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Wüstes Land
Jane betrachtet sich in den Spiegelungen der Glasfassade, posiert einen Moment lang: figurbetontes Kleid, rote Schuhe, Handtasche mit mit Gucci-Schriftzug, rote Schuhe und Kleid, perfekt. Dass sie Beine hat, bemerkt sie an den Blicken der Kerle. Dann folgt sie Evan. Sie wünscht sich den Las Vegas Boulevard anders, sehnt sich nach dem Puls der Stadt, Glitzer und Glamour, Menschen, die in die Spielhallen eilen, zu den Shows, in die Burgerbuden und Steakhäuser, nach all dem, das jetzt hinter verrammelten Türen auf eine Wiederauferstehung wartet. Die Lichter und Illuminationen blinken so müde, als wollten sie ein letztes Lebenszeichen senden. Ein paar Leute kommen ihnen entgegen. Sie haben die Hoodiekapuzen über den Kopf gezogen, Jogginghosen flattern beim Gehen. Wie lange hält der Lockdown schon an, zwei Wochen, drei? Evan trägt Einkaufstüten - Fertigfutterdosen, mehr ist nicht drin, wenn man in einem Apartment ohne Küche wohnt.
In Evans Ohrmuscheln stecken AirPods. Er wippt im Rhythmus der Musik. Sieht nach Hip-Hop aus. Janes Musikstudio hat seit zwei Wochen geschlossen. Sie sehnt sich danach, zu singen und zu tanzen, mit Profis an ihrer Karriere zu arbeiten. Sie will nicht als Stripperin auftreten, in die Nebelwelt abgleiten, in das, was ihr Vater ein Paralleluniversum genannt hat, die Lippen gespitzt, als wollte er auf den Boden spucken, während er auf seinem Professorenlehnstuhl, an seinem Professorenschreibtisch saß und sie mit leeren Augen anschaute. Die Sonne strahlte durch die Jalousien hindurch auf seine Glatze und sie sah ihm an, was er dachte. „Sängerin willst du also werden, nun, ein schöner Beruf für Leute, die keine anderen Möglichkeiten haben. Aber du? Du kannst studieren, als Anwältin eine Karriere machen, ins Silicon Valley gehen, einen wirklich kreativen Beruf ergreifen, die Welt steht dir offen.“ Sie gab nicht nach und genoss das Entsetzen, das ihn ergriff und Schweißtropfen auf dem Schädel absonderte. Ihr Vater hatte sich das Leben seiner Tochter anders vorgestellt. So viel stand fest. Trotzdem hatte sie das College geschmissen und war nach Vegas gezogen, um nach den Sternen zu greifen. Ihre Mutter wäre stolz auf sie und ihren Mut gewesen, da war sie sich sicher. Was sie wohl dachte, wenn sie ihre Tochter aus dem Paralleluniversum betrachtete? Ein Schutzengel will ich dir sein, ein Schutzengel, hatte sie zu Jane gesagt und war gestorben.
Evan bleibt an der Ampel stehen. Sie schließt zu ihm auf.
„Das Geld geht uns aus“, sagt er.
„Was kann ich denn dafür, mm?“
„Fick dich, du Schlampe.“
„Fick du dich, Arschloch.“ Sie rückt zu ihm auf, schwingt die Handtasche und trifft ihn am Rücken, sodass er für einen Moment schwankt. Er holt aus und verpasst ihr eine Ohrfeige.
„Ist doch alles scheiße hier.“
„Was schlägst du vor?“
„Raus aus Vegas!“
„Und wohin?“
„L.A.: ist doch egal wohin.“
„Wir haben noch 500$ und ein viertel Pfund Weed.“
„Reicht ein, zwei Wochen, länger nicht.“
Sie dreht sich weg, beschleunigt, geht jetzt ein paar Schritte vor ihm. Sie kommen am Bellagio vorbei. Dort hat sie ihn kennengelernt. Wie lange ist das her? Drei Monate? Länger? Gwyneth wollte die Wasserspiele sehen, über die Fontänen und Illuminationen staunen, als wären sie Touristen. Evan stand neben ihr, redete einfach drauflos, witzig, locker, californiaboymäßig, als würden sie sich längst kennen. Sie trug das rote Kleid mit dem Ausschnitt, das sie von ihrer ersten Gage gekauft hatte. Es erlaubte keinen Büstenhalter. Irgendwann war Gwyn verschwunden und Evan küsste sie. Sie spürte seinen Six-Pack, berührte die glänzendschwarzen Haare, berührte mehr. So fing es an.
Sie stellt sich vor, zu lieben, richtig zu lieben, ein Star zu werden, ein richtiger Star. Und weiß doch nicht, wie. Mit Evan vergeht die Zeit. Mehr nicht.
Die Sonne brennt auf den Asphalt. Staub wirbelt auf. Die Türme der Hotels trotzen dem Himmel und wirken selbst jetzt wie Märchenschlösser. Der Trump-Tower scheint von innen heraus zu leuchten und glänzt wie Gold.
Im Apartment angekommen, werfen sie alles, was sie bei sich tragen, auf den Linoleumboden. Evan beobachtet ein paar Kakerlaken, die in den Ritzen der Lüftungsschächte verschwinden. Eine Spinne setzt sich auf eines der Regale der Wohnwand, dorthin, wo ein paar Flaschen, High-Heels, Modezeitschriften, Patronenschachteln, die Mangabücher und Kladden mit seinen Zeichnungen stehen.
Evan hat keine Lust sich zu unterhalten, deshalb zieht er Jane an sich. Sie riecht so verdammt scharf nach dem Schlampenparfüm, das sie bei Wayfair geklaut hat. Er wirft die Sneaker in die Ecke, will die Jeans aufknöpfen, kann sich aber gerade noch zusammenreißen. Jane hat Brüste wie aus dem Modelllabor eines Schönheitschirurgen, so rund, so fest. Er streift die Träger ihres Kleides ab, wiegt sie, spielt mit ihnen. Sie seufzt, als er ihren Hals küsst, stöhnt und kommt zum ersten Mal, als er die Finger in ihre glitschige Pussy gleiten lässt. Danach lässt sie sich Zeit, entfernt Stück für Stück, was er auf der Haut trägt, lässt die Zunge darüber gleiten, bevor sie alles abstreift, sich hinlegt und die Beine zum Himmel streckt. Evan zögert nicht lange, stößt zu, fest, fester, bis sie ein weiteres Mal aufseufzt, zittert und zuckt. Er kann sich überhaupt nicht erinnern, dass es mit irgendeiner Frau besser war. Schnell und heftig, so muss es sein, das liebt er, das braucht er. Evan will’s jetzt wissen, dreht und wendet und fickt sie, bis sie sich auf ihn setzt, das Becken kreist, bis er es nicht mehr halten kann. Bevor es so weit ist, klatscht er auf ihren Hintern, lässt sich von ihren Lauten anfeuern, hört dem Stöhnen und Japsen zu, befindet sich in einer anderen Welt, in der er nichts gibt, außer der Gier und der seidenen Vebindung zwischen ihnen. Als er es nicht mehr halten kann, hört er auf zu schweigen, gibt einen Laut von sich, der tief aus seinem Bauch stammt, den er nur für solche Momente aufgehoben hat, der wie das Knurren und Röhren eines Fantasietiers klingt. Yeah! Evan bleibt eine Weile auf ihr liegen. Schweiß und Schweiß vermischen sich. Sie riechen nach einander. Als sie sich lösen, schmiegt sie sich an ihn. Er liegt auf dem Rücken und legt den Arm um sie. Sie trinken Bier, rauchen Weed, öffnen das Fenster. Von den Bergen weht ein heißer Wind herüber. Jane stellt sich ans Fenster und singt, übt das Vibrato und hält sich die Hand ans Zwerchfell, um die Töne zu spüren. Papageien mit buntem Gefieder sitzen auf dem Dach des Nachbarhauses und dösen in der Sonne.
„Ich weiß, was wir machen“, sagt er.
„Und?“
„Du kennst doch Carl.“
„Den fetten Deutschen?“
„Genau den. Carl hat einen Chevy und mag dich.“
„Na und?“
„Du spielst ein bisschen mit ihm, du weißt schon.“
„Aha.“
„Dann schnappst du dir den Autoschlüssel.“
„Ich geh nicht mit Carl aufs Zimmer.“
„Komm schon, du kriegst das hin. Carl spritzt doch schon, wenn du ihn nur anschaust.“
„Ich geh nicht mit ihm aufs Zimmer, habe ich doch gesagt.“
Evan will schon aufstehen, sich Respekt verschaffen, wie ein Mann auftreten. Sie schaut zur Decke, schaut ihn an. Ihr Blick wandert über ihn hinweg zum Fenster. Am Horizont, über den Bergen, wölben sich ein paar Wolken, als wollten sie die Gipfel umarmen.
„Lass mich mal machen. Ich regle das. Ich geh ins Cesars, wo er immer trinkt.“
„Dann los!“
Jane ekelt sich bei dem Gedanken an Carl und auf was sie sich eingelassen hat. Sie nimmt extra viel Parfüm und wäscht sich sorgfältig, rubbelt, bis Bier, Weed und Evans Eigenparfüm nicht mehr in ihre Nase steigen. Für einen Moment stellt sie sich vor, wie Evan in zehn Jahren aussehen wird, wenn die Figur in sich zusammengefallen und das Hirn aufgeweicht ist.
Um 23 Uhr liegt Carl im Bett, schnarcht und Jane schleicht sich samt Autoschlüssel aus dem Zimmer. War ganz einfach. Der Kerl ist eingeschlafen, als sie sich neben ihn gesetzt hat und sagte, sie brauche etwas Zeit, bis sie in Stimmung komme, wolle noch die nächste Folge ihrer Lieblingsserie schauen. Jane hat ihm übers Knie gestreichelt, ein paar Küsse auf den Hals gehaucht. Er hat ein paar Whiskey-Cola getrunken und überhaupt nicht bemerkt, dass sie ein kleines Pillchen aufgelöst und in das Cola geschüttet hat. Den Schlüssel hat sie gleich gefunden. Wenn sie mehr Mut hätte, würde sie alleine losfahren. Sie überlegt hin und her. Aber Evan sitzt in der Lobby und sagt, er wisse, wo das Auto abgestellt ist. Daran hatte sie nicht gedacht. Irgendwie würde sie ihn loswerden. Oder auch nicht. Schicksal, Karma, was auch immer. Sie zieht die Tür zu, ganz leise. Es klickt kaum. Dann streicht sie das Kleid zurecht. Wenn sie wieder zu Hause ist, wird sie auf Eyecatcher verzichten, am besten gar keine Kleider und Röcke mehr tragen. Zumindest keine, die sie einschnüren und die Kerle zum Sabbern bringen. Im Flur riecht es nach Alkohol und Weed. Im Fahrstuhl auch.
Evan sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf einer Ledercouch in der Lobby. Gegenüber haben sich drei Mädchen platziert, die ihre Körper in Gummi gesteckt haben. Die Pailletten reflektieren das Licht. Evan stemmt sich hoch. Die Schlauchkleidbitches schauen ihm hinterher, entdecken den Grund für seinen Aufbruch und wenden sich ab, um zu kichern. Evan macht Eindruck, aber wenn die wüssten, wie es um ihn bestellt ist, dass er die Tränen einfach ignoriert hat, die ihr die Wangen herunterliefen, als sie über den Strip zum Cesars Palace liefen, wo Carl logierte.
Sie sieht ein wenig zerknautscht aus, aber das Make-up ist makellos geblieben. L.A. ist gerade einmal 400 Meilen entfernt. Wenn sie die Nacht durchfahren, sehen sie das Meer und Hollywood. Vielleicht behält er Jane, vielleicht tauscht er sie aus. Sie langweilt ihn, ihr Gejammer nervt, aber sie funktioniert, wenn’s drauf ankommt. In L.A. gibt’s genug von allem. Frauen, Amazonen und Puppen jeglichen Alters. Jungs, Kerle und Männer, die in Hollywood was zu sagen haben, Typen wie ihn mögen. Warum soll er’s nicht mit Männern probieren? Vegas bringt nichts mehr. Die Stadt versandet, wird zur Wüste, wie das Land, das sie umgibt. Wo gibt’s Zukunft für einen wie ihn, der noch was reißen will in diesem verfickten Leben? Nach Wyoming zurück und irgendwo einen Job als Holzfäller oder Cowboy suchen, an der frischen Luft arbeiten und drei Kinder großziehen, zusehen, wie die Schönheit verfällt, fett werden, zufrieden, Baseball Spiele anschauen und warten, bis die Hängetitten seiner Frau ihn so langweilen, dass er zu den Huren gehen muss, weil er sich nicht traut, die Ehefrauen der Nachbarn anzubaggern, nein, das ist keine Option. Dann besser zeichnen, malen, bis die Finger wund sind, von Tür zu Tür laufen und seine amerikanischen Mangas zeigen, bis sie jemand haben will.
Der Lack des Wagens glänzt schwarz. Er steht auf dem Parkdeck des Hotels, erste Ebene. War ganz leicht zu finden. Der Chevy gibt ein Signal von sich, ganz so, als würde man auf eine Quietschente drücken, die einen mit strahlendfrechen Augen anschaut, während man mit dem Schaum spielt, der sich in der Badewanne auftürmt. Sie fahren zum Apartment.
Evan beobachtet Jane, hat längst gepackt. Er lebt schlank, braucht zehn Minuten, die Mangabücher, das Spieleboard, den Revolver zwischen Hosen und Shirts zu stecken, obenauf die Kladden mit den Zeichnungen. Jane faltet die Kleider, bevor sie die Stücke in den Koffer legt. Wenn der Deutsche früher aufwacht, finden die Cops ruckzuck heraus, wer den Wagen geklaut hat. Bis dahin müssen sie Nevada verlassen haben. Wie zärtlich sie mit ihrem Hab und Gut umgeht. Er nimmt Jane an der Hand. Es kann losgehen.
Evan öffnet Jane die Beifahrertür. So stellt sich gar nicht erst die Frage, wer fährt. Evan staunt darüber, wie schnell man aus der Stadt herauskommt, wenn man erst mal losfährt. Auf dem Highway ist wenig los, hier und da ein Truck, Autos, vierspurig, Schilder nach Salt Lake City und Los Angeles, zum Grand Canyon. Wenn er in den Rückspiegel schaut, sieht er die Lichter der Stadt, pochend, als zeigten sie Leben an. Irgendwann verblassen sie. Jane sitzt schweigend neben ihm. Ein paar Stunden noch, dann geht die Sonne auf. Sie lassen Nevada hinter sich. Evan überlegt, wo er die Sonnenbrille hat, flucht, als er sie in seiner Vintage Lederaktentasche nicht findet, die er in New York einem Banker geklaut hat. Geld war nicht drin, ein paar elende Papiere, eine Wasserflasche, ein Rasierwasserflakon mit widerlichem Blumenduft, ganz das richtige für Kerle ohne Bart und Arsch in der Hose. Aber die Tasche ist top, echtes Leder, Duft nach Wildnis. Er kramt eine Weile darin, findet die Sonnenbrille nicht, zieht stattdessen das Heftchen mit seinen ersten Figurenskizzen heraus, verfremdete Köpfe, überdimensionierte Augen und Ohren, mit Strichen angedeutete Gesichtszüge, Schattierungen. Er erinnert sich an seinen Vater, der alle Gesichtsmuskeln bewegte, wenn er die Werke Evans begutachtete, Grimassen zog, grinste - je nachdem - und ihm erzählte, dass er ein großer Künstler geworden wäre, ganz sicher, wäre er nicht im Nirgendwo Wyomings geblieben, das nichts als Berge Prärie und Leere biete, hätte er nicht geheiratet und sich an Whiskey und die Einförmigkeit der Lebens gewöhnt.
Evan braucht eine Pause, will sich die Beine vertreten, etwas Weed rauchen, ein paar Minuten die Augen schließen. Außerdem hat er Durst. Im Kofferraum ist ein Pack Wasserflaschen. Jane hat sie im letzten Moment angeschleppt. Ringsum nichts als Wüste, hat sie gesagt. Vor ein paar Meilen hat er ein Schild gesehen, das die Route 66 anzeigte. Nirgends stand Los Angeles. Er muss die Route auf dem Smartphone prüfen. Der Highway zieht sich ohne jegliche Parkmöglichkeit, bis er endlich eine Stelle findet, die wie ein Weg zu einem Trailer-Park oder irgendeiner Farm aussieht, ein Feldweg mit tiefen Reifenspuren. Jane schnarcht. Während der Fahrt hat er das Schnurren und Grunzen nicht gehört. Neben dem Parkplatz sieht er die Schatten von Büschen. Sie sehen aus wie übergroße Blumensträuße. Er streckt und dehnt sich, geht ein paar Schritte, spürt die Erschöpfung in sich hochkriechen, trinkt eine ganze Flasche Wasser aus. ohne abzusetzen. Danach atmet er die staubige Luft und kämpft dagegen an, mehr Wasser in sich zu schütten. Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Am Himmel wölben sich Sternenmeere und reichen fast bis zu ihm herab. Jane bewegt sich, murmelt im Schlaf. Er verzichtet auf das Weed, weil die Müdigkeit ihn so vollständig erfasst, dass er wie ferngesteuert zurück zum Wagen wankt, es gerade noch schafft, auf den Sitz zu sinken und die Augen schließt.
Jane löst sich aus der Erstarrung, als sie die Helligkeit bemerkt, die durch die Fensterscheiben auf ihr Gesicht fällt. Sie blinzelt und befreit sich von den Träumen, die ihr die Großmutter zurückgebracht haben, ihre samtenen Augen, die sie unentwegt anschauen, während sie Jane etwas erzählte, etwas Wichtiges, mehr als eine Gutenachtgeschichte, das sich die Enkelin nicht merken kann. War’s ein Geheimnis, eine Schatzkarte oder die genaue Rezeptur des berühmtesten Käsekuchens der ganzen Familie? Sie steigt aus dem Wagen. Schon die Morgensonne deutet die Kraft an, die sich im Lauf des Tages entfalten wird. Jane sammelt sich. Ihre Kehle fühlt sich trocken an. Sie öffnet den Kofferraum, findet einen Schokoriegel, kaut und trinkt eine Flasche Wasser aus. Auf den stachligen Büschen, die in der Wüste neben der Straße verstreut stehen, wütend wirken als müssten sie sich gegen die Welt selbst wehren, haben sich zerfetzte Plastikfetzen, Reste von Tüten, Verpackungsmaterial, festgesetzt. Sie sehen aus wie Segel.
Ihr Blick fällt auf Evan. Seine Haare glänzen, Strähnen bedecken Teile der Nase und der Augen. Warum schläft der Scheißkerl? Er hätte sie wecken können, dann wäre sie weitergefahren. Jetzt liegt er da wie ein Mehlsack und verbirgt das Ich-kann-niemandem-etwas-zuleide-tun-Engelsgesicht, hat einen Fuß angewinkelt, den anderen von sich gestreckt. Sie schaut sich um: ein Feldweg, der gottweißwohin führt, die Wüste und das Nirgendwo. Sie nimmt ihr Smartphone in die Hand. Zum Glück hat sie Empfang. Die nächste Stadt heißt Kingman. Evan ist in die falsche Richtung gefahren, hat den Highway ins Landesinnere genommen, weit weg von Los Angeles. Was für ein Looser! Sie unterdrückt den Wunsch zu schreien. Sie hätte nicht einschlafen dürfen, niemals, dann wäre das nicht passiert, niemals wären sie dann in die falsche Richtung gefahren, niemals. Jane rüttelt ihn wach, nähert sich dem Gesicht:
„Aufwachen, Dreckskerl!“ Er reagiert anfangs nicht, schreckt dann hoch, öffnet die Augen, schließt sie wieder.
„Wo hast du uns hingebracht, mm?“ Evan zuckt mit den Schultern, murmelt: „Raus aus der Stadt.“
„Aber in die falsche Richtung.“
„Wieso?“
„Da steht Kingman und das liegt in der entgegengesetzten Richtung zu L.A.“ Sie zeigt ihm die Positionsanzeige auf dem Smartphone.
„Hab ich nicht bemerkt.“
„Hab ich nicht bemerkt, hab ich nicht bemerkt.“ Jane boxt auf ihn ein. Er hält die Hände vors Gesicht.
„Scheißegal, dann fahren wir zurück.“
„Wir haben den Wagen gestohlen, schon vergessen?“
„Okay, okay, dann nicht.“
„Wir machen es so: Du fährst mich nach Kingman. Ich steige in den Greyhound und fahre nach L.A.“
„Und was ist mit mir?“
„Mach einfach, was du willst!“
Er kratzt sich am Hals, rückt die Frisur zurecht. Jane wartet darauf, dass er sie anschreit, aber er reagiert nicht. Vielleicht hat er einen Plan, vielleicht ist er im Nebel seiner eigenen Welt versunken. Er zündet sich eine Zigarette an, raucht, schaut zur Wüste. Die Luft flirrt. Jane schweigt und nimmt sich vor, nicht nachzugeben, denkt an die borstigen Haare ihrer Großmutter, an die Zopffrisur. Ob sie jemals so schöne Haare haben würde? Evan schnippt die Kippe weg, steigt ein und startet den Motor. Sie fahren los. Jane drückt auf die Taste. Das Fenster schiebt sich herunter. Fahrtwind weht durch ihre Haare. Sie schaut nach rechts zum Horizont, er geradeaus auf den Highway. Das Radio plärrt Country-Musik, weiße Wild-West-Songs. Jane beruhigt das. Sie will nach Hause.
Evan dreht und wendet die Gedanken, kann es kaum erwarten, Kingman zu erreichen, plant, gleich hinter der Ausfahrt anzuhalten, sie mir großer Geste rauszuwerfen, Jane auf keinen Fall hinterherzuschauen, kein Abschied, nichts, dann bis zum Nationalpark Grand Canyon zu fahren, dort den Wagen abzustellen, irgendeinen Touristen anzuquatschen und nach einer Mitfahrgelegenheit suchen: Westküste, Ostküste, ganz egal, Hauptsache eine große Stadt. Wäre Jane nicht gewesen, hätte er es längst zu was gebracht, wäre den richtigen Leuten begegnet. Trotz der Seuche und dem verschissenen Shutdown. Er schwitzt, dreht die Klimaanlage weiter auf. Ein Schild zeigt an, dass es noch 35 Meilen bis Kingman ist. Ab und zu überholen sie einen Truck, manchmal rauschen Pickups an ihnen vorbei. Er hält sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Er muss die Augen zukneifen, weil er keine Sonnenbrille hat. Irgendwie hat er sich die Flucht aus Las Vegas als Befreiung vorgestellt, nicht so beschwerlich, entspannter, ein Urlaubstag, dem nach Monaten der Düsternis weitere folgen. Er denkt darüber nach, wie es wäre, zu blinzeln, einmal, zweimal, dreimal, zur Seite zu blicken und festzustellen, dass Jane weg ist, vielleicht nie da war.
Als der Motor zu stottern anfängt, gibt Jane die ersten Laute seit einigen Meilen von sich.
„Was ist das für eine Scheiße?“
„Keine Ahnung“, antwortet Evan, obwohl er auf dem Armaturenbrett die Tankanzeige entdeckt, die sich im roten Bereich befindet.
Der Wagen trudelt aus. Evan rollt auf dem Rand der Straße zu, kann das Auto gerade noch von der Fahrbahn zwischen Büschen und Sand zum Stehen bringen. Jane beugt sich zu ihm hinüber und sieht sofort, was los ist.
„Du bist so ein Loser!“ Sie heult, schlägt auf ihn ein, bis er ihre Arme festhält. Sie kann ihn nicht anschauen, will’s auch gar nicht.
„Ich lauf los, Benzin besorgen“, murmelt er.
Jane schaut weg, löst sich von ihm. Er stinkt: nach Schweiß, nach Evan, nach Las Vegas. Sie kramt in der Handtasche, findet die Sonnenbrille mit den riesigen Gläsern, für die er in einem Shop im Bellagio 100$ hingeblättert hat: in kleinen Scheinen, weil er das Geld ein paar Minuten zuvor an einer Slotmachine gewonnen hat. Dann steigt sie aus, holt den glitzerrosa Koffer aus dem Fond des Chevys, schultert den Rucksack, achtet darauf, zwei Flaschen Wasser einzupacken, hängt sich die Handtasche um, rückt die Brille zurecht und schaut Evan durch die Gläser an. Sie balanciert das Gewicht der Gepäckstücke aus. Auf die Balance kommt es an. Er sieht so orangefarben aus, richtig elend. Schweiß perlt auf seiner Stirn, er sinkt in sich zusammen, hat die Körperspannung verloren: „Mach, was du willst. Einen Pannendienst anzurufen lohnt sich ja wohl nicht, dann kriegen sie dich dran.“
„Dich?“
„Ja, dich, weil ich bin bis dahin weg.“
„So ist das also.“
„Das war’s, Evan, das war’s.“
„So ist das also, Jane. Hau ab, ich brauche dich nicht, hau ab!“
Sie stellt den Koffer noch einmal für einen Moment ab. Aber nur, um ein Seidentuch aus dem Rucksack zu ziehen. Wenn Evan zeichnete, war er so versunken, so fern von allem. Wenn er sie liebte, war es genauso. Dann war er fast so makellos wie sein Körper. Sie zuckt die Schultern, blinzelt, dreht sie sich um und atmet durch. Die heiße Luft brennt in der Lunge. Aber sie läuft los, unverzagt, mutig. Vielleicht würde jemand anhalten, ein Truck, ein Cowboy drin, ein echter Kerl. Dann fragt sie sich, was ihre Großmutter ihr sagen wollte.
Evan schaut ihr eine Weile hinterher, kratzt sich am Kopf, blickt dann zu den Bergen am Horizont. Zwei Vögel segeln dort, kreisen, suchen nach Beute. Evan nimmt sich die Wasserflaschen, den Revolver, die Zeichenkladden, Stifte und läuft los.