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Vor dem Haus
Es wurde langsam Morgen. So früh. War die Sonne nicht gerade erst untergegangen? Sie wusste es nicht.
Sie stand am Fenster und starrte hinaus. Es wurde langsam Winter, Reif lag auf den Wiesen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, jetzt da draußen spazieren zu gehen. Sie könnte die eiskalte Luft einatmen und das Gras unter ihren Schritten knirschen hören. Sie könnte immer weiter gehen, vielleicht bis zu dieser kleinen Hütte im Wald, wo sie früher so oft gewesen war. Sie hatte den Schlüssel noch immer in ihrer Hosentasche, trug ihn immer bei sich, ließ ihn niemals gehen. Zu wichtig waren ihr die Erinnerungen an diese Zeit, zu sehr brauchte sie die Hoffnung, dass es einmal vielleicht wieder so werden könnte wie damals.
Damals, das klang so weit weg. Dabei waren es noch nicht einmal zwei Jahre, seit sie das letzte Mal dortgewesen war. Es war merkwürdig. Oft dachte sie daran zurückzugehen, doch niemals war ihr Verlangen stärker gewesen als in diesem Augenblick.
Doch sie konnte nicht gehen. Nicht jetzt, vielleicht niemals. Sie musste bleiben, sie hatte ihm versprochen, dass sie hier sein würde, wenn er aufwachte.
Sie drehte sich um und sah ihn in ihrem Bett liegen, schlafend. Wann würde er aufwachen? Ob sie es riskieren könnte, nur kurz nach draußen zu gehen, die Zeitung zu holen vielleicht? Nein, das ging nicht.
Ihre Hand wanderte wieder in ihrer Hosentasche und holte den Schlüssel hervor. Die Erinnerung schmerzte, doch das störte sie nicht. Sie hatte es ja so gewollt. Sie mochte es so. Der Schmerz war ihr lieber als die stickige Luft dieses engen Zimmers. Sie musste hier raus.
Sie griff nach ihrer Jacke. Er würde schon nicht aufwachen und in fünf Minuten war sie ja auch wieder da. Dann könnte sie vielleicht Kaffee kochen. Er mochte Kaffee. Sie könnten gemeinsam frühstücken und die Zeitung lesen, sich um den Sportteil streiten. Es war nicht so, dass sie Sport so sehr interessierte, aber sie wollte nicht lesen, welche Schandtaten sich die Politiker wieder ausgedacht hatten oder was für Anschläge in der Nacht verübt worden waren. Realität war nicht gut für sie. Der Gedanke daran machte sie schon zittern. Es wurde Zeit, dass sie nach draußen kam; es war besser, vor Kälte zu zittern denn aus Angst. Sie ging. Er schlief.
Die Morgenluft war kalt, eisig wie erwartet. Sie konnte kaum atmen, hatte das Gefühl zu ersticken. Es tat gut. Sie schaute in den Briefkasten. Die Zeitung war noch nicht da. Vielleicht war es noch zu früh; sie hatte keine Uhr dabei.
Sie beschloss ein paar Schritte zu gehen. Wenn sie nun schon einmal hier war. Er würde schon nicht gleich aufwachen.
Das Gartentor war ebenfalls mit Reif überzogen. Sie legte ihre Hand auf die Klinke, ohne sie nach unten zu drücken. Ihre Finger blieben kleben, es tat weh, als sie ihre Hand zurückzog. Sie ging weiter durch das Gras. Es knirschte. Wie schön. Ihr Atem stieg weiß in die Luft. Sie fror.
Sie hörte Schritte. Schritte, die nicht ihre eigenen waren. Sie drehte ihren Kopf zur Straße. Der Zeitungsbote kam des Weges. Er wunderte sich, sie zu sehen. Es war ja ungewöhnlich. Sie war sonst nie um diese Zeit auf.
Er kam bedrohlich nahe. Nein, nicht bedrohlich, schließlich hatte sie ja auf ihn gewartet, wenn sie ehrlich war. Er reichte ihr stumm die Zeitung. Er fand es wohl zu kalt, zu früh zum Reden. Er machte nur seinen Job. Sie dankte leise, mit einem warmen Lächeln. Dumme Menschen, sie dachten immer, Kälte wäre etwas Schlimmes.
Sie nahm die Zeitung entgegen. Das Papier fühlte sich kalt an, roch angenehm nach Druckerschwärze. Niemand hatte die Worte auf diesem Papier jemals gelesen. Sie war die Erste. Es tat gut, die Erste zu sein, auch wenn es nur um das Lesen einer Zeitung ging.
Sollte sie jetzt wieder nach drinnen gehen? Er schlief bestimmt noch. Sie konnte noch etwas bleiben.
Sie ging zu einer Bank und fragte sich, warum diese eigentlich noch hier stand. Sie musste ihm sagen, dass er die Bank hereinholen sollte. Es wurde Winter, da ließ man keine Bank draußen stehen.
Sie setzte sich. Es war kalt, doch das störte sie jetzt nicht. Sie begann, die Zeitung auseinanderzufalten. Es war eine dicke Zeitung, hauptsächlich wegen der Werbung, die sie nicht interessierte. Sie kaufte nie Sachen, die in der Werbung gezeigt wurden. Das war schade, denn eigentlich wollte sie manche dieser Sachen. Aber die Werbung verbot ihr, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Es war einfach nicht richtig.
Sie versuchte, dem Nachrichtenteil auszuweichen, immer auf der Suche nach den Sportberichten. Reiseangebote, das klang gut. Streng genommen war das auch Werbung, aber es beflügelte ihre Fantasie. Sie musste ja nicht wirklich wegfahren. Sie dachte an den Schlüssel in ihrer Hosentasche.
Kroatien - zu nah an der Realität. Paris - viel zu weitläufig. Bayrischer Wald - eignete sich nicht zum Träumen. New York, das gefiel ihr. Sie mochte amerikanische Filme. Dort war es alles so anders als hier. Nicht so real. Vielleicht sollte sie dann lieber nach Las Vegas fliegen, die Realität hinter sich lassen.
Sie blätterte um. Sie konnte jetzt nicht weg. Eigentlich sollte sie nicht einmal hier draußen sein. Aber er hatte sie noch nicht gerufen, also schlief er vermutlich ohnehin noch. Sie hatte also noch etwas Zeit.
Sie griff nach dem Sportteil. Sie konnte kaum mehr die Seite umblättern, so steif waren ihre Finger. Aber wen störte das schon, den Marathonläufern in Südafrika war bestimmt warm. Sie brauchten keine Heizung, die nur die Luft im Zimmer immer trockener werden ließ; sie hatten eine innere Heizung.
Das war sinnlos. Was sie las, interessierte sie nicht. Sie suchte doch nur nach einer weiteren Ausrede, nicht wieder ins Haus gehen zu müssen. Lesen machte ihr keinen Spaß mehr. Früher hatte sie gern gelesen, früher, als das Schloss, welches der Schlüssel in ihrer Tasche öffnete, noch nicht so verrostet war.
Sie ging wieder zurück zum Gartentor, die Zeitung aufgeschlagen auf der Bank zurücklassend. Wen kümmerte das schon. Irgendwann würde das Papier festfrieren oder wegfliegen, aber vermutlich würde er vorher herauskommen, auf der Suche nach ihr, und die Zeitung mitnehmen.
Kein einziges Auto war vorbeigefahren, seit sie hier draußen saß. Vermutlich schliefen noch alle. Er schlief auch noch. Sie fragte sich, warum sie eigentlich schon auf war, es war gar nicht ihre Art, nicht mehr schlafen zu können. Sie war irgendwie rastlos, doch sie wusste nicht, weshalb.
Sie öffnete das Gartentor und trat auf die Straße. Es tat diesmal weniger weh, sie hatte sich an die Kälte gewöhnt. Bald würde es Schnee geben.
Sie ging ein paar Schritte die Straße entlang, nicht sicher, wohin sie eigentlich wollte. Sie wusste, er würde bald aufwachen und dann sollte sich bei ihm sein, sollte ihn küssen und ihm einen guten Morgen wünschen. Doch was war gut an einem Morgen, der so anfing? Sie wusste es nicht, hatte sich nie mit dem Ursprung dieses Klischees beschäftigt. Und jetzt hatte sie jedes Intesse daran verloren.
Sie ging weiter. Sie dachte nicht nach; der eisige Wind blockierte ihre Gedanken. Ihr Kiefer begann zu schmerzen. Früher hatte sie das gehasst, jetzt war es ihr egal. Es spielte kein Rolle mehr, wohin sie ging. Sie hatte sich entschieden, nicht zu bleiben, das war schon genug.
Ein Wagen hielt neben ihr. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter (es war schon ein älteres Modell) und fragte sie, wohin sie wolle. Komisch, dachte sie, dass sich dafür überhaupt jemand interessierte. Normalerweise fuhren die Leute immer einfach vorbei, zu beschäftigt, um sie überhaupt zu bemerken.
Sie sagte, sie wisse es nicht. Er lächelte, doch da war ein zweifelnder Unterton in seinem Lächeln. Er machte sich Sorgen, Sorgen um sie. Es war merkwürdig. Diese ganze Szene war merkwürdig. Kein bisschen real.
Er fragte sie, ob sie mitfahren wolle. Sie stieg ein. Mochte die Realität doch sehen, wo sie blieb.