- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Wärme
Es ist kalt im Zimmer. Marie stellt den Heizungsregler auf fünf. Sie zieht ihren Mantel aus und hängt ihn an den Garderobenhaken aus rotem Kunststoff. Ihr Haar ist nass und duftet nach kaltem Rauch.
Aus dem Büro ging sie nach Feierabend schnell hinaus auf die regnerische Straße. Sie wollte unbedingt noch die U-Bahn um 10 vor 6 erreichen. Den Schirm hatte sie vergessen. Beim Italiener kaufte sie noch ein ciabatta für ihre Gemüsesuppe, sehr gesund.
Marie lebt in einer 2-Zimmer Wohnung. Die Einrichtung ist modern. Im Wohnzimmer steht ein schwarzes Ledersofa mit schmutzabweisendem Bezug und ein Couchtisch mit Stahlrohrgestell und Glasplatte. Marie ist ordentlich. Alles ist an seinem Platz. Das gibt ihr ein sicheres Gefühl. Früher, als sie noch zu Hause wohnte, durfte sie nie aufräumen. Hat alles die Mutter gemacht. Wenn sie aufräumte, schimpfte die Mutter, daß es nicht ordentlich sei. Dann hatte sie es lieber bleiben lassen. Wahrscheinlich hat sie die Ordungsliebe von ihr übernommen.
Marie öffnet das Fenster. Sie fühlt sich nicht mehr so eingeschlossen. Luft kommt herein. Das Haus ist ruhig. Nur der Regen draußen macht ein monotones Geräusch. Marie ist nett. Manchmal fühlt sie sich häßlich. Sie empfindet sich etwas zu dick um die Hüften. Die Kleidung kauft sie sich immer eine Nummer zu klein. Sie möchte ja wieder abnehmen. So stauen sich die Kleider bei ihr im Schrank. Sie kann aber alle bestimmt einmal brauchen. Maries Brüste sind hübsch und fest, ohne Silikonverstärkung. Und es gibt einige Männer, die sich für sie interessierten. Sie spricht gerne mit Männern. Sie lacht und kichert. Marie gilt als offen und unkompliziert. Letzten Winter hatte sie eine Affäre mit einem großen gutaussehenden Mann, fünf jahre älter als sie. Der Sex war heftig und intensiv. Sie hat es genossen. Er blieb immer ungefähr drei Stunden. Dann musste er nach Hause zu seiner Ehefrau und seinen Kindern. Er hat ihr sogar Bilder von ihnen gezeigt. Nach einer Woche tat es nur noch weh. Es war ihr zu heftig und intensiv.
Marie macht sich die Gemüsesuppe warm. Sie rührt im Topf, so daß alles schön gleichmäßig erhitzt ist. Sie nimmt einen Schöpflöffel, den Topf und setzt sich an den sauberen Esstisch. Zwei Schöpfer passen in den Teller. Darauf kommen noch frisch geriebener Parmesan und Olivenöl. Schmeckt sehr lecker und wärmt gut. Marie spürt die wohlige Wärme ihren Hals hinunter in den Bauch kriechen. Ihr wird warm.
Maries Gedanken verschwimmen. Sie möchte mehr Wärme spüren, die Wärme eines Partners. Sie möchte in den Arm genommen werden. Sie möchte die Wärme des Körpers spüren. Sie hatte Männer, ja, alle nahmen sie in den Arm, und ließen sie wieder los. Als sie in den Arm genommen werden wollte, ließen sie los.
Marie wird kalt. Brust und Bauch werden enger und ziehen sich zusammen. Das Gefühl kennt sie. Hat sie schon oft gehabt und wenn sie etwas dagegen tun wollte wurde es nur noch schlimmer. Besonders schlimm ist es immer beim Nachhausekommen in die Wohnung. Sollte eine Frau heutzutage nicht glücklich sein, wenn sie unabhängig ist? Marie wird wütend. Was war das für eine Anspielung im Büro des neuen Mitarbeiters? Ob sie sich schlecht fühlt? Sieht sie denn so schlecht aus?
Marie stellt den Computer an. Es ist ein vertrautes Geräusch. Der Lüfter summt. Automatisch ruft sie den Internetbrowser auf. Das hat sie schon oft gemacht, jahrelang. Es erscheint eine Internettsuchseite. Sie klickt auf "lesezeichen" und ruft den Chatkanal auf. Mit der linken Maustaste klickt sie auf "einloggen". Sie ist gespannt, ob er ihr wieder einen Gruß hinterlassen hat. Der Bauch zieht sich wieder zusammen. Es ist keine Nachricht vorhanden. Hatte sie sich nicht so gut mit ihm unterhalten? Er hat so einen netten Eindruck gemacht, selbstbewusst und wortgewandt. Sie spürte ein warmes Gefühl im Bauch beim chaten. Sie hatten sich gestritten und wieder versöhnt. So hatte sie es sich vorgestellt. Warum hat sie keine Nachricht? Bestimmt hat er eine interessantere Frau gefunden. Man muss ja nur auf die Namen klicken, wenn man Abwechslung braucht. Nicht mal in die Augen schauen muss man jemandem, wenn man ihn abservieren will. Es ist praktisch und leicht. Sie hat schon oft jemanden weggeklickt.
Sie sehnt sich nach Wärme. Der Computerlüfter summt.
Tom kommt nach Hause. Im Büro gab es Stress. Der Chef wollte mit ihm über die Zielvorgabe für das Jahr reden. Der Bonus sei in Gefahr. Der Kollege hätte 30.000 Euro mehr Gewinn gemacht. Hatte der Kollege vor der heutigen Besprechung nicht zu Mittag gegessen mit dem Chef? So ein Schwein. Es ist regnerisch draußen. Tom öffnet das Fenster. Er wirft seine Jacke über den Stuhl. Wieder hatte er mit der neuen Projektleiterin von der Nachbarabteilung ein Gespräch angefangen. Es kam nicht so richtig in Gang. Er fragte, sie antwortete. Eine Gegenfrage kam nie. Er hatte das Gefühl, daß sie froh war, als er wieder ging.
Tom öffnet den Kühlschrank und holt sich Butter und Wurst aus dem Fach. Er schmiert im stehen Butter auf das Brot und legt zwei Scheiben Wurst darauf. Dazu trinkt er ein Bier, ein kühles Landbier von einer kleinen Brauerei.
Mit Brot und Bier setzt sich Tom an den Schreibtisch im Wohnzimmer. Er ist alleine. Es ist kalt. Tom stellt die Heizung an. Eine Frau zum reden wäre schön. Er möchte sie in den Arm nehmen, ihr Haar riechen und und sie am Nacken streicheln. Ihren Kopf könnte sie auf seine Brust legen und er würde ihre Wärme spüren. Er würde ihren Geruch einsaugen bis ihm ganz schwindelig wäre.
Tom drückt auf den Einschaltknopf des Computers. Das Summen des Lüfters ist ihm vertraut. Auch im Büro sitzt er vor dem Computer. Viele seiner Freunde sind verheiratet oder gebunden. Manchmal trifft er sich mit ihnen zum Männerabend. Es geht um Fußball, Beruf und Sex. Tom langweilt sich meist. Oft geht er früh nach Hause.
Der Chatkanal wird automatisch aufgerufen. Er ist abgespeichert in der autostart-datei. Tom clickt auf "einloggen". Er ist verbunden. Sein Herz pocht. Er hat sich schon oft unterhalten. Es waren nette Mädchen dabei. Aber irgendwie kamen sie nicht zur Sache.
Er schaut die Namensliste durch und klickt auf "engel". Im Profil von "engel" steht single, romantisch, möchte in den Arm genommen werden und andere Dinge. Er tippt ein: „hallo engel“.
Marie sitzt vor dem Computer und wartet. Ihr ist immer noch kalt. Im Chatfenster erscheint "netter_kerl". Sie schaut sich das Profil an. Scheint kein Perverser zu sein. Sie antwortet "hallo. wie gehts?"
Tom und Marie unterhalten sich. Er fragt. Sie antwortet. Manchmal stellt auch sie Fragen. Das gefällt ihm. Marie genießt seine netten Worte. Er ist schlagfertig und selbstbewusst. Bestimmt hatte er schon viele Frauen um den Finger gewickelt. Warum chatet er denn hier überhaupt? Vielleicht wird’s ja was mit ihm. Vielleicht ist er einer, der nicht nur auf eine kurze Affäre mit ihr aus ist. Sie möchte jemanden zum reden, zum quatschen und lachen. Sie möchte die Wärme seines Körpers spüren. Sie möchte jemanden nur für sich. Tom spürt die gute Stimmung. Er ist aufgeregt. Wenn sie so nett und offen ist, ist sie bestimmt auch gut im Bett. Er fragt sie über ihren Körper aus. Ihm wird heiß. Marie wird kalt. Sie wollte doch einmal nur lachen, quatschen, über Gott und die Welt reden.
Marie antwortet mechanisch. Sie hat schon oft so geantwortet. Die Männer wollen immer das Gleiche wissen. Zuerst smalltalk, dann der Körper. Toms Stimmung steigt. Marie hatte auch manchmal das Bedürfnis nach erotischen Gesprächen. Jetzt will sie nur Wärme spüren. Die schmutzigen Worte wechseln den Besitzer. Sie ist routiniert dabei. Hat es ja schon oft gemacht und ist ja immer wieder gleich. Marie ist kalt. Toms Stimmung steigt. Er faßt seinen Penis an und fängt an zu onanieren. Währenddessen geht Marie ins Badezimmer. Sie ist aufgeregt. Ihr Herz pocht. Die Hände zittern.
Die Rasierklinge gleitet leicht ins Handgelenk. Der Schnitt tut gar nicht weh. Ein warmer Schwall Blut tritt heraus. Das Blut fließt auf ihre Hose. Marie wird warm. Ihre Gedanken verschwimmen. Ein wohliges wellenartiges Gefühl durchfließt ihren Körper. Sie wird müde. Sie ist erleichtert.
Tom erleichtert sich auf die Hose. Auch ihm ist warm.