mannes kleines Meisterwerk.
Als der junge Mann wieder zurückkam, sah er zwischen den Bergen Blöcke stehen. Manche waren schon zu Werken geworden, andere hingegen erst am Anfang ihres Werdens. Und er stellte sich vor, wie noch weitere Blöcke ihre Schätze in dieser Heimat sich zeigen werden. „Wohlan denn!“, sagte er. Und zwischen all den Blöcken, da sah er sie wieder blühen: die starke Blume, seine Distel.