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- 07.08.2003
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Wahnsinn
Antlitz des Wahnsinns
Durch ein merkwürdiges, unvertrautes Geräusch fuhr Rebecca Krupp aus ihrem Schlaf hoch. Sie horchte angespannt. Als sie jedoch keinen weiteren Laut mehr wahrnahm, sank sie wieder zurück ins Bett und schlief erneut ein.
Rebecca war eine junge Mutter. Eine hübsche, attraktive Frau, ende zwanzig. Hatte eine dreijährige Tochter – Lea – und einen Mann, welcher eine leitende Funktion bei einer Autofirma inne hatte. Durch diesen Job war es leider so, dass er selten zu Hause war, woran sich Rebecca erst nach etlichen Jahren langsam gewöhnte.
Wenn Lea in der Kindergruppe war – dreimal in der Woche – dann arbeitete Rebecca stundenweise in einem kleinen Lebensmittelgeschäft an der Kassa.
Die Türe zum Schlafzimmer wurde einen Spalt weit geöffnet. Quietschte. Peter hatte zwar versprochen, dass er sich darum kümmerte, aber…
Jemand warf aufmerksame Blicke ins Schlafzimmer. Horchte.
Nur das flache, ruhige Atmen einer Schlafenden war zu vernehmen. Die Türe wurde weiter geöffnet. Ein großer, durchaus attraktiver Mann betrat das Schlafzimmer. Dabei musterte er den Raum ganz genau. Trotz der vorherrschenden Dunkelheit konnte er alles ganz genau erkennen.
Es war ein großer Raum. Freundlich und einladend. Ein zweiteiliger und ein dreiteiliger Kleiderschrank befanden sich darin. Zwei große Fenster gewährten Blicke nach draußen. Keine Straße. Angrenzender Wald.
Über dem Kopfende des Bettes hing ein Bild von Gustav Klimt. Darüber ein langes Regal, auf welchem unzählige Bücher standen. Nur sehr wenige davon waren auch wirklich gut und lesenswert.
Ansonsten schmückten noch unzählige Fotos von Lea das Schlafzimmer, und ein Portrait von ihrem Mann.
Bedacht bewegte sich der Fremde auf das Bett zu in dem Rebecca schlief und leise schnarchte. Er betrachtete sie eine Weile. Sie wirkte so friedlich. Glücklich.
Nach einer gewissen Zeit – es waren vielleicht fünf Minuten – nahm der Fremde einen Fotoapparat aus seiner Jackentasche und begann Rebecca zu fotografieren. Brauchte dafür etwa zehn Minuten. Anschließend verschwand er wieder.
Ebenso lautlos, wie er gekommen war.
Das Läuten des Telefons ließ Rebecca aufschrecken. Im ersten Moment sah sie sich suchend um, tastete nach Peter, bevor ihr einfiel, dass ihr Mann ja gerade in New York war. Sie vermutete, es wäre der Wecker, brauchte eine Weile bis sie registrierte, dass es das Telefon war, welches sie so unsanft aus dem Schlaf riss.
Sie wollte gerade aufstehen, denn der Anrufer schien ziemlich hartnäckig zu sein, als sie am Flur bereits die sanfte Stimme ihrer Tochter wahrnahm.
Keine Minute später stand Lea bereits im Schlafzimmer und hielt ihrer Mutter das Telefon unmittelbar vors Gesicht.
Dabei grinste Lea glücklich.
Rebecca meldete sich, stellte aber sofort fest, dass niemand mehr am anderen Ende der Leitung war.
Sah Lea fragend an.
Doch das dreijährige Mädchen hatte keine Ahnung, was es mit den Blicken ihrer Mutter anfangen sollte und deshalb waren ihr diese Blicke auch ziemlich egal.
Schnell war sie ins Bett zu ihrer Mutter geklettert und hatte sich unter der Decke vergraben.
Schlief auch schon wieder. Dabei hatte sie ein friedliches Lächeln auf den Lippen.
Sheriff Bill Tomson hasste nichts mehr, als wenn er einer Familie die katastrophale Nachricht überbringen musste, dass ein Angehöriger tot waren.
Das war etwas vom Schlimmsten, was einem widerfahren konnte. Zum Glück geschah es in seinem Bezirk, seiner Stadt, nicht allzu oft.
Er verabscheute es, zu den Angehörigen zu gehen. In den meisten Fällen kannte man sich persönlich, trank schon mal ein Bier miteinander, was in einer kleinen Stadt nicht ungewöhnlich war.
Die Reaktionen konnte man nie voraussagen. Meistens wurde versucht, Fassung zu bewahren – was wiederum sehr oft scheiterte.
Man wollte ja nicht vor dem Sheriff in einen Heulkrampf ausbrechen. Hysterisch werden. Was auch immer.
In den letzten vierzehn Tagen allerdings musste Bill insgesamt neunmal eine derartige Hiobsbotschaft überbringen.
Es war verdammt schlimm… auf eine gewisse Weise verachtete er sich sogar selbst. Er sah die entsetzten Gesichter vor sich. Bleiche, fassungslose Fratzen. Menschen, die nicht wussten, wie sie zuerst reagieren sollten.
Bill empfand immer tiefstes Mitgefühl mit diesen Menschen. Stellte sich vor, dass ihm jemand die grausame Todesnachricht seiner fünfjährigen Tochter brachte.
Neun Kinder – alle im Alter zwischen drei und sieben Jahren – waren in den vergangenen vierzehn Tagen brutal ermordet worden. Hauptsächlich Mädchen. Aber nicht, dass man jetzt dachte „ein Perverser der kleine Mädchen vergewaltigte“ oder so. Nein.
Die Mädchen wiesen keinerlei Spuren irgendwelcher sexuellen Handlungen auf. Nur zwei der Opfer waren Buben.
Tatsache war: ein eiskalter, brutaler Kindermörder trieb sein Unwesen.
Bill fühlte sich jeden Tag müde und hilflos. Betete zu Gott, dass nicht wieder eine Leiche gefunden wurde. Es war so schrecklich. Noch grässlicher war, dass er mit seinen Ermittlungen nicht recht vorankam. Der Mörder war ein Profi. Hinterließ keine Spuren. Man konnte durchaus sagen, er spielte Katz und Maus. Davor hatte Bill am meisten Angst.
Ja, Bill war ein gewöhnlicher Mensch. Ein Mensch mit Ängsten. Kein Superbulle wie in den Filmen oft zu sehen war.
Bill hatte Angst davor, dass er dem Mörder noch keine Spur näher gekommen war als am ersten Tag. In der Nacht, wenn seine Frau ruhig und fest schlief, lag er oft noch wach und weinte leise.
Alpträume plagten ihn.
In seinen Nachtmahren sah er immer seine Tochter. Er war mit ihr im Park. Dort spielte sie im Sand. Schaukelte. Rutschte. Hatte Spaß.
Bis…
Bis sie plötzlich verschwand.
Verzweifelt hatte er nach ihr gesucht. Geschrieen. Geweint.
Keine Antwort.
Sie blieb verschwunden.
Aus seinen Alpträumen erwachte Bill immer dann, wenn ihm seine Tochter erschien. Nicht lebendig. Nicht tot.
Sie schwebte in einer Zwischenwelt. Ein Geist. Vorwurfsvoll und anklagend starrte sie ihren Vater aus leeren, leblosen Augen an. Sie bewegte leicht ihre Lippen. Bill hatte dabei immer das Gefühl, als warf sie ihm vor, nicht richtig auf sie aufgepasst zu haben.
Während dieser Szene erwachte Bill immer. Nicht schreiend. Doch Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Und oft fehlte ihm auch die Orientierung.
Es kam auch durchaus vor, dass er nicht mal wusste, ob er träumte oder wach war.
Dann stand er auf, schlich aus dem Schlafzimmer und vergewisserte sich, dass Julia in ihrem Zimmer war und schlief.
Am liebsten hätte er in ihrem Zimmer geschlafen, nur um besser auf seine Tochter aufpassen zu können.
Die Jagd auf den Kindermörder setzte ihm schwer zu. Zerrte an seinen psychischen und physischen Kräften.
Wie bereits gesagt, er war den ganzen Tag müde und erschöpft. Am liebsten hätte er sich irgendwo hingelegt und geschlafen.
Aber er war der Sheriff, seine Aufgabe war es, den Kindermörder zur Strecke zu bringen.
Das Büro des Sheriffs war ein großer, heller Raum. Der größte Raum in der Polizeistation.
Ein langer Schreibtisch aus schwerem Buchenholz befand sich ziemlich in der Mitte des Raumes. Ein Schreibtisch mit vielen Schubladen – einige davon absperrbar – und anderen nützlichen Ablagemöglichkeiten. Ein Laptop stand darauf. Direkt daneben ein Drucker und ein Faxgerät. Alles schon ein wenig veraltet.
In einem Wandregal, welches sich unmittelbar hinter Bill befand, standen zahlreiche Ordner. Viele davon verstaubt. Nur sehr wenige sahen wirklich neu aus.
Ein teurer Perserteppich bedeckte den Boden. Passte irgendwie gar nicht ins Büro. Einige Bilder hingen an den Wänden. Familienbilder, welche dem Raum eine angenehme Atmosphäre verliehen.
Jene Bilder, welche Bill vor sich liegen hatte, trugen nicht zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Es waren die Fotos der toten Kinder. Allesamt persönliche Kunstwerke. Wie im Leben, so auch im Tot.
Der Mörder hatte jedem seiner Opfer eine ganze persönliche Note verliehen. Keines der Kinder war auf dieselbe Weise gestorben.
Bill saß lange vor diesen Fotos. Starrte sie regungslos an.
„Schicken Sie uns Ihre besten Urlaubsfotos und gewinnen Sie eine Reise nach…“!
Unwillkürlich war Bill dieser Werbeslogan eingefallen. Angewidert schüttelte er sich. Hatte eine Gänsehaut bekommen.
Es war schon abartig, nur an so etwas zu denken.
An diesem Tag, es war an einem Mittwoch im November, beschloss Bill auch, endlich die Presse zu informieren, um die Öffentlichkeit auf die grausigen Geschehnisse aufmerksam zu machen. Obwohl. Andererseits glaubte er, dass ohnehin schon alle darüber Bescheid wussten.
Auch die Presse. Verwundert war er nur darüber, dass bisher noch nichts über die Morde geschrieben wurde. Aber auch das sollte sich gleich ändern.
Als Bill an diesem Tag die Zeitung bekam, fuhr ihm ein Schock in die Glieder. Wahrscheinlich nicht nur ihm. Auf der Titelseite prangte groß das Foto des bisher letzten Opfers. Das entstellte Gesicht des Mädchens wirkte anklagend. In großen Lettern stand eine reißerische Schlagzeile darüber. Genauso reißerisch war auch die Berichterstattung. Unwahrheit quoll beinahe über. Triefte vor Blut.
Es machte Bill wütend. Er bemitleidete die Familie des Mädchens. Diese Berichterstattung jedoch zeugte nicht von Taktgefühl sondern alleine davon, wie sehr sie Leserquoten brauchten.
Wütend verließ Bill sein Büro. Machte sich auf den Weg zum Verlag, um sich dort nur eine knappe Stunde später lächerlich zu machen.
Rebecca überflog für gewöhnlich die Zeitung nur. Doch diesmal nicht. Es war das grässliche Foto des toten Mädchens. Lange starrte sie es an.
Sie war entsetzt und zitterte am ganzen Körper. Ihr Gesicht war kreidbleich und wirkte alt.
Unwillkürlich dachte sie an Lea.
Wo war sie eigentlich?
Rebecca legte die Zeitung zur Seite und stand auf.
Wo war Lea?
Ihre Gedanken wechselten vom Foto in der Zeitung zu Leas Gesicht und wieder zurück.
Angst stieg in Rebecca auf.
Sie rief nach Lea. Zuerst war es ein Rufen wurde aber dann zum Schreien.
Keine Antwort.
Das kleine Mädchen war nicht im Haus. Nicht im Garten.
Nirgends.
Rebecca liefen Tränen über die Wangen. Nervös kaute sie auf ihren Fingernägeln herum. Wünschte sich, dass Peter kam.
Abermals sah sie das Foto vor sich. Ihre anfängliche Angst gereifte allmählich zur ausgewachsenen Panik.
Sie versuchte sie ein bisschen zu beruhigen, um klar denken zu können. Doch umso mehr sie dies versuchte, desto mehr wuchsen die Nervosität und die Panik.
Es war ihr nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Im Wohnzimmer lagen immer noch die Bauklötze verstreut, mit welchen Lea noch vor gut einer Stunde gespielt hatte.
Und jetzt?
Spurlos verschwunden.
Bill stand im Wohnzimmer von Rebeccas Haus. Er hatte sich gründlich umgesehen, aber nichts gefunden.
Zwar hatte Rebecca Bill Kaffee angeboten, diesen dann jedoch zweimal verschüttet – sie zitterte am ganzen Körper – und es dann aufgegeben.
Sie hatte leise geflucht und nervös an ihren Nägeln gekaut, wollte sich rechtfertigen, warum es mit dem Kaffee nichts wurde, doch Bill winkte ab.
Sie brauchte sich nicht zu rechtfertigen. Bill war sich sicher, dass er bestimmt genauso reagiert hätte, wäre seine Tochter spurlos verschwunden.
Lea sah sich um. Konnte nichts erkennen. Dazu war es eindeutig zu dunkel.
Es stank nach altem, fauligem Holz.
Zudem war es sehr kalt in diesem Raum.
Das kleine Mädchen hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Hatte große Angst. Das war keine vertraute Gegend. Hier war sie noch nie.
Und Mama und Papa waren auch nicht da.
Niemand war da.
Sie war ganz alleine in diesem kalten, stinkenden Raum. Umgeben von irgendwelchem winzigen Getier, welches über den kalten Boden huschte und auch gleich wieder in irgendwo in Ritzen verschwand.
Nein.
Das war kein schöner, freundlicher Ort, an dem sie sich gerne aufhielt. Sie wollte nach Hause. Zu Mama. Zu Papa.
Unruhig lief das Mädchen in diesem Raum hin und her. Einige Male lief es gegen die Wand an. Schrie nach Mama und Papa.
Außer ihrem unheimlichen Echo, welches langsam verklang, bekam sie keine Antwort. Beklemmende Stille kehrte wieder ein.
Lea sank erschöpft, müde und ängstlich zu Boden und begann zu weinen. Immer wieder murmelte sie: „Mama, Papa, Mama, Papa“.
In der Folge daran schlief sie jedoch ein. Tauchte ein in einen friedlosen Tiefschlaf.
Ganz leise wurde die Türe zu Leas Zelle geöffnet. Ein Mann betrat diese. Lea kauerte am kalten, feuchten Boden und schlief unruhig. Immer wieder schrak sie für den Bruchteil einer Sekunde auf, ohne dabei jedoch ganz aufzuwachen.
Seufzte. Schlief weiter.
Der Mann sah ihr eine zeitlang zu, begann sie dann zu fotografieren, wie er in der Nacht zuvor Leas Mutter fotografiert hatte. Durch das Zucken des Blitzes zuckten die Augen des Mädchens ein wenig, ließ sich aber trotz ihres unruhigen Schlafes nicht weiter davon stören.
Der Unbekannte verließ das Zimmer wieder…
Betrat einen Raum, welcher wohl das Fotolabor war. Auf mehreren Wäscheleinen, welche in diesem Raum gespannt waren, hingen dutzende Fotos von Kindern. Aber auch von Erwachsenen. So wie von Rebecca.
Er betrachtete die Fotos. Lächelte widerlich.
Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln, als er sich die Fotos von Rebecca ansah. Sie war so schön. Perfekt, in seinen Augen.
Doch noch unerreichbar für ihn.
Alle waren sie nicht greifbar für ihn. Trotzdem liebte er sie. Empfand unbeschreibliche Gefühle für diese Frauen.
Besonders Rebecca.
Irgendwann würden sie alt und welk werden. Wie Blumen in der Trockenheit. Ihre Schönheit würde schwinden.
Wenn es soweit war, dann würde es neue Frauen geben. Schöne, perfekte Frauen.
Wie Rebecca.
Er konnte sich die Fotos gar nicht lange genug ansehen.
Doch da gab es noch diesen Spruch: „Schönheit muss leiden“. Und nach dieser Weisheit handelte der Unbekannte.
Er entführte die Kinder schöner, perfekter Frauen. Beobachtete sie, wenn sie litten. Fotografierte sie.
Fand sie noch attraktiver, wenn sie vor Panik und Sorge um ihre Kinder kreidebleich waren.
Es war abartig. Ekelerregend.
Nachdem Bill gegangen war, war es Rebecca doch noch gelungen, einzuschlafen.
Sie war müde und die Panik um ihre Tochter zeigte deutliche Spuren.
Aber sie schlief…
Bekam auch nicht mit, dass sie bereits das zweite Mal an diesem Tag heimlich fotografiert wurde.
Der fremde Mann war erneut in das Haus eingedrungen, sah sich um. Fand Rebecca auf ihrem Sofa liegend – schlafend.
Fotografierte sie, um sich später an diesen Fotos aufzugeilen. Er hatte Rebecca schon lange beobachtet. Kannte all ihre Gewohnheiten.
Er gierte nach ihr.
Die anderen Mütter waren vergleichsweise kleine Fische gewesen. Einmal aufgeilen – genug.
Nicht Rebecca. Sie war das Objekt seiner irren Begierde. Wollte auch Lea nicht so schnell töten. Zu perfide war sein Plan.
Wollte spielen. Eine Art Experiment. Das Leid, welches er verursachte, geilte ihn auf.
Die Kinder waren nur die Mittel zum Zweck. Maß ihnen keine große Bedeutung zu. Hätte sich auch niemals sexuell an einem der Kinder vergriffen.
NIEMALS.
Sie dienten nur dazu, seine Gier zu befrieden. Sein gieren nach Leid.
Aber Rebecca. Sie war etwas ganz besonderes.
Keine gewöhnliche Frau. Warum, das wusste er eigentlich selbst nicht.
Peter behandelte sie wie eine gewöhnliche Frau. War niemals, oder nur sehr selten, da. Oft unterwegs.
Von der Firma aus?
Der Fremde wusste es besser. Hatte viel, sehr viel, Zeit damit zugebracht, ihn zu beobachten.
Andere Frauen. Von der Firma aus? Fremdgehen geschellschaftsfähig.
Wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, betrog er Rebecca. Schlechtes Gewissen? Nicht Peter. Und insgeheim wusste Rebecca, was ihr Mann machte.
Aber wahrhaben?
Sie wollte es nicht wahrhaben. Versuchte dieses Wissen zu verdrängen. In Peter den perfekten Ehemann und Vater zu sehen.
Darüber ärgerte sich der Fremde ebenso. Er liebte Rebecca. Über viele Jahre schon liebte er sie.
Er hätte sie niemals betrogen.
Rebecca hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Ihr war, als hätte sie jemand fotografiert, während sie schlief. Viele Fotos waren gemacht worden. Sie ahnte nicht, dass es kein Traum gewesen war.
Sie ahnte nicht, dass es irgendwo in einem dunklen, kalten Versteck einen Mann gab, der sich an ihren Fotos aufgeilte und in irgendeinem bedrohlichen Verließ Lea gefangen hielt.
Nichts von alledem ahnte sie.
Schwerfällig bewegte sie sich in die Küche. Wollte eine Kleinigkeit essen und einen Kaffee trinken. Die Zeitung lag nach wie vor aufgeschlagen am Küchentisch. Das Foto des grausam entstellten Mädchens starrte sie kalt und leblos an. Es war wie ein nicht enden wollender Alptraum.
Die Zeit verging so langsam.
Im Grunde war ihr der Hunger schon wieder vergangen. Dennoch zwang sie sich dazu, etwas zu essen.
Mit ihren Gedanken und ihrem Hoffen immer bei Lea, kochte sie etwas zusammen, was sich später als absolut ungenießbar herausstellte.
Rebecca war alles, nur nicht bei der Sache. Sie machte den Eindruck, als träumte sie vor sich hin. Zu verdenken war es ihr nicht.
Immerhin war Lea am helllichten Tag einfach so verschwunden. Vielleicht wäre das alleine auch noch kein Grund gewesen, um sich große Sorgen zu machen. Lea war schon des Öfteren verschwunden und dann bei einer Freundin gewesen.
Aber nicht diesmal. Sie war bei keiner Freundin. Rebecca hatte überall angerufen.
Bill stand vor Rebeccas Fotos. Alleine in einer dunklen Kammer. Geilte sich an ihr auf.
Speichel rann aus seinen Mundwinkeln zum Kinn und tropfte zu Boden.
Seine Augen spiegelten Wahnsinn wieder.
Doch es war nicht wirklich Bill. Bill war grundanständig.
Zu diesen Taten wäre er niemals fähig gewesen. Dachte man von den meisten Menschen, die irgendwann jemanden ermordeten und vorher immer unscheinbar waren.
Aber es traf gewiss nicht auf Bill zu.
Angefangen hatte es schon sehr früh – als Bill noch ein Kind gewesen war.
Um zu verstehen, was damals geschah, muss man viele Jahre in die Vergangenheit gehen. Dorthin, als Bill noch ein kleiner Junge von etwa zehn Jahren war. Damals war Bill noch um einiges dicker, zwar war er es jetzt auch noch, aber als Kind… er war richtig fett. Was auch einer der Gründe war, warum er immer gehänselt wurde.
Man konnte auch sagen, er wurde gequält.
Kinder konnten so unerbittlich grausam sein. Niemand stand hinter Bill, bat ihm seine Freundschaft an. Niemand der zu ihm hielt und sich gegen die anderen auflehnte, der Bill verteidigte.
Er war ganz alleine gewesen.
Aus Trauer und Verzweiflung war er entstanden: Jonny. Sein bester Freund.
Eine Person, welche nur er sehen konnte. ER hatte Jonny geschaffen. Einen coolen, starken Jungen. So wie er gerne sein wollte.
Mit Jonny konnte er über alles reden. Wann immer ihn etwas bedrückte. Jonny war immer da. Wurde niemals laut. Horchte immer zu.
Doch dann geschah etwas Schreckliches. Jonny begann auf eine eigentümliche Art und Weise ein Eigenleben zu entwickeln. Er war da, auch wenn Bill ihn nicht rief.
Das war der Zeitpunkt – Bill war mittlerweile siebzehn Jahre, hatte gerade seine erste Freundin – als Bill versuchte, Jonny abzuschütteln.
Jene Zeit, als Bill mit der quälenden Vergangenheit abschließen wollte.
Doch sein „bester Freund“ ließ sich nicht einfach so abschütteln wie eine überreife Frucht. Er war zu stark.
Er blieb da.
Mit jedem Tag wurde Jonny stärker. Und gefährlicher.
Schließlich verlor Bill komplett die Kontrolle über das, was er geschaffen hatte.
Jonny.
Er konnte das Tun und Handeln nicht mehr beeinflussen.
In der einen Minute war er Jonny und in der nächsten Bill. Dazwischen lagen Blackouts.
Immer noch geilte sich Jonny an den Fotos von Rebecca auf. Sein Gesicht war rot. Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Brannte ein wenig, war aber nicht weiter störend. Endlich erreichte er den Höhepunkt. Für einen kurzen Moment verzog er sein Gesicht, welches aber gleich anschließend vor Freude strahlte.
Jonny betrat erneut die dunkle Zelle – auch zum letzten Mal – in welcher Lea saß und leise wimmerte. Sie schlief nicht mehr, sondern blickte ängstlich zur Türe. Sie konnte nicht erkennen, wer dieser Mann war, der sie gefangen hielt.
Es war ihr auch egal. Sie wollte nur nach Hause. Raus aus diesem stinkenden, kalten Loch.
Ihre Augen waren schon ganz aufgequollen vom Weinen. Jonny sah das Mädchen ganz deutlich vor sich. Trotz der Dunkelheit.
Für Jonny war es niemals dunkel. Jonny schlief auch nie.
Er konnte alles sehen. Jeden Gesichtszug. Jede noch so kleine Reaktion.
Konnte ihre panische Angst förmlich riechen… und es machte ihm Freude. Noch mehr Freude würde es ihm machen, wenn Rebecca endlich ihm gehörte…
Rebecca hatte an diesem Tag oft versucht, ihren Mann am Handy zu erreichen, doch jedes Mal kam die Ansage: „Kein Anschluss unter dieser Nummer“.
Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, was geschehen war. Dazu müssten wir in dieser Geschichte etwas vorgreifen.
Sie wusste nicht, warum sie ihren Mann nicht erreichen konnte.
Erst ein paar Stunden später, als Sheriff Tomson an diesem Tag erneut kam, erfuhr sie die niederschmetternde Nachricht.
Aber alles der Reihe nach…
Rebecca war von ihrem Essen, welches sie zubereitet hatte, regelrecht übel geworden. Bereits das zweite Mal war sie aufs Klo gerannt, um sich zu übergeben. In ihrem Magen rumorte es gewaltig. Es schien richtig zu brodeln. Wie ein Vulkan vor dem Ausbruch.
Säuerlicher, widerwärtiger Gestank lag ihr in der Nase. Und im Mund. Ein Geschmack, den sie nicht so ohne weiters wegbekam.
Sie hatte viel öfters das Gefühl sich übergeben zu müssen, als sie es schlussendlich tat.
Worüber sie selbstverständlich froh war. Es war ja nicht so, dass Rebecca darauf stand, sich zu übergeben.
Unerträgliche Kopfschmerzen waren dazugekommen. Ein grauenvolles Pochen im Schläfenbereich. Als ob sie jemand mit einem Hammer bearbeitete. Auch ihre Augen bereiteten ihr höllische Schmerzen. Sie hatte das Gefühl, als explodierten ihre Augen gleich. Nahm nur noch verschwommene Dinge wahr.
Nichts schien wirklich. Die Realität war zu einer unwirklichen, dunklen Welt geworden…
Unverhofft klopfte es…
Es dauerte ziemlich lange, bis Rebecca begriff, woher dieses Klopfen kam. Noch länger für den Weg aus der Küche zur Eingangstüre. Etliche Male musste sie eine Pause einlegen. Sich abstützen, damit sie nicht hinfiel.
Endlich erreichte sie die Türe, drehte den Schlüssel im Schloss, bevor sie merkte, dass die Türe offen war.
Der Sheriff war gekommen. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Auch wenn Rebecca nur verschwommen sah, Bill erkannte sie. Seiner Miene konnte sie entnehmen, dass er nicht gekommen war, um ihr eine freudige Nachricht zu überbringen.
Im Gegenteil.
Bill wirkte angespannt und völlig erschöpft. Alt.
Rebecca bat ihn in ihre Wohnung, hütete sich davor, ihm etwas zum Trinken anzubieten – noch schlimmer… etwas zum Essen.
Rebecca wagte nicht den Sheriff zu fragen, was ihn zu ihr führte. Wartete nervös. Kaute immer noch auf ihren Fingern herum, obwohl von ihren Nägeln nichts mehr übrig war. Ihre Finger schmerzten und teilweise hatte sie so sehr an den Nägeln gebissen, dass Blut kam.
Hatte er Lea gefunden? War sie tot?
Wie die anderen Kinder?
Auf der einen Seite war die Neugierde. Auf der anderen Seite die Angst. Wahrscheinlich war es zu schrecklich.
Bill holte tief Luft. Begann dann stockend zu berichten, dass man ihren Mann mit einer Hure in einem Motel gefunden hatte.
Beide tot. Ermordet.
Auch an dieser Stelle wollen wir auf Details verzichten. Es sei nur gesagt, es war eine grässliche Art zu sterben.
Rebecca schnappte hektisch nach Luft. Es war, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie war nicht im Stande, etwas zu sagen. Nicht ein einziger Laut kam über ihre Lippen.
Kein Geräusch. Nur nach Luft schnappen.
Bill war selbst danach. Vielleicht weniger nach Luft schnappen, aber ihm war übel.
Nur Jonny, dem gefiel das ganze Szenario aus Leid und Schrecken. Ein Szenario, welches er inszeniert hatte.
Leid. Trauer. Schrecken.
All das hatte er verursacht. ER hatte all die Kinder ermordet. Hatte sich an den leidenden Müttern aufgegeilt.
ER war es, der Peter ermordet hatte. Und die Hure.
Sah Rebecca leiden. Es machte ihm Spaß. Er hatte seine helle Freude an dem grausigen Spiel, welches er trieb.
Bald schon gehörte Rebecca ihm.
Sie würde nicht mal mehr wissen, dass sie eine Tochter hatte.
Lea.
Eigentlich ein schöner Name. Langsam würde Lea in ihrem Verließ verdursten. Verhungern. Ratten würden sich an ihrem toten Körper laben.
Vielleicht fand man ihre Überreste irgendwann in vielen Jahren. Aber da würde niemand mehr wissen, wer dieses Mädchen war.
All das war unzulänglich. Jonny war besessen von Rebecca und tief in ihrem inneren, war Rebecca auch von ihm besessen, doch das wusste sie noch nicht…
… schon sehr bald…
Das letzte Mal, als Bill gesehen wurde, war er bei Rebecca. Danach niemals wieder. Der Sheriff war verschwunden. Unheimlich war auch, dass seine Familie verschwunden war. Niemand wusste etwas über das Verschwinden
Rebecca selbst hatte quälendes Fieber bekommen. Es war ein Fieber des Vergessens…
Gerüchte kamen auf und gingen ebenso schnell wieder unter. Bald schon wurde nicht mehr darüber gesprochen.
Rebecca war einkaufen gegangen. Nicht besonders viel, denn als Single hatte man keinen großen Bedarf abzudecken.
Nur Kleinigkeiten.
Stellte sich im Supermarkt an der Kassa an, legte ihre Waren auf das Förderband. Ein attraktiver, junger Mann trat plötzlich hinter sie. Er war groß und kräftig gebaut. Dunkle Hautfarbe. Dunkle, feurige Augen.
Rebecca warf dem Mann ein flüchtiges Lächeln zu, packte ihre Sachen in eine Plastiktüte, zahlte und wollte gerade gehen, als der Mann sie mit einer festen aber beruhigenden Stimme fragte:
„Wie heißen Sie?“.
Rebecca wusste zwar nicht weshalb, aber im ersten Moment hatte sie keine Ahnung, was sie sagen sollte.
Ihren Namen natürlich.
Aber genau dieser fiel ihr in diesem Moment nicht ein. Nach einer kurzen Pause erwiderte sie:
„Rebecca Kingston“.
Kingston war ihr Mädchenname. Sie wusste nicht, dass sie einmal – es war noch gar nicht lange her – Krupp hieß. Sie kannte ihre Vergangenheit nicht.
Der Fremde nickte lächelnd und wissend. Rebecca glaubte in seinen dunklen Augen ein Glitzern erkannt zu haben. Sie konnte sich aber auch täuschen.
Der fremde Mann antwortete mit einer beruhigenden Stimme.
„Jonny Tomson".