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Ein anderer Text auf dieser Seite hat mich dazu gebracht, selbst einen Account zu erstellen und ein wenig im Schreibfluss zu schwimmen
Vor einer dunklen Nacht ging er aus seiner stillen Hütte
Die Sonne hatte sich zurückgezogen, und mit ihr die flimmernde Schwere des Tages. Erste Tropfen fielen, kaum sichtbar auf der Fensterscheibe. Er stand am Glas, die Hände locker auf der Lehne seines alten Stuhls, und schaute. Bald folgten weitere Tropfen, zunächst vereinzelt, tastend, ehe dann der Regen wie ein graues Tuch über die Felder fiel. Vom offenen Fenster aus war der Geruch feuchter Erde, aufgeweichter Blätter und immer nasser werdender Hölzer zu vernehmen. In der Ferne, draußen, reckte eine Birke ihre schlanken Äste in den Regen. Das Laub war noch grün, doch an den Rändern zeichnete sich bereits ein Hauch von Gelb ab.
Das Zimmer hinter ihm lag still. Nur das Klopfen des Regens auf das Schieferdach unterbrach die Stille – ein gleichmäßiger Rhythmus, der das Drinnen und Draußen miteinander verband. Der Boden unter seinen Füßen raunte leise, als er sich umdrehte, um den Raum zu mustern. Ein Stapel Bücher lag auf dem Schreibtisch, ungeordnet, das oberste mit einem lose eingesteckten Lesezeichen. Daneben ein Notizheft, aufgeschlagen, die letzte Zeile abgebrochen. Seit Wochen hatte er über diesen Zeilen gehangen, neben ihnen geschlafen und war mit ihnen einen Bund eingegangen – einen Bund, den er jetzt hinterfragte. Schon bei der Festlegung des Themas musste der Professor die Angst in seinen Augen gesehen haben. „Keine Sorge. Sie haben doch bis zum Winter“, war seine Antwort gewesen. Heute Nachmittag würde er keinen nutzbaren Gedanken mehr zustande bringen – frühestens wieder in der Nacht.
Er nahm die Jacke vom Haken, zog sie über die Schultern und trat hinaus. Der Regen prallte auf das Leder, perlte ab und hinterließ matte Schlieren. Seine Schritte führten ihn über den Kiesweg, vorbei an den Büschen, deren Zweige schwer unter der Feuchtigkeit hingen, dann zum Gartentor. Hier blieb er stehen. Das Land vor ihm erstreckte sich in die graue Unendlichkeit des Regens. Die Felder, die Hecken, die schlanken Baumreihen – alles schien in Bewegung und dennoch seltsam still. Er schloss das Tor hinter sich, hörte das metallene Klicken des Riegels. Seine Schritte hinterließen kaum sichtbare Abdrücke auf dem aufgeweichten Boden, die sich im nächsten Moment mit Wasser füllten und verschwanden. Der Weg führte ihn an einem Strauch vorbei, der voller schwarzer Beeren hing. Tropfen sammelten sich an den Zweigen, glänzten wie Glas, ehe sie fielen. Er blieb stehen, streckte die Hand aus und pflückte eine Beere, die dunkel und prall in seiner Hand lag. Als er sie zerbiss, war der Geschmack überraschend herb, beinahe bitter, doch er ließ sie auf der Zunge zergehen und kaute weiter, bis sie all ihren Geschmack verloren hatte. Und auch dann kaute er noch weiter – kaute, bis er die geschmacklose Beere ausspuckte.
Er war vom kleinen Feldweg zu einem Fluss gekommen, den der Regen hatte anschwellen lassen. Das Wasser war nicht mehr leise und gleichmäßig wie an den heißen Tagen zuvor, sondern drängte, strömte mit einer Kraft, die ihn für einen Moment innehalten ließ. Das Ufer war übersät mit Zweigen, Blättern und kleinen Holzstücken, die die Strömung mit sich getragen hatte. Er folgte dem Feldweg in ein dicht bewachsenes Waldstück. Die Bäume standen eng beieinander, ihre Stämme dunkel und glänzend vom Regen, die Blätter dicht und schwer, sodass der Wind nur in flüchtigen Stößen hindurchdrang. Ein toter Baum lag niedergestreckt auf der Erde; die Wurzeln waren noch trocken. Er setzte sich auf diesen Baum, ließ die Jacke auf den Schultern liegen und vernahm, wie ihm der Regen ins Gesicht fiel – kühl und belebend. Er ließ den Kopf zurücksinken, die Augen halb geschlossen, und lauschte. Der Regen klang anders hier: weicher, gedämpfter, als hätten die Tropfen auf ihrem Weg durch die Blätter etwas von ihrer Schwere verloren. Er zog die Hände aus den Taschen und ließ die Finger über die feuchte Rinde gleiten und das kühle, samtige Moos ertasten. Noch niemals zuvor hatte jemand auf diesem Baum gesessen.
Eine Bewegung am Waldrand ließ ihn aufblicken. Ein Reh, vorsichtig, kaum mehr als ein Schatten, trat zwischen den Bäumen hervor. Seine Augen suchten, die Ohren zitterten bei jedem Geräusch. Für einen Moment schien es, als habe das Tier ihn bemerkt, doch dann senkte es den Kopf und begann, an den Grashalmen zu zupfen, die im Regen schlaff über den Boden hingen. Er hielt den Atem an, wagte keine Bewegung. Das Reh blieb noch eine Weile und zog sich dann mit einem leisen Rascheln zurück in den Wald. Die Stelle, an der es gestanden hatte, wirkte daraufhin seltsam leer und verlassen. Diese Stelle starrte er an, versuchte sich immer wieder das Reh in Erinnerung zu rufen, und gab sich selbst einen Ruck, wenn er kurz davor war, zu vergessen, wie die Augen geglitzert hatten.
Als es dunkler wurde, ließ der Regen nach, und es folgte ein leises Nieseln. Gleichzeitig, oder als Folge dessen, klarte der Himmel auf, und so fiel das Gewicht des Tages langsam von ihm ab. Zwischen den Baumkronen schimmerte Sternenschein nieder, als er aufstand, den Baum zurückließ und sich auf den Heimweg machte. Er warf einen letzten Blick zurück; auf einmal durchdrang ihn Zeitlosigkeit. Das leise Summen des Waldes war zurückgekehrt. Erst eine Grillenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Obwohl der Regen aufgehört hatte, fielen immer noch Tropfen von den Blättern. Von einem der Bäume fiel ein solcher Tropfen geradewegs hinunter, aber nicht auf den Boden, sondern genau auf die Schnauze eines Hundes. Dunkles Fell, nass bis auf die Haut, die schlanken Beine zitterten, und die großen, klugen Augen waren auf ihn gerichtet. Es war ein Straßenhund, kein Zweifel: Das Fell war verfilzt, die Flanken mager, und der Blick hatte etwas Unsicheres, Abwartendes, als wolle er zugleich Vertrauen fassen und fliehen. „Na“, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu dem Tier. Der Hund blieb reglos stehen, die Ohren zuckten leicht, doch er wich nicht zurück. Vorsichtig hockte er sich hin, hielt die Hände flach vor sich, ließ sie ruhen, als wolle er zeigen, dass er nichts verlangte. Minuten vergingen. Der Hund blieb, unsicher, das Gewicht auf den Hinterbeinen, bereit wegzuspringen. Er zögerte, senkte den Kopf, und dann – wider Erwarten – streckte er die feuchte Schnauze aus und stupste leicht gegen die ausgestreckte Hand.
Auf dem Rückweg folgte ihm das Tier, immer ein paar Schritte Abstand haltend. Manchmal so weit, dass er es aus den Augen verlor. Einmal bellte der Hund, als im Unterholz ein Ast knackte. Still standen beide da, warteten ab, lauschten in die Dunkelheit hinein. Dann ging er weiter und machte dabei die größten Bemühungen, nicht zufällig ein lautes Geräusch auszulösen. In dieser angespannten Stille wirkte das Pfeifen des Windes unbarmherzig. Als er das Haus erreichte, kam der Hund nach einiger Zeit ans Gartentor und blieb dort stehen. Er fühlte den Blick des Hundes, fast körperlich, sah das Nachdenken in seinem ganzen Wesen. Da der Hund aber nicht hereinkam, ließ er die Haustür offen stehen, zündete die warmen Lampen an und versuchte, die eindringende Kälte zu ignorieren. Er selbst trat nochmals vor die Tür, musterte die Hütte: „Wer würde freiwillig in diesen Schuppen eintreten?“ Der Gedanke hielt ihn fest, die Tropfen liefen ihm über die Stirn, und er konnte das Zittern seiner eigenen Hand spüren.
Irgendwann in der Nacht kam der Hund an die Eingangstür, streckte den müden Kopf hinein, schnupperte, kam schließlich herein und suchte sogleich in einer Ecke hinter einem Regal Schutz vor dem Wind. Es dauerte, bis er zur Ruhe kam, bis der Atem gleichmäßig und tiefer wurde. Doch er blieb wach, schloss die Tür erst, als der Hund schlief, zog jetzt erst seine Jacke aus und blickte aus dem Fenster. Der Mond schob sich langsam durch die Wolken, und mit ihm kam die ruhige Leichtigkeit der Nacht.
Er setzte sich an den Schreibtisch – und es gelang ihm zu schreiben.