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Wahrheit oder Pflicht
Als die Tür zufiel, erschrak sie. Sie erschrak auch beim Hupen eines Autos, das draußen vorbei fuhr oder beim Weinen eines Kindes, aber diesmal war es die Tür. Dabei war es nicht mal ein lautes Geräusch, nichts im Vergleich zu den Geräuschen, die außerdem zu hören waren, denn es tobte eine Party um sie herum, und toben war der richtige Ausdruck, andere Wörter wie „stattfinden“ oder so waren eine horrende Untertreibung. Es war nicht ihre Party, ja sie kannte nicht einmal die Hälfte aller Gäste, vielleicht nicht mal ein Drittel. Es war Annies Party und es waren Annies Freunde, es waren diese Leute, die eine Tür so laut zufielen ließen, dass man sich einfach erschrecken musste, auch wenn es drum herum so laut wie in der Hölle war. Sarah fluchte, „Oh Jesses“, sie verfluchte sich selbst, weil sie Annie versprochen hatte zu helfen, wobei ihre Schwester doch eigentlich keine Hilfe brauchte. Annie konnte Karate, Sarah verlor schon bei Schere, Stein, Papier. Eigentlich kannte sie niemanden, der weniger auf die Hilfe anderer angewiesen war als Annie, doch nun war es zu spät und sie stand in der Küche und mixte Cocktails. Schon seit sie klein waren, ließ sie sich von Annie überreden, egal zu was. Einmal mit acht, als Annie auf dem Survival-Trip war, sollte Sarah eine Kellerassel essen, wegen der Proteine, und sie hatte es gemacht aber jetzt, mit Ende Zwanzig, sollte sie eigentlich eigenständig genug sein, eine eigene Meinung haben und die auch durchsetzen – nein, sie konnte es nicht. Seit der Zeit mit der Kellerassel hatte Sarah nichts dazugelernt. Genau wie das Kriechtier wand und sträubte sich, stellte ihre sämtlichen Extremitäten quer und verlor am Ende doch den ungleichen Kampf: Sie wurde verschlungen.
Die meisten Gäste tranken Bier, aber ein paar genehmigten sich einen Gin Tonic oder Wodka Red Bull, und Sarah wünschte sich, sie könnte mittrinken, einen Wodka Red Bull in sich reingießen wie die anderen, aber sie vertrug keinen Alkohol, hatte vielleicht eine Alkoholallergie, zumindest wurde ihr, wenn sie es doch versuchte, furchtbar schlecht und sie fiel um wie eine betäubte Maus in einem Glaskasten im Versuchslabor.
Es war Weihnachten und überall hingen blinkende Lichterketten. Die Gäste kamen mit Geschenken beladen an und stellten die Pakete dort hin, wo noch Platz war: in die Küche. Bald kam Sarah sich vor wie eine Garderobiere in der Oper. Alle luden ihr Zeugs bei ihr ab, so dass sie sich bald kaum mehr frei bewegen konnte. Nur den Griff zur Ginflasche konnte sie ungehindert ausführen. Ansonsten verlagerte sich das Zentrum der Party von der Küche ins Wohnzimmer, wo lustige Partyspielchen gespielt wurden. Sarah war froh, dass sie bei Wahrheit oder Pflicht nicht mitspielen musste. Nicht, dass sie etwas zu verbergen gehabt hätte. Vielleicht hätte sie viel lieber etwas zu verbergen gehabt als so mancher glaubte.
Sie hörte die anderen drüben lachen und polierte ein Glas. Die anderen lachten laut, einen Moment dachte Sarah, die drüben lachten über sie, bis sie verstand, wie dumm der Gedanke war, und dann hörte sie eine Knacks und hatte drei große Glasscherben in der Hand, sie hatte das Glas kaputt poliert. Sarah hatte sich natürlich in die Hand geschnitten; sie legte die Scherben vorsichtig in die Spüle, als ob sie eine Babypuppe zu Bett bringen würde und lief die Treppen hinauf ins Badezimmer, wo sie Verbandszeug vermutete. Sie riss die Tür zum Bad auf und erstarrte: Ein Pärchen saß auf dem Rand der Badewanne und knutschte heftig. Der junge Mann hatte seine rechte Hand auf dem Schenkel, die linke in der Bluse des Mädchens, und beide gaben saugende und stöhnende Geräusche von sich. Bis beide merkten, dass jemand im Türrahmen stand, verging ein Augenblick. Sarah war zu schockiert, um sofort die Tür zu schließen, sie war wie erstarrt; nicht, dass sie noch nie ein Pärchen beim Vorspiel gesehen hatte, doch, hatte sie, zumindest im Fernsehen, auch wenn sie bei solchen Szenen immer umschaltete zu anderen, weniger peinlichen Sendungen wie Quizshows oder Nachrichten, nein, sie kannte diesen Anblick, und sie hatte noch die Türklinke in der Hand, als das Mädchen aufblickte und rief, „ey, verpiss dich, Spanner“ und der Junge blickte auch kurz in Sarahs Richtung und grunzte zustimmend, ohne die Hand aus der Bluse des Mädchens zu entfernen, er massierte weiter, kein schöner Anblick für jemanden, der jetzt wegschalten würde. Dann rief der Typ, „komm doch rein, mach mit“, das war zuviel. Sarah schluckte und riss die Tür zu. Einen Moment lang war ihr schwindelig. Sie fragte sich, ob sie jemals mit einem Jungen das machen würde, was die beiden da drinnen machten. Und sie fragte sich, ob sie das überhaupt wollte.
Sie ging zurück in die Küche. Der Schnitt an ihrer Hand blutete weniger, sie tupfte mit ein bisschen Küchenkrepp daran herum. Dann ging sie in die Toilette und wickelte Klopapier um die Wunde. Sie stellte sich vor, mit ihrer blutigen Hand ins Badezimmer zu gehen und dem Mädchen das ganze Blut ins Gesicht zu schmieren. Dann fragte sie sich, was das sollte. Sie wusste es nicht und sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken.
Die anderen waren noch mit „Wahrheit oder Pflicht“ beschäftigt, also ging Sarah in ihr Zimmer und kramte nach ihren Zeichensachen. Ihre Mutter, Gott hab sie selig, hatte immer gesagt, „wenn du traurig bist oder durcheinander, zeichne etwas, egal was, und es wird dir besser gehen. Zeichne zum Beispiel deine Hand oder Obst, das in der Küche herumliegt, es wird dir besser gehen.“
Sarah hatte so viele Bilder von ihrer linken Hand, dass sie nicht wusste, wohin damit; wegschmeißen war zu schade, zum Aufheben fehlte ihr der Platz. Vielleicht fiel ihr bald etwas ein.
Sie fand ihren Zeichenblock und ein paar weiche Bleistifte, die sie mit hinunter nahm. Die Küche war immer noch leer; Sarah legte den Block auf den Küchentresen und setzte den Stift an. Zuerst wusste sie nicht, was sie zeichnen sollte, aber dann flog ihr Stift über das Blatt, ohne dass sie großartig nachdenken musste. Nach und nach nahmen die Gestalten, denn es waren Gestalten, nicht etwa Obst oder Hände, Form an. Es wuchs ein Paar aus dem Papier, eng umschlungen, die auf dem Rand einer grob skizzierten Badewanne saßen, und wenn man nicht wusste, dass es eine Badewanne war, wäre man so nicht darauf gekommen; dennoch, die Figuren waren deutlich zu erkennen, besonders die Gesichter mit der entrückten Mimik waren Sarah gut gelungen.
Die Gesellschaft von nebenan löste sich auf; man hörte Stimmengewirr und vereinzelt Lachen, die Leute kamen rüber, sie waren durstig. Sarah legte ihren Block weg und holte den Wodka aus dem Kühlschrank. Annie war eine der ersten in der Küche.
„Wenn ich das nächste Mal Wahrheit oder Pflicht spiele, entscheide ich mich lieber für die Wahrheit“, scherzte Annie und wandte sich an Sarah, „machst du mir einen Gin Tonic?“ und dann, nach kurzer Pause, „ah, du hast wieder gezeichnet. Wer ist denn das?“. Sie deutete auf das Blatt. „Die kommen mir irgendwie bekannt vor …“
Sarah lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie hatte vergessen, die Zeichnung zu verstecken.
„Ich kenn die beiden doch!“, rief Annie. „Das sind Freddie und Carla!“
Sarah wurde schlecht. Freddie war der Annies heimlicher Schwarm, in den sie seit einigen Wochen verschossen war. Ihn so zu sehen, mit einer anderen, musste wehtun. Die anderen Gäste wurden aufmerksam, alle scharten sich um Sarah und die Zeichnung. Viele fanden das Pärchen gut getroffen.
In dem Moment kamen Freddie und Carla die Treppe herunter. Beide versuchten, so teilnahmslos wie möglich dreinzuschauen – bis die Umstehenden anfingen zu grölen; Pfiffe und anerkennendes Gemurmel ertönten. Carla kam näher, stützte sich auf ihre Hand, beugte sich vor und warf einen Blick auf die Zeichnung. Sarah hoffte, die Zeichnung war schlecht; sie hoffte, Carla möge nichts erkennen, nichts, was ihr unangenehm sein könnte, denn dann, das wusste Sarah, wurde es unangenehm für sie. So sandte sie Stoßgebete zum Himmel, ihre Zeichnung bitte bitte schlecht sein zu lassen, obwohl sie immer auf Qualität achtete; ihre Malerei war ihr wichtig. Schlechte Bilder gab es bei ihr eigentlich nicht, eher schmiss sie alles weg. Und sie wusste, dass auch diese Arbeit gut war. Sie war nur noch nicht dazu gekommen, sie zu datieren, wie sie es üblicherweise tat.
„Hast du uns etwa gezeichnet, du miese kleine Voyeurin?“
„Wie redest du mit meiner Schwester, du Schlampe!“, rief Annie. Sie sah Furcht erregend aus in ihrem schwarzen Lederdress und leidenschaftlich verzerrtem Gesicht; wäre Annie jetzt ein Tanz gewesen, sie wäre ein Tango.
Sarah schoss das Blut ins Gesicht; sie sagte nichts, was hätte sie auch sagen sollen. Sie sprach schon nicht besonders viel, jetzt musste sie auch noch aufpassen, was sie zeichnete. Innerlich schimpfte Sarah mit sich, weil sie der Urheber des Ärgers war, als, schneller als man gucken konnte, Annie ein Messer aus dem Messerblock zog, damit zustach und Carlas rechte Hand auf dem Küchentresen aufspießte. Carla schrie aus Leibeskräften. Die Gäste liefen durcheinander und drängten sich um das „Opfer“, jeder wollte aus nächster Nähe sehen, was passiert war. Gute Ratschläge tönten aus jeder Ecke. Sarah stand wie betäubt daneben; oh Jesses, wenn das alles eine einzige Zeichnung ausgelöst hatte, wollte sie nie mehr einen Stift in die Hand nehmen. Derweil rief Freddie per Handy einen Krankenwagen und Annie, obwohl sie am ganzen Körper zitterte, konnte sich einen triumphierenden Gesichtsausdruck nicht verkneifen. Carla stand unter Schock; vorsichtig betastete sie mit der gesunden Hand die Wunde um das Messer herum, verschmierte das Blut mit ihren Fingern und strich sich danach eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Jetzt hatte sie Blut an der Wange und über dem Auge, genau so wie Sarah es sich vorgestellt hatte. Die Welt war schon verrückt. Sarah seufzte. Hoffentlich würde sie sich nie verlieben.