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- 31.08.2008
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Vor dem Spiegel
Die alte Baubo kommt allein,
Sie reitet auf einem Mutterschwein.
Johann Wolfgang von Goethe
Faust I, Walpurgisnacht.
Marie: Mein Gott – wie Du aussiehst! Willst du wirklich so gehen?
Anne: Ja klar!
Marie: Diese schreienden Farben – verrückt!
Anne: Ach du…artiges…!
Marie: Willst du nicht wenigstens…
Anne: Wenigstens was?
Marie: …deine Haare zusammenbinden…
Anne: Meine Haare sind, wie sie sind. Sie sind wie ich.
Marie: Und wie du dir die Lippen anmalst!
Anne: Ja. Herausfordernd. Lustig. Lustvoll. Ich jedenfalls lebe meine Lust. Und du?
Marie: Ich auch. Aber es gibt mehr als das.
Anne: Haha.
Marie: Du entziehst dich, lebst nur für dich…
Anne: Aber ich weiß, was ich will. Weißt du noch, was du willst? Aus `tun dürfen, was ein Mann tut´, ist doch längst `tun müssen, was ein Mann tut´ geworden. Frau kann heute alles erreichen, um den Preis, dass sie aufhört, Frau zu sein … hilf mir mal, den Rock zu binden.
Marie: Ja, warte – mein Gott, du trägst ja gar keinen Slip!
Anne: Ich mag halt den Wind spüren. Wie steht mir der Schal?
Marie: Jeder trägt seinen Teil.- Trag du den Schal, ist okay.
Anne: Liebst du dich selbst dabei?
Marie: Ja, das tue ich…
Anne: …bis auf einige Anteile, die dir nicht geheuer sind…
Marie: …und das wären?
Anne: Die hier vor dir stehen. Wie findest du diesen Lidschatten?
Marie: Zu dunkel.
Anne: Aber er muss dunkel sein. Dunkel wie die Furcht, wie das Grauen, wie der Tod, und dunkel wie der Ursprung allen Lebens, wie die Schöpfung – das ist dein Part, dessen du dir ungern gewahr wirst. Dunkel wie der unwiderstehliche Sog, der von meiner Vulva ausgeht … ich bin das Dunkel, faszinierend und furchteinflößend. Ich bin der Teil von dir, vor dem du Angst hast; ich bin deine Angst.
Marie: Vor allem jagst du so den Männern Angst ein, aber das willst du ja.- Nimm mehr blau.
Anne: Die Farbe der Ewigkeit - aber es stimmt, irgendwo muss die ja auch sein. Rot sind ja schon meine Lippen…
Marie: … die um deinen Mund, ja. Und wie rot!
Anne: Blutrot. Haut, so weiß wie Schnee, Haare, so schwarz wie Ebenholz, Lippen, so rot wie Blut …
Marie: Du trägst aber Henna.
Anne: Aus Solidarität. Unsere Gene haben sie verbrannt, es gibt nur noch wenige Rothaarige, aber die Seelen kommen wieder, wir sind alle wieder da, und heut´ Nacht treffen wir uns wieder und machen einen großen Zauber … wie jedes Jahr zu Walpurgis.
Marie: … und stellt die Welt auf den Kopf und die Ordnung infrage. Schön, wenn danach wieder alles gut ist, alles wieder in gewohnten Bahnen läuft. Mach´ nur. Einmal im Jahr laut, schrill und schreiend…
Anne: Wir sind das, was ihr nicht mehr lebt. Erst haben sie uns gespalten, dich und mich, da waren wir noch gleichrangig, wenn auch getrennt … dann haben sie mich unterdrückt, und du, du wurdest frei, frei von mir, deinem Selbst, deinem Leben, das züchtige Muttertier unter der Herrschaft der Männer, und dann – dann haben sie mich getötet, und was wurde aus dir, ohne mich? Heilige Jungfrau! Was hast du nur mit dir machen lassen!
Marie: Und doch, wer schaffte die Ordnung aus dem Chaos, wer liebte und nährte die Kinder? Wer stände dafür, dass das Leben weitergeht? Du doch nicht!
Anne: Genau wie du! Wer ermöglicht das Neue in diesem Leben? Wer zerstört den geliebten Trott der Menschen, wenn er sich totgelaufen hat? Die Welt will immer wieder neu entstehen, in jedem Zeitalter, jeder Epoche, jedem Jahr, jedem Tag, jeder Stunde … was sich nicht ständig neu erschafft, stirbt.
Marie: `Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und Werde!´
Anne: Lass das!
Marie: Warum? Das ist es doch, was du sagst!
Anne: Das hat ein Mann gedichtet!
Marie: Aber es stimmt! Ist hier heut´ männerfreie Zone?
Anne: Ich denke, wir haben gerade mit uns zweien genug zu schaffen.
Marie: `Bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde´.
Anne: Schluss mit deinem Weimarer Frauenversteher! Jetzt nimm du mal den Pinsel!
Marie: Aber ich lasse Leben gedeihen, lebe Abschiede und Begegnungen, jeden Tag, ich bin die, die alles wachsen läßt…du trägst zu dick auf.
Anne: Und du nimmst den Mund zu voll.
Marie: Aber womit?
Anne: Das solltest du selbst wissen, was dir da hineingerät…
Marie: Anne, du übertreibst.- Auch die beständige Liebe besteht aus Geburten und Toden, jeden Tag, auch im alltäglichen, das du so verachtest… auch ich erlebe die vielen kleinen Tode, aus denen Leben entsteht … aber ich begleite sie, diese täglich sterbenden und neu lebenden Menschen, bin für sie da, flüchte nicht und zerstöre nicht, bis ins Alter. Dann kommen meine Enkelkinder zu mir und setzen sich auf meinen Schoß. Und du? Ich glaube, du wirst nochmal sehr einsam sein.
Anne: Einsam und unlebendig, das ist dasselbe. Das bist du jetzt schon. Sicherheit, Erstarrung – das verträgt sich nicht mit dem Leben.- Wie findest du die Schuh´?
Marie: Wieder rot. Na ja.
Anne: Die müssen so sein. - Wann hast du das letzte Mal deine Lust erlebt? Wann begehrt, bis es in allen Adern sprudelt? Wann?
Marie: Es gibt einen Unterschied zwischen einem furiosen Waldbrand und einem Herdfeuer in der Küche…
Anne: Es gibt einen Unterschied zwischen einem knisternden Herdfeuer und einem Teelicht in einem Stövchen …
Marie: Ich bin still, ganz still, empfange ihn, wenn er seinen kleinen Tod stirbt, genieße die Verschmelzung…
Anne: Wohl besonders die Verschmelzung mit dem Alltag. Spürst du dich selbst noch?
Marie: Ja. Aber ich lebe für eine Aufgabe.
Anne: Du meinst: deine Selbstaufgabe.
Marie: Du tust immer so stark, so frei, als hättest du die Lebensweisheit aller alten Frauen auf einmal gefressen. Und bist doch so zerstörerisch. Wie viel von deinem wilden Leben ist Lust, ist Stärke, und wie viel bloß Haltlosigkeit, Getriebensein, Verzweiflung?
Anne: Ja, ich gehe immer wieder durch das unbändige Feuer, Auflösung und Selbstfindung, alles beides findet in mir statt. Muss es ja, wenn wir zwei nicht zusammenarbeiten…
Marie: Du klammerst dich an jeden Strohhalm, der vorübertreibt…
Anne: Ja, sieh das so, lass´ es dir eine Genugtuung sein. Was bleibt dir sonst? Aber etwas fester ist es schon, was ich mir bisher so gegriffen habe…
Marie: Und wenn schon. Die meisten Männer schlägst du ja in die Flucht. Wenn sie deine Scham erblicken, nehmen sie die Beine in die Hand …
Anne: …und rennen. Ja, stimmt, von dieser Sorte gibt es genug. Ich spreize die Beine und lache sie aus, überschütte sie mit Hohn und Spott … meine Vulva hat schon alles gesehen, was es in der Welt gibt, dieser elenden Männerwelt…
Marie: Und kommst allein. Hebst den Rock und … Was bleibt dir sonst? Bleibt ab und zu ein richtiger Mann?
Anne: Gibt´s das? Ja, ab und zu…aber eine Frau ist mir noch nie davongerannt…
Marie: Was sagst du da? Stimmt das etwa?
Anne: Und wenn?
Marie: Nein.
Anne: Doch.
Marie: Erfüllt es dich? Beglückt es dich?
Anne: Du hast keine Ahnung!
Marie: Dass du das erträgst, keine Angst hast…so zu leben, ohne feste Bindung. Unversorgt.
Anne: Und wie geht es deiner Angst? Wenn dein Mann dich verlässt, bricht dein Leben zusammen, dann bist auch du unversorgt. Darum musst du immer attraktiv sein, für ihn. Attraktiv, aber nicht reizend. Nicht bedrohlich. Und doch so reizend, das er sich die Abenteuer verkneift, denn die machen dir auch Angst. Sie bedrohen dich, stellen alles infrage, was du aufgebaut hast. Wenn du deinen Job verlierst, ist es dasselbe. Auch dort musst du attraktiv sein. Artig auftreten, diskutieren nach Männerart. Sonst…Absturz ins gesellschaftliche Aus … ich dagegen, ich lebe im Aus. Deine Angst kann mir nichts anhaben.
Marie: Und doch hast auch du Angst. Auf dem Grunde unserer Seele haben wir alle Angst.
Anne: Aber nicht die Angst, die das Leben tötet, nicht Angst vor Erregung, vor Lust, vor frischem Wind...ich spüre die Angst hinter der Erregung, die Angst vor dem Schmerz, der zu jeder Liebe gehört, vor der Trennung…
Marie: Meist gehst doch du…du große Verlasserin!
Anne: Auch das tut weh.- Gib mir Deine Halskette!
Marie: Das ist mein Hochzeitsgeschenk! Und du nimmst sie mit auf die Demo?
Anne: Na und? Heute ist Walpurgis! Heute zeigen wir´s den Männern! Gib schon, sie kommt nicht weg. Dein Hochzeitsgeschenk, hihi. Aber schön ist sie doch. Danke. Legst du sie mir um?
Marie: Na gut. Gefällt sie dir wirklich?
Anne: Ja.
Marie: Merkwürdig.
Anne: Was?
Marie: Wie nah du mir wieder bist!
Anne: Ja.
Marie: Was ja?
Anne: Du mir auch.
Marie: Und doch fühlen wir so gegensätzlich.
Anne: Ja.
Marie: Unvereinbar.
Anne: Einmal waren wir eins.
Marie: Was meinst Du damit?
Anne: Wir waren eins.
Marie: Wann?
Anne: Vor langer Zeit.
Marie: Bist du sicher?
Anne: Stelle dich hinter mich.
Marie: So?
Anne: Ja. Jetzt breite deine Arme aus.
Marie: So?
Anne: Ja, ich tu´ es jetzt auch. Wir haben vier Arme. Wie die Göttin … allmächtig. Spendend und nehmend. Liebend und furchterregend…
Marie: Was hat uns getrennt?
Anne: Willst du es wirklich wissen?
Marie: Ja. Warum nicht?
Anne: Nun, es ist nichts für die verzagte Seele, die du heute bist…
Marie: Was du aushältst, halte ich auch aus.
Anne: Schau´ in den Spiegel. Schau!
Marie: Ja. Was ist das? Was kommt da auf uns zu?
Anne: Du kennst es nicht mehr?
Marie: Groß, dick, lila … nein!
Anne: Halt dich fest!
Marie: Nein! Das Ding bringt uns um!
Anne: Ich halte dich!
Marie: Nein! Nein!
Marie: Was war das? Allmächtiger!
Anne: Jetzt weißt du `s. Diese mörderische Gewalt hat aus uns zwei gemacht. Wir haben uns aufgespalten, um zu überleben.
Marie: Und du … hast es immer gewußt?
Anne: Nein. Aber ich sehe viel.
Marie: Was machen wir nun?
Anne: Wir vereinigen uns wieder. Um zu leben.
Marie: Wie soll das gehen? Du und ich? Niemals!
Anne: Und nun gehe ich. Die anderen Frauen warten schon draußen. Ich höre es.
Marie: Ach ja, geh´ nur. Ich hoffe, du kommst heil zurück.
Anne: Wer sollte mir etwas tun?
Marie: Die Polizei.
Anne: Das sagst du? Mit patriarchalischer Ordnung bist du doch gut Freund! Könntest mich ja beschützen, du allmächtige Übermutterschutzpatronin. Ist aber nicht nötig. Heute Nacht bin ich stark, heute bin ich oben und du – du kommst mit!
Marie: Seltsam. Seit Jahren sehe ich dich, lasse dich ziehen. Heute ist mir ganz kribbelig, bei dem Gedanken, was du tust.
Anne: Na dann. Bitte!
Marie: Okay. Ich komme.
Anne: Gut.
Marie: Wie schmutzig die Treppe wieder ist … wie laut die Frauen rufen; sie schreien und trommeln.
Anne: Da sind schon meine Freundinnen! Hallo Jeanne!
Jeanne: Hallo Marieanne, schön dass du da bist!