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Von Verantwortung und Glück

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25.04.2005
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Von Verantwortung und Glück

Eine Welt aus hastigen Schuhen und undankbaren Fahrradreifen: mit seinen Händen zur Schüssel geformt, sitzt er am S-Bahnhof-Eingang Warschauer Straße. Die, die ihn sehen, honorieren seine Anwesenheit, aus welchen Gründen auch immer, mit wenigen Cents, die man aus kleiner Entfernung in seine Hände wirft, damit auch alle anderen es hören. Den Sinn des Satzes, den er täglich sagt, hat er längst schon vergessen, obwohl er ihn schon hundert- und tausendfach umformuliert hat. Die dankbaren Hände mit den schmutzigen Fingernägeln umgreifen ein jedes Centstück, putzen es, haben es gern – ganz so wie ein Kind, das wachsen soll. Unwirkliche Schatten seines frühren Lebens verfolgen ihn und die Gesichter seiner Kindheit mahnen mit erhobenem Zeigefinger. Er überlegt nicht mehr, an welcher Stelle in seinem Leben, er von seinem für ihn vorgefertigten Weg abkam, da er ahnt, dass auch dunkle Seitenstraßen dazu gehören. Sehnsüchtig blickt er auf Kinder, die seine hätten sein können und streichelt dann den kniehohen, schwarzen Hund zu seiner Rechten. Zum dritten Mal heute, leert er die gefaltete Pappe bis auf zwei Münzen, die laut „Gruppenzwang“ schreien und sortiert sie in seine Hosentasche, wirft sein Gesicht demonstrativ in Sorgenfalten und muss dann über sich lachen.
Manchmal hält er doch kurz inne: die ganzen Jahre auf der Straße haben seine Sicht verändert: der Frosch sieht anders als der Adler. Er erinnert sich an die Neunziger Jahre mit den gerade erst zwanzig Gewordenen, die selbstgefällig aus ihren von Broker-Provisionen bezahlten S-Klasse-Wagen winkten und nicht merkten, dass sie in Wahrheit mit Menschlichkeit und Jugend zahlten. Die ersten Ansammlungen bunt frisierter, halb nackter Raver, die Kaugummi kauend auf dem Bahnsteig standen, sich mit Amphetaminen und anderen Drogen sorglos machten und heute in Angst leben. Gleichermaßen die armen Frauen jeder Generation, die sich selbst nicht spüren und sich dicht an ihren Götter-Gatten gedrängelt, aufzulösen scheinen. Der strenge Bänker, der eigentlich Schauspieler werden wollte und jetzt die verärgerte Mimik seiner Kunden imitiert. Nur seine Frau sah er nie mehr, die ihn für einen anderen verlassen hatte und wieder verlassen wurde.
Er drückt den letzten Schluck aus der sowieso schon verbeulten Bierbüchse, steht auf, wie man mit 58 Jahren vom Boden aufsteht, klopft kontrollierend seine Hosentasche, was auch seinen Hund animiert und folgt der Sonne über die Warschauer Brücke Richtung Kreuzberg. Ab und an bleibt er stehen, entdeckt Mitgefühl in Augen, die auch Sorgen kennen und fragt wieder nach Kleingeld. Er kennt die Menschen gut. Als er die Oberbaumbrücke überquert und auf die Wellen guckt, die den roten Himmel flackernd spiegeln, träumt er von einem reinigenden Vollbad mit rosigem Duft und kann es fast schon riechen. Für ihn wäre es ein Leichtes sich fallen zu lassen, spürte er da nicht die eigentlich verhasste Verantwortung seinem Hund gegenüber. So geht er weiter zu seiner alt bekannten Stelle im Görlitzer Park, legt sich in den Windschutz eines breiten Busches und visualisiert das Bild von sich in der Arbeitsagentur. Er könnte, wenn er wollte, doch er findet es gerechtfertigter, wenn eine private Person seine Frage nach Geld verneint, als eine frustrierte Dame in der Behörde, die im Bewusstsein lebt, man wäre auf sie angewiesen und sich dementsprechend profiliert. Widerwillig schüttelt er den Kopf und verwirft die Idee, rückt seine Kapuze zum besseren Kopfkissen und schläft ein.

 

Hallo Max,

stilistisch finde ich deine Geschichte schön, inhaltlich ist sie mir nicht tief genug. Jeder weiß, dass es immer mehr Obdachlose in unserem Land gibt, und jeder hat eine Vorstellung davon. Deine Geschichte ist bei aller Härte schon fast etwas romantisch, gerade, wenn dein Prot über die Alternativen nachdenkt.
Schön finde ich die Überlegung zum Schluss.

Ein Detail noch:

Die, die ihn sehen, honorieren seine Anwesenheit, aus welchen Gründen auch immer, mit wenigen Cents, die man aus kleiner Entfernung in seine Hände wirft, damit auch alle anderen es hören.
Du wechselst die Persona mitten im Satz. Richtig muss es heißen: Die, die ihn sehen, honorieren seine Anwesenheit, aus welchen Gründen auch immer, mit wenigen Cents, die sie aus kleiner Entfernung in seine Hände werfen, damit auch alle anderen es hören.

Lieben Gruß, sim

 

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