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Vor dem Spiegel

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31.08.2008
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Vor dem Spiegel

Die alte Baubo kommt allein,
Sie reitet auf einem Mutterschwein.
Johann Wolfgang von Goethe
Faust I, Walpurgisnacht.

Marie: Mein Gott – wie Du aussiehst! Willst du wirklich so gehen?
Anne: Ja klar!
Marie: Diese schreienden Farben – verrückt!
Anne: Ach du…artiges…!
Marie: Willst du nicht wenigstens…
Anne: Wenigstens was?
Marie: …deine Haare zusammenbinden…
Anne: Meine Haare sind, wie sie sind. Sie sind wie ich.
Marie: Und wie du dir die Lippen anmalst!
Anne: Ja. Herausfordernd. Lustig. Lustvoll. Ich jedenfalls lebe meine Lust. Und du?
Marie: Ich auch. Aber es gibt mehr als das.
Anne: Haha.
Marie: Du entziehst dich, lebst nur für dich…
Anne: Aber ich weiß, was ich will. Weißt du noch, was du willst? Aus `tun dürfen, was ein Mann tut´, ist doch längst `tun müssen, was ein Mann tut´ geworden. Frau kann heute alles erreichen, um den Preis, dass sie aufhört, Frau zu sein … hilf mir mal, den Rock zu binden.
Marie: Ja, warte – mein Gott, du trägst ja gar keinen Slip!
Anne: Ich mag halt den Wind spüren. Wie steht mir der Schal?
Marie: Jeder trägt seinen Teil.- Trag du den Schal, ist okay.
Anne: Liebst du dich selbst dabei?
Marie: Ja, das tue ich…
Anne: …bis auf einige Anteile, die dir nicht geheuer sind…
Marie: …und das wären?
Anne: Die hier vor dir stehen. Wie findest du diesen Lidschatten?
Marie: Zu dunkel.
Anne: Aber er muss dunkel sein. Dunkel wie die Furcht, wie das Grauen, wie der Tod, und dunkel wie der Ursprung allen Lebens, wie die Schöpfung – das ist dein Part, dessen du dir ungern gewahr wirst. Dunkel wie der unwiderstehliche Sog, der von meiner Vulva ausgeht … ich bin das Dunkel, faszinierend und furchteinflößend. Ich bin der Teil von dir, vor dem du Angst hast; ich bin deine Angst.
Marie: Vor allem jagst du so den Männern Angst ein, aber das willst du ja.- Nimm mehr blau.
Anne: Die Farbe der Ewigkeit - aber es stimmt, irgendwo muss die ja auch sein. Rot sind ja schon meine Lippen…
Marie: … die um deinen Mund, ja. Und wie rot!
Anne: Blutrot. Haut, so weiß wie Schnee, Haare, so schwarz wie Ebenholz, Lippen, so rot wie Blut …
Marie: Du trägst aber Henna.
Anne: Aus Solidarität. Unsere Gene haben sie verbrannt, es gibt nur noch wenige Rothaarige, aber die Seelen kommen wieder, wir sind alle wieder da, und heut´ Nacht treffen wir uns wieder und machen einen großen Zauber … wie jedes Jahr zu Walpurgis.
Marie: … und stellt die Welt auf den Kopf und die Ordnung infrage. Schön, wenn danach wieder alles gut ist, alles wieder in gewohnten Bahnen läuft. Mach´ nur. Einmal im Jahr laut, schrill und schreiend…
Anne: Wir sind das, was ihr nicht mehr lebt. Erst haben sie uns gespalten, dich und mich, da waren wir noch gleichrangig, wenn auch getrennt … dann haben sie mich unterdrückt, und du, du wurdest frei, frei von mir, deinem Selbst, deinem Leben, das züchtige Muttertier unter der Herrschaft der Männer, und dann – dann haben sie mich getötet, und was wurde aus dir, ohne mich? Heilige Jungfrau! Was hast du nur mit dir machen lassen!
Marie: Und doch, wer schaffte die Ordnung aus dem Chaos, wer liebte und nährte die Kinder? Wer stände dafür, dass das Leben weitergeht? Du doch nicht!
Anne: Genau wie du! Wer ermöglicht das Neue in diesem Leben? Wer zerstört den geliebten Trott der Menschen, wenn er sich totgelaufen hat? Die Welt will immer wieder neu entstehen, in jedem Zeitalter, jeder Epoche, jedem Jahr, jedem Tag, jeder Stunde … was sich nicht ständig neu erschafft, stirbt.
Marie: `Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und Werde!´
Anne: Lass das!
Marie: Warum? Das ist es doch, was du sagst!
Anne: Das hat ein Mann gedichtet!
Marie: Aber es stimmt! Ist hier heut´ männerfreie Zone?
Anne: Ich denke, wir haben gerade mit uns zweien genug zu schaffen.
Marie: `Bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde´.
Anne: Schluss mit deinem Weimarer Frauenversteher! Jetzt nimm du mal den Pinsel!
Marie: Aber ich lasse Leben gedeihen, lebe Abschiede und Begegnungen, jeden Tag, ich bin die, die alles wachsen läßt…du trägst zu dick auf.
Anne: Und du nimmst den Mund zu voll.
Marie: Aber womit?
Anne: Das solltest du selbst wissen, was dir da hineingerät…
Marie: Anne, du übertreibst.- Auch die beständige Liebe besteht aus Geburten und Toden, jeden Tag, auch im alltäglichen, das du so verachtest… auch ich erlebe die vielen kleinen Tode, aus denen Leben entsteht … aber ich begleite sie, diese täglich sterbenden und neu lebenden Menschen, bin für sie da, flüchte nicht und zerstöre nicht, bis ins Alter. Dann kommen meine Enkelkinder zu mir und setzen sich auf meinen Schoß. Und du? Ich glaube, du wirst nochmal sehr einsam sein.
Anne: Einsam und unlebendig, das ist dasselbe. Das bist du jetzt schon. Sicherheit, Erstarrung – das verträgt sich nicht mit dem Leben.- Wie findest du die Schuh´?
Marie: Wieder rot. Na ja.
Anne: Die müssen so sein. - Wann hast du das letzte Mal deine Lust erlebt? Wann begehrt, bis es in allen Adern sprudelt? Wann?
Marie: Es gibt einen Unterschied zwischen einem furiosen Waldbrand und einem Herdfeuer in der Küche…
Anne: Es gibt einen Unterschied zwischen einem knisternden Herdfeuer und einem Teelicht in einem Stövchen …
Marie: Ich bin still, ganz still, empfange ihn, wenn er seinen kleinen Tod stirbt, genieße die Verschmelzung…
Anne: Wohl besonders die Verschmelzung mit dem Alltag. Spürst du dich selbst noch?
Marie: Ja. Aber ich lebe für eine Aufgabe.
Anne: Du meinst: deine Selbstaufgabe.
Marie: Du tust immer so stark, so frei, als hättest du die Lebensweisheit aller alten Frauen auf einmal gefressen. Und bist doch so zerstörerisch. Wie viel von deinem wilden Leben ist Lust, ist Stärke, und wie viel bloß Haltlosigkeit, Getriebensein, Verzweiflung?
Anne: Ja, ich gehe immer wieder durch das unbändige Feuer, Auflösung und Selbstfindung, alles beides findet in mir statt. Muss es ja, wenn wir zwei nicht zusammenarbeiten…
Marie: Du klammerst dich an jeden Strohhalm, der vorübertreibt…
Anne: Ja, sieh das so, lass´ es dir eine Genugtuung sein. Was bleibt dir sonst? Aber etwas fester ist es schon, was ich mir bisher so gegriffen habe…
Marie: Und wenn schon. Die meisten Männer schlägst du ja in die Flucht. Wenn sie deine Scham erblicken, nehmen sie die Beine in die Hand …
Anne: …und rennen. Ja, stimmt, von dieser Sorte gibt es genug. Ich spreize die Beine und lache sie aus, überschütte sie mit Hohn und Spott … meine Vulva hat schon alles gesehen, was es in der Welt gibt, dieser elenden Männerwelt…
Marie: Und kommst allein. Hebst den Rock und … Was bleibt dir sonst? Bleibt ab und zu ein richtiger Mann?
Anne: Gibt´s das? Ja, ab und zu…aber eine Frau ist mir noch nie davongerannt…
Marie: Was sagst du da? Stimmt das etwa?
Anne: Und wenn?
Marie: Nein.
Anne: Doch.
Marie: Erfüllt es dich? Beglückt es dich?
Anne: Du hast keine Ahnung!
Marie: Dass du das erträgst, keine Angst hast…so zu leben, ohne feste Bindung. Unversorgt.
Anne: Und wie geht es deiner Angst? Wenn dein Mann dich verlässt, bricht dein Leben zusammen, dann bist auch du unversorgt. Darum musst du immer attraktiv sein, für ihn. Attraktiv, aber nicht reizend. Nicht bedrohlich. Und doch so reizend, das er sich die Abenteuer verkneift, denn die machen dir auch Angst. Sie bedrohen dich, stellen alles infrage, was du aufgebaut hast. Wenn du deinen Job verlierst, ist es dasselbe. Auch dort musst du attraktiv sein. Artig auftreten, diskutieren nach Männerart. Sonst…Absturz ins gesellschaftliche Aus … ich dagegen, ich lebe im Aus. Deine Angst kann mir nichts anhaben.
Marie: Und doch hast auch du Angst. Auf dem Grunde unserer Seele haben wir alle Angst.
Anne: Aber nicht die Angst, die das Leben tötet, nicht Angst vor Erregung, vor Lust, vor frischem Wind...ich spüre die Angst hinter der Erregung, die Angst vor dem Schmerz, der zu jeder Liebe gehört, vor der Trennung…
Marie: Meist gehst doch du…du große Verlasserin!
Anne: Auch das tut weh.- Gib mir Deine Halskette!
Marie: Das ist mein Hochzeitsgeschenk! Und du nimmst sie mit auf die Demo?
Anne: Na und? Heute ist Walpurgis! Heute zeigen wir´s den Männern! Gib schon, sie kommt nicht weg. Dein Hochzeitsgeschenk, hihi. Aber schön ist sie doch. Danke. Legst du sie mir um?
Marie: Na gut. Gefällt sie dir wirklich?
Anne: Ja.
Marie: Merkwürdig.
Anne: Was?
Marie: Wie nah du mir wieder bist!
Anne: Ja.
Marie: Was ja?
Anne: Du mir auch.
Marie: Und doch fühlen wir so gegensätzlich.
Anne: Ja.
Marie: Unvereinbar.
Anne: Einmal waren wir eins.
Marie: Was meinst Du damit?
Anne: Wir waren eins.
Marie: Wann?
Anne: Vor langer Zeit.
Marie: Bist du sicher?
Anne: Stelle dich hinter mich.
Marie: So?
Anne: Ja. Jetzt breite deine Arme aus.
Marie: So?
Anne: Ja, ich tu´ es jetzt auch. Wir haben vier Arme. Wie die Göttin … allmächtig. Spendend und nehmend. Liebend und furchterregend…
Marie: Was hat uns getrennt?
Anne: Willst du es wirklich wissen?
Marie: Ja. Warum nicht?
Anne: Nun, es ist nichts für die verzagte Seele, die du heute bist…
Marie: Was du aushältst, halte ich auch aus.
Anne: Schau´ in den Spiegel. Schau!
Marie: Ja. Was ist das? Was kommt da auf uns zu?
Anne: Du kennst es nicht mehr?
Marie: Groß, dick, lila … nein!
Anne: Halt dich fest!
Marie: Nein! Das Ding bringt uns um!
Anne: Ich halte dich!
Marie: Nein! Nein!

Marie: Was war das? Allmächtiger!
Anne: Jetzt weißt du `s. Diese mörderische Gewalt hat aus uns zwei gemacht. Wir haben uns aufgespalten, um zu überleben.
Marie: Und du … hast es immer gewußt?
Anne: Nein. Aber ich sehe viel.
Marie: Was machen wir nun?
Anne: Wir vereinigen uns wieder. Um zu leben.
Marie: Wie soll das gehen? Du und ich? Niemals!
Anne: Und nun gehe ich. Die anderen Frauen warten schon draußen. Ich höre es.
Marie: Ach ja, geh´ nur. Ich hoffe, du kommst heil zurück.
Anne: Wer sollte mir etwas tun?
Marie: Die Polizei.
Anne: Das sagst du? Mit patriarchalischer Ordnung bist du doch gut Freund! Könntest mich ja beschützen, du allmächtige Übermutterschutzpatronin. Ist aber nicht nötig. Heute Nacht bin ich stark, heute bin ich oben und du – du kommst mit!
Marie: Seltsam. Seit Jahren sehe ich dich, lasse dich ziehen. Heute ist mir ganz kribbelig, bei dem Gedanken, was du tust.
Anne: Na dann. Bitte!
Marie: Okay. Ich komme.
Anne: Gut.

Marie: Wie schmutzig die Treppe wieder ist … wie laut die Frauen rufen; sie schreien und trommeln.
Anne: Da sind schon meine Freundinnen! Hallo Jeanne!
Jeanne: Hallo Marieanne, schön dass du da bist!

 

Zur zeitlichen Einordnung: diese Geschichte spielt zu der Zeit, als es im Hamburger Schanzenviertel zur Walpurgisnacht noch Frauendemos gab - also vor etwa dreißig bis vierzig Jahren. Das Thema des Dialoges ist allerdings noch etwas älter.

 

Mein Gott – wie Du aussiehst! Willst du wirklich so gehen?
ist das nicht die Rolle der Frau Mutter, selbst bei den Ärzten?

Hallo Set,
schön, mal wieder was von Dir zu lesen und gleich vorweg auf'n Brocken oder doch bei Thale auf'm Hexentanzplatz - und ab un an schimmert der goeth'sche Faust durch

Ich bin der Teil von dir, vor dem du Angst hast; ich bin deine Angst.
nebst Schneewittchen - oder doch eher die Königin aus Schn.
Blutrot. Haut, so weiß wie Schnee, Haare, so schwarz wie Ebenholz, Lippen, so rot wie Blut…
usw.

Da prallt die sich mit dem Wahlrecht begnügende Mutterfigur mit einer Urenkelin der Suffragetten in Alicens (Schw.) Schwesternschaft. Den derzeitigen Stand der Emanzipation der Frau mein ich schon hier zu finden

Anne: Aber ich weiß, was ich will. Weißt du noch, was du willst? Aus `tun dürfen, was ein Mann tut´, ist doch längst `tun müssen, was ein Mann tut´geworden. Frau kann heute alles erreichen, um den Preis, dass sie aufhört, Frau zu sein … hilf mir mal, den Rock zu binden.
wobei jeder Fortschritt auch eine Gegenbewegung auslöst.

Kleine Anmerkungen (im Prinzip geht die Kleinkrämerseele ach in meiner Brust frustriert davon):

Hier ist was durcheinandergeraten, sehn mer ma' vonne Punkte ab

, und heut´ Nacht treffen wir uns wieder du machen einen großen Zauber…
die immer wieder eigenwillig sich positionieren
Anne: Ach du…artiges …!
Den ersten Auslassungspunkten würd ich auch die Distanz zum vorhergehenden Wort zugestehen, wie den nachfolgenden ... im doppelten Sinn
Du entziehst dich, lebst nur für dich…
Dunkel wie der unwiderstehliche Sog, der von meiner Vulva ausgeht…ich bin das Dunkel, ...

Was mich ein wenig stört sind die Regieanweisungen der Aaaaart
Marie: Neeeiiiiinnnnn!!!!!!!!!!!!
Hat der Text das Comic-Element nötig? Eher nicht, find ich.

So viel oder wenig nach'm ersten Durchlesen, was ja nicht der letzte Besuch gewesen sein muss.

Gruß

Friedel,
den der Hauch von Theater (Sprache, reine Dialogform) nicht stört, und wär er sich nicht sicher, dass die Form angesprochen wird, er hätte kein Wort darüber verloren.

 

Hallo Setnemides

Ah, nach Langem wieder ein Stück von dir, ging mir durch den Kopf, als ich es vorgestern Nacht sah. Heute nun nahm ich mir die Zeit, es zu lesen.

Ein Zitat aus der Walpurgisnacht vorangestellt, darauf abzielend, diesen drehbuchartigen Dialog im Verständnis der emanzipatorischen Frauenbewegung aufzufassen. Wäre dieser Bezug und deine nachträgliche Anmerkung nicht, wäre es mir vielseitig interpretierbar. Bei diesem Thema, unter dem Vorzeichen Historik, hätte ich mir die Anknüpfung an Personen wie Bettina von Arnim oder auch einer Rosa Luxemburg vorstellen können. Doch du wähltest eine freie Figurenzeichnung, natürlich zu Recht, wie es besonders im Schlusssatz dann bestechend zum Ausdruck kommt.

Der (innere) Dialog zwischen Marie und Anne deutet schnell auf die Gegensätzlichkeit hin, das Gespaltene zwischen den beiden Wesensarten, die sich hier über lange Strecke zusammenraufen. Von mir als Leser forderte es Konzentration, den Frauengesprächen zu folgen, Eitelkeiten registrierend, kaum echt Rebellisches aufkommend. Nein, stimmt nicht, da ist auch Frivoles, die Sexualität im Selbstbestimmungsrecht einbindend, wie es die frühe deutsche Frauenbewegung auf ihre Art schon kannte, doch immer aus eigenen Reihen wieder zurückgebunden wurde. Einzelne gab es immer, die sich nicht vorschreiben liessen, was ihr Denken und ihre Lebensgestaltung zu umfassen hat. Als Bewegung aber tut sie sich nach meiner Beobachtung noch heute schwer, die wirkliche Balance zu finden. Was sich auch im Einzelnen nicht selten widerspiegelt. Mit Marieanne kommt dies in dem Stück letztlich auch in sehr schöner Form zu Ausdruck.

Von dem her ist es ein gut gelungenes künstlerisches Bild, dessen Transparenz sich jedoch nur bei aufmerksamer Beobachtung zeigt. Als Schwäche werte ich, dass es des Vorspanns und des Nachwortes brauchte, den wirklichen Hintergrund aufzudecken. Insgesamt jedoch, die Idee dahinter, nahm ich als einen sehr schönen Einfall wahr.

Gern gelesen, auch wenn die Form mir anfänglich etwas hinderlich war, es als Kurzgeschichte und nicht als Theater-Skript wahrzunehmen und die Flüssigkeit mit Mutter Courage abzuwägen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo Friedel, hallo Anakreon,
dies Stück ist nicht spontan aus einem Guß entstanden, was auch zu Mängeln führt, jedenfalls bei mir. Es fing als ausufernde Idee über eine Auseinandersetzung zwischen Demeter und Baubo an und wurde dann eingedampft auf dieses gegenwärtige Stück. Die Idee, die Spaltung des Weiblichen in zwei weibliche Gottheiten (Kali => Demeter + Baubo) als Dissoziation durch traumatisierende männliche Gewalt zu deuten, kam zum Schluss.
Die Dialogform wählte ich zu Reduzierung, sicher kann man das auch übertreiben. Es ist mir schon einmal gelungen; wenn es hier nicht funktioniert, muss ich mal nachdenken, warum. Ist es damit formal keine Kg? Das Fehlen einer deskriptiven Vorstellung der Prot. z.B. ist ja ein Merkmal der Kg.- Ich beschäftige mich zur Zeit mehr mit Theater als mit Kgs.
Vielen Dank für die ausführlichen Kommentare, ich beantworte und berücksichtige das später ausführlicher.

Herzlichen Gruß

Set

 

Jeanne: Hallo Marieanne, schön dass du da bist!

Da bin ich dann nochmals,

lieber Set.

La Pucelle, Nationalheilige, unbefleckte Jeanne (d’Arc) und erste Emanze, die in die Männerwelt Frankreichs mit einem selbstgestellten, emanzipatorischen Auftrag einbricht, in ein fast bis zur Selbstaufgabe gespaltenes Frankreich: eben Marie/anne, gespalten in Mutter und Tochter, Marie und Anne, wobei selbst eine Mutter immer auch Tochter einer anderen Mutter ist und Anne immer auch das Spiegelbild ihrer Mutter, wo niemand voraussetzungslos ist und doch keiner nachsitzen muss in einer Welt von Vorgängern und Nachläufern.

Dazu Baubo, auf dt. Zunge mit dem gramm. Wechsel zum Schoß, eine kleinasiatisch-griechische Göttin weiblicher Fruchtbarkeit (Mutterschwein). Die griechische Variante berichtet, dass Demeter (auch eine Göttin der Fruchtbarkeit, aber auch des Ackerbaus) kommt, auf der Suche nach ihrer von Hades geraubten Tochter Persephone (die dadurch Herrscherin der Unterwelt wird), nach Eleusis, wo sie einkehrt bei Baubo und deren Gatten. Aus tiefer Trauer verweigert sie aber Speis und trank. Die Wirtin Baubo reißt sie aber aus der Trauer hinaus und bringt Demeter zum Lachen, indem sie sich entblößt ... Was ist daran komisch?

Pudendum femininum - weder ein Kinder- noch ein Wortspiel:

In Kleinasien wurden Terrakotten gefunden, die Baubo darstellen: ein Frauenleib ohne Kopf und Brust, das Gesicht findet sich auf dem Bauch, ein aufgehobener Rock umrahmt das Gesicht gleich einer Haarkrone.

Was der Olympier meint, wissen wir, was aber meint ein anderer Fritz?

» …,
Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?“, fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: „Aber ich finde das unanständig“ — ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist [sein] Name, griechisch zu reden, Baubo? … Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich — aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum — Künstler?«*

Daraus ergibt sich vielleicht der Wechsel von Anrede- zum vertrauten Du im ersten Satz

Marie: Mein Gott – wie Du aussiehst! Willst du wirklich so gehen?

Bis bald & schönen Vatertag wünscht der

Friedel

*Aus: Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 4, - Fritz wird mir verzeihen, dass ich ihn der neuen dt. Rechtschreibung angepasst hab.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Friedel,

die Literatur läßt ja Spekulation und Verfremdung zu; wir müssen hier nicht wissenschaftlich korrekt sein. Ich sehe auch, dass fast alle weiblichen Gottheiten irgendwie den Aspekt der Fruchtbarkeit beinhalten, weil ja alle Wesenszüge des Weiblichen dafür erforderlich sind (es mutet schon grotesk an, wenn Maria in vielen Bildnissen am Feldrand steht und für die Fruchtbarkeit der Äcker sorgt; so ganz ohne Sexualität. Weg kann letztere nicht sein, sie treibt ihr (Un)wesen im Verborgenen). Trotzdem folge ich hier der Vorstellung, dass aus dem umfassenden weiblichen Bild einer früheren Muttergottheit, die auch sexuell initiativ war, durch Aufspaltung eine "reine" Mutter und eine totale femme fatale geworden ist. In der griechischen Antike wurden beide zunächst gleichberechtigt verehrt. Auch im Hinduismus werden die Aspekte einzeln personifiziert, aber die Bilder sind weniger scharf abgegrenzt, so sind etwa Lakshmi und Kali beide fruchtbar, wobei Lakshmi den Aspekt der Liebe im Vordergrund hat, Kali den der Zerstörung, die für die Entstehung von Neuem nötig ist.
Für mich ist es - wie in der Geschichte beschrieben - eine Folge des Patriarchats, das Weibliche bipolar aufzuteilen und die Aspekte, die die Herrschaft bedrohen, zu dämonisieren. In diesem Sinne sehe ich eine (vielleicht nicht belegbare, aber siehe hierzu: Baubo. Die mythische Vulva von Georges Devereux ) Verwandschaft zwischen Baubo und der irischen Sheela-Na-Gig, die noch heute an den Fassaden irischer Kirchen zu sehen ist - sie spreizt nicht nur die Beine, sondern reißt mit beiden Händen ihre Vulva weit auf.
Liebe verbindet, Zerstörung trennt. Traumatisierung führt zur Dissoziation, Integration zur Heilung - siehe den Schluß der Geschichte. Vielleicht läßt sich auch so eine Komplementarität von Lakshmi und Kali begreifen.
Im Patriarchat ist die Mutter oben, die Sexualität wird unterdrückt. In der Walpurgisnacht wird die Welt auf den Kopf gestellt, Baubo ist oben auf der Mutter. Verkehrte Welt, das kann nur Auflösung bedeuten. Ein Albtraum des Mannes, wenn die Frau (und Mutter der Familie) von Baubo geritten wird (ihren Rahmen verläßt und fremdgeht).
Es gibt einige Diskurse darüber, ob Baubo, wenn sie den Rock hebt und die Hand auf der Vulva hat, masturbiert. Eigentlich bleibt ihr ja nichts anderes übrig, da die schwächelnden Patriarchen bei so viel Stärke versagen. Auch hier wird die Frage der bedrohlichen weiblichen Autarkie angesprochen. Aber die Frage ist nicht entschieden, eine Antwort nicht belegbar. Nur Goethe beantwortet dies, wie ein findiger Ethnologe* fand, mal so eben nebenbei: Baubo kommt allein.

Bisher halte ich es noch für eine richtige Entscheidung, dies alles in einer gegenwärtigen Geschichte zu behandeln und nicht in einer, die in der Antike spielt.

Danke für die Antwort,

Gruß Set

PS: Es hat schon eine gewisse Ironie, mir zu dieser Geschichte einen schönen Vatertag zu wünschen. Aber die lärmenden großen Kinder mit Bier im Bollerwagen passen ja auch dazu - zumal sie sich mit dem Gebräu betrinken, mit dem einst Baubo Demeter tröstete.

* Michael Franz: Der Mythos von Baubo. Aufsatz in Hans Peter Duerr: Die wilde Seele. Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux. Suhrkamp 1987.

 

Bisher halte ich es noch für eine richtige Entscheidung, dies alles in einer gegenwärtigen Geschichte zu behandeln und nicht in einer, die in der Antike spielt,

was ja auch richtig ist und konsequent ausgeführt wird,

lieber Set,

in Zeiten, da die Grünen übers Steuerrecht jene zur Arbeit zwingen wollen, die sich mit dem Haushalt der Familie begnügen, aber auch nicht mal eben eine „haushaltsnahe Beschäftigung“ finanzieren könnten.
„Das bisschen Haushalt, sagt mein Mann …“, beginnt Johanna von Koczian zu der Zeit, da Deine Geschichte handelt, in guter Tradition ein Chanson und in der Wochenendausgabe der WAZ findest sich heute ein Essay zum anstehenden Muttertag über Mutter-Tochter-Beziehungen, wobei den Furtwänglern – wahrlich keine Familie in prekären Verhältnissen – der Rekord über vier Generationen hinweg zum Jahrtausendwechsel zusteht, nicht zu vergessen, dass unterm Diktat des Marktes mit Reagan, Thatcher und dann Kohl die Emanzipationsschraube im Arbeits- wie Sozialrecht zurückgedreht wird, wie auch in der Bildung, wenn die allein auf den Markt ausgerichtet wird und zugleich Monopole im Internet vom Amazonas bis hin zum Zuckerberg Ähnlichkeiten zu den Zeugen Jehovas bzw. (besser vllt.:) Scientology® sich auftun.

Intention und Entscheidung sind allemal in Ordnung und der Text kann gar nicht schlecht sein, gelingt doch schon durch die Anspielungen auf alte Dokumente/Namen der Hinweis, dass Deine Geschichte fest in europäischer Tradition wurzelt. Uralte, ungelöste Probleme maskieren sich mit jeder Generation neu. Man muss auch nicht denn ollen Onondaga Hiawatha ausgraben, um zu wissen, dass das Matriarchat (das es ja selbst bei den Irokesen so nicht gegeben hat, wie der Begriff es suggeriert) durchaus kein emanzipatorischer Akt ist.

Zur Abwechselung sei mal ein schöner Muttertag gewünscht vom

Friedel

 

Hallo Setnemides,

nachdem hier nun zu Vatertag und Muttertag gewünscht wurde, tauch ich mit dem Heiligen Geist auf, der sich heute über die Menschheit ergießt. Damals waren es die Apostel (zwölfe) und Jünger (dreitausend?), Apostelinnen und Jüngerinnen waren nicht zu sehen. Marie/a soll dabei gewesen sein.
Wie schön, dass an diesem Tag weder eine Walpurgissau herumrast noch Bacchantinnen noch Annen, es war überhaupt eine saubere Veranstaltung, denn der Heilige Geist machte sich als Kommunikationsberater zu schaffen, verstanden nun alle Völker die Predigten der Apostel in ihrer Muttersprache, als wäre der Turm von Babel nie gebaut worden (Apg 2). Was für eine Männerwelt! Aber war da auch die Frauensprache dabei?
Deine Namensgebung Marie/anne hat Friedel schön erklärt. Setzt man ein a ans Ende, kommt man zu einem anderen Frauenpaar, das für unbefleckte Empfängnis (Anna) und Jungfrauengeburt steht. GroßmutterMutterJesus. Annaselbtritt. Wie ist unter diesem Aspekt Deine Namensgebung zu verstehen? Die Heilige als Doppelpack gegen Anne?
Aber genug der Feiertage, auch wenn die Geschichte ja an einem Feiertag (Vereinigung) spielt. Sehr fein hast Du die Argumentationen aufeinander abgestimmt, nicht üblich plakativ, sondern differenziert und ausgeglichen ist es Dir gelungen, das Dilemma, die Spaltung glaubwürdig zu machen. Das Männerwort zweiseelenachinmeienerbrust hast Du sehr gut veranschaulicht. Ich las mit großer Spannung die Ausführungen der beiden Damen.
Nur den Schlusssatz

Schön [,] dass du da bist.
fand ich unpassend.
Ist mir zu phrasenhaft. Sagte man diesen Satz schon zur Zeit des Schanzenviertels? Oder soll dieser Satz die Rückkehr in die Trivialität des Alltags zeigen?
Die Rückbindungen in Antike und Mythologien sind sehr gelungen und hilfreich, denn in ihnen zeigt sich „fremd“ das Problem oft klarer.
Die Szene mit der Hochzeits“kette“ erfreulich ironisch.
Wer schreibt jetzt einen Dialog von Hansjörg?
Frohe Pfingsten wünscht
Wilhelm

 

„Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das
natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation“,​
meinte vor mehr als 200 Jahren Charles Fourier,

lieber Set,

doch wie die satte 50 Jahre jüngere Analyse der Lohnarbeit als auf sachlicher Vermittlung beruhendem Herrschaftsverhältnis gezeigt hat, ist die Welt noch lange nicht i. S. eines Max Webers „entzaubert“. Unabhängigkeit ist ein Mythos, spätestens, wenn (verfassungsgemäß scheinbar) gleichgestellte Individuen unterm Regiment der freien Wahl des Arbeitsplatzes um Stelle und Lohn feilschen, der/die Eine nachfragend und der/die Andere anbietend.
An die Stelle des Geburtsadels und dessen Privilegien sind Wirtschaftseliten getreten aus Geld- (besser: Vermögens-) und Dienstadel, Brot und Spiele im scheinbar unbegrenzten Konsumrausch halten die große Masse bei Stimmung, wie es der Marketingexperte Victor Lebov bereits 1950 formulierte: „Unsre ungeheuer produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserm Lebensstil und den Kauf und die Nutzung von Gütern zu einem Ritual machen, dass wir unsere spirituelle Befriedigung und die Erfüllung unseres Selbst im Konsum suchen.“ Bevor der Wirtschaftsmotor stottert, mauert sich der neue Adel ein, wie es etwa T. C. Boyle bereits 1995 in „America“ beschreibt. Eine denkwürdige Variation zum Abend im Zelt,

findet der

Friedel inzwischen

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedel,
spannend, was Du inzwischen gefunden hast, und Dank für den Literaturtipp - mal Boyle lesen. Privilegien sind nicht nur für die Privilegierten da, sondern auch für die, die darüber stehen - die allergleichsten unter denen, die gleicher sind als die gleichen. Die soziale Spannung ist der Motor der gesellschaftlichen Anstrengungen, sie fördert die Akkumulation von allem, worum es geht, von Geld, Macht, Energie, nach oben, von den vielen zu den wenigen. Über den Zusammenhang von sozialem Gradienten und Produktivität der Volkswirtschaft gab es hier in meinem Heimatort, wo das Institut für Weltwirtschaft sitzt, mal eine Konferenz - schon das Thema klingt zynisch; deutlicher kann man es nicht machen, wozu und wem das alles dient, der Porsche Cayenne als Traumziel und der Job bei ALDI als Abschreckung. Deshalb auch irrt Lebov: der Konsum ist nicht das Ziel als Selbstzweck, er dient dem Ziel der Konzentration der Macht, oder der Akkumulation des Kapitals, wie es Marx nannte. Deshalb wird der Konsum auch wohldosiert: seit 1980 haben wir in Deutschland keine Steigerung des Reallohnes mehr, während die Produktivität munter weiter steigt, seit 1970 gilt dasselbe für die USA.

Sehr erfreut und verwundert hat mich das Zitat von Fourier, der sich hier in einer ungewöhnlichen Allianz findet, denn Abdullah Öcalan schreibt fast dasselbe: die Unterdrückung der Frau ist Basis und Ausgangspunkt der Unterdrückung des Menschen. Sie reicht ihre Unterdrückung an ihre Kinder weiter, auch an die Söhne: für die Bereitschaft, sich unterdrücken zu lassen, werden sie mit Karrieren entlohnt; herrschen dürfen sie zu Hause (sinngemäß nach "Jenseits von Staat, Macht und Gewalt").

Unterdrückung erzeugt soziale Spannungen, werden diese zu groß, müssen Grenzen her, um den Zusammenfall des Systems zu verhindern. So mauern sich mal die Eliten ein, um Schutz vor den Rechtlosen zu haben, mal mauern sie die Rechtlosen ein. Letzteres schränkt die Produktivität ein und passt in technisch hochentwickelten Gesellschaften nur zu Ausnahmesituationen. Es ist alles eine Frage der wirtschaftlichen Optimierung, aber diese Diskussion gehört zu einer anderen Geschichte.

Nun könnte man daran denken, dass ja einige Kulturen gleich die Hälfte der Bevölkerung zu Hause einsperren, die weibliche nämlich, auch das ein Ergebnis von nicht beherrschbaren Spannungen, allerdings anderen, bei denen aber auch die Macht eine Rolle spielt.

Gruß Set

 

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